Montag, Oktober 7

Den Abfalleimer und andere Touristen aus dem Ferienbild entfernen? Das ist heute kein Problem mehr. Doch mit retuschierten Bildern lässt es sich noch leichter täuschen als mit gefälschten.

Ein Familienvater mit seinem Sohn auf den Schultern an einem menschenleeren Sandstrand in der milden Abendsonne – auf den ersten Blick wirkt es wie die perfekte Ferienidylle. Doch das Foto hat ein paar Schönheitsfehler. Auf der Originalaufnahme teilen sich Vater und Sohn den Strand mit anderen Feriengästen. Im Hintergrund sind Autos zu sehen – und eine Mülltonne. Die störenden Elemente wurden wegretuschiert. Der Zaubertrick: Googles magischer Editor.

Das KI-Tool, das auf Googles Pixel-Smartphones und anderen Geräten verfügbar ist, erlaubt umfangreiche Bildbearbeitungen: Objekte können durch einfaches Tippen oder Wischen auf dem Smartphone verborgen, verschoben oder gelöscht werden. Ist das Zelt auf dem Foto zu weit links am Aussichtspunkt, zentriert man es einfach. Der pinkfarbene Wanderrucksack, der einen zu starken Kontrast darstellt, nimmt die Farbe der Wiese an, damit er sich unauffällig in die Umgebung einfügt. «Störende» Elemente wie Abfalleimer können mit dem magischen Radierer im Handumdrehen entfernt werden.

Photoshop war gestern, KI ist heute

Einen Obdachlosen wegretuschieren? Ein Unfallgeschehen in die Strassenszene einfügen? Eine Person vor einem Wahrzeichen ins rechte Licht rücken? Kein Problem! Die künstliche Intelligenz macht’s möglich. Wie ein Kulissenschieber kann der Nutzer das Setting neu arrangieren. Diese Bildretuschen erscheinen viel authentischer als die KI-generierten Fotos aus der Konserve, die häufig generisch und artifiziell wirken. So hat die Pendlerzeitung «20 Minuten» kürzlich zum 25-Jahr-Jubiläum Bilder und Glückwünsche von «Lesern» publiziert, die gar nicht existieren. Sie konnten recht schnell als Fälschung entlarvt werden.

Das, was da in den digitalen Frankenstein-Laboren an Körperteilen miteinander verschraubt wird, ist häufig nicht stimmig. Mal ist ein Finger zu viel an der Hand, mal wirkt ein Ohr wie angeklebt. Die KI-gestützte Fotomontage ist dagegen viel schwerer zu erkennen, weil sie auf ein reales Bildmotiv aufsetzt. Mithilfe eines Wahrscheinlichkeitsmodells kann die KI Pixelmuster errechnen, so wie sie zum Zeitpunkt der Aufnahme existierten. Dem Betrachter fallen die diskreten Bildbearbeitungen schon gar nicht mehr auf. Mit Googles magischem Audio-Radierer lassen sich in Videos sogar Störgeräusche von Baustellen oder Autos eliminieren. «Gestalte all deine Lieblingsmomente mit generativer KI neu», wirbt Google auf seiner Website. Als wäre man der Architekt seiner eigenen Wirklichkeit.

Stalins Schergen mussten noch zum Skalpell greifen

Natürlich war es auch schon vor dem Siegeszug der künstlichen Intelligenz möglich, mit Bildbearbeitungsprogrammen wie Adobe Photoshop Objekte freizustellen oder Falten zu retuschieren. Die Nutzung dieser Werkzeuge erforderte jedoch einiges Know-how, und nicht jede Bildretusche glückte. Zahlreiche Photoshop-Pannen liefern davon Zeugnis. Mit KI-Tools wie Googles Magischem Editor lassen sich Fotos auch ohne Grafikdesign-Kenntnisse aufhübschen – kinderleicht, auf Knopfdruck.

Gewiss, man braucht keine digitale Technik, um Bilder zu manipulieren. Schon Josef Stalin liess missliebige Konkurrenten mit Skalpell, Farbe und Tinte aus Fotografien entfernen. Jedes Foto ist auch insofern verfälschend, als es nur einen Ausschnitt der Wirklichkeit abbildet – das, was der Fotograf mit seiner subjektiven Entscheidung ausblendet, sieht der Betrachter nicht.

Trotzdem ist es erstaunlich, dass die Fotografie seit ihrer Erfindung im 19. Jahrhundert nichts an ihrer Beweiskraft eingebüsst hat. Die Macke im Parkettboden oder den Kratzer am Auto dokumentiert man nicht nur schriftlich, sondern vor allem fotografisch. Verschwörungsgläubige, die etwa der Flat-Earth-Theorie anhängen, müssen viel Energie darauf verwenden, um Fotografien für irreal zu erklären. Man muss kein Astrophysiker sein, um die Flat-Earth-Theorie zu widerlegen – es genügen Satellitenfotos. Das spricht für die Fotografie als Medium der Wahrheit.

Die Frage ist, inwieweit die Fotografie im Zeitalter der künstlichen Intelligenz, wo sich Bilder einfach retuschieren oder prompten lassen, ihren Authentizitätsanspruch überhaupt noch einlösen kann. Kann man seinen Augen noch trauen? Ist das, was man auf seinem Bildschirm sieht, noch real – oder schon surreal, hyperreal? Oder muss man Fotos als digital geschulter Zeitgenosse gar mit der Brille der KI betrachten, also unter dem Vorbehalt einer möglichen nachträglichen Bearbeitung?

Abu Ghraib würde unter KI-generiertem Schrott begraben

Es beginnt im Grunde schon bei der Entstehung. Apples KI-gestützter Kamerasensor, der mithilfe von Machine-Learning-Algorithmen Millionen Bildpixel analysiert, schärft automatisch Kontraste und optimiert Helligkeit und Farbbalance. Das Foto ist also schon eine Abstraktion, bevor es mit den üblichen Filtertechnologien aufgehübscht wird. Ist das noch legitime Retusche? Oder schon Fake? Wo hört Bildbearbeitung auf, wo beginnt Manipulation? Diese Frage beschäftigt mittlerweile sogar Gerichte.

Der Anwalt des rechtsextremen Attentäters Kyle Rittenhouse, der 2020 bei Anti-Rassismus-Protesten in Kenosha im amerikanischen Gliedstaat Wisconsin zwei Demonstranten mit einem Sturmgewehr erschossen und einen verletzt hatte, behauptete im Prozess, Apple manipuliere die Videoaufnahmen des Tatgeschehens. Apples iPad-Programmierung, so der Vorwurf, erzeuge eine mathematisierte Form der Wirklichkeit, zeige also letztlich Bildpunkte, von denen die Software annehme, dass sie so da gewesen seien, die aber nicht notwendigerweise existiert haben müssten. Die Zoom-Funktion bilde in der Logik lediglich Näherungswerte der Wirklichkeit. Das ist freilich eine hanebüchene Argumentation, die aber zeigt, wie durch die zunehmende Technizität der Bildproduktion der immanente Wahrheitsanspruch in sich zusammenfällt.

Das nächste Abu Ghraib, unkte die Autorin Sarah Jeong auf dem Tech-Blog «The Verge», werde unter einem Meer an KI-generiertem Müll vergraben. Vielleicht werden Fotos in der digitalen Bilderflut zu einer radikal subjektiven Ausdrucksform wie Graffiti – idealisierte Darstellungsformen, die schon gar keinen Anspruch auf Realität mehr erheben.

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