Samstag, Oktober 5

Migros, Coop, Swiss – Schweizer Unternehmen überdenken die Namensschilder ihrer Mitarbeiter. Für den eidgenössischen Datenschützer steht die Sicherheit der Mitarbeitenden über den Marketinginteressen der Firmen.

Tag für Tag kommt der Mann in den Laden, ohne etwas zu kaufen. Einmal stellt er sich zwischen die Regale, einmal in die Ecke. Immerzu sucht er den Blick der gleichen Verkäuferin. Sie fühlt sich nicht mehr sicher. Der Mann weiss sogar, wie sie heisst. Abgelesen hat er es an ihrem Namensschild.

Geschehen ist dies in einem Laden in der Zürcher Innenstadt. Es ist jedoch in vielen Branchen mit Kundenkontakt üblich, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit Namen hinstehen. Neben dem Verkauf auch an der Réception, im Restaurant oder im Flugzeug.

Das Problem: Durch das Internet und die sozialen Netzwerke sind Menschen heute viel ausgestellter als früher. Wer den vollen Namen einer Person kennt, findet in kürzester Zeit viel über sie heraus: Wohnort, Hobbys, Beziehungsstatus. Das sogenannte Stalking – also das wiederholte Verfolgen und Belästigen – wird ein leichtes Spiel.

Mittlerweile überdenken die Firmen ihre Praxis jedoch. Sie lassen zunehmend ihre Mitarbeitenden entscheiden, wie sie beschriftet werden wollen. In der Migros beispielsweise trägt das Verkaufspersonal den vollen Vor- und den Nachnamen zur Schau.

Dabei gibt es auch andere Möglichkeiten. Etwa, das Personal nur noch mit Vornamen anzuschreiben. «Ja, in der Migros wurde das in letzter Zeit diskutiert», schreibt die Medienstelle. Die Lösung ist typisch Migros – jede Region soll für sich schauen: «Man hat beschlossen, das nicht einheitlich zu lösen, sondern den Genossenschaften die Entscheidung zu überlassen.»

Auch die Swiss ist sich des Problems bewusst. In der Ausbildung für angehende Cabin-Crew-Angestellte werden diese darauf hingewiesen, mit der Veröffentlichung ihres Namens vorsichtig umzugehen und ihn etwa in den Social Media nicht zu veröffentlichen.

Das Personal kann wählen, wie es angeschrieben sein möchte, wobei es einen Unterschied zwischen Cockpit und Kabine gibt. Pilotinnen und Piloten müssen ihren Nachnamen preisgeben, können nach Wunsch aber ihren Vornamen nur mit dem Initial andeuten. Die Cabin Crew wiederum kann zusätzlich die Option wählen, nur den Vornamen zu zeigen und dafür den Nachnamen mit Initial abzukürzen.

Bei Coop wiederum hat sich laut Recherchen der «NZZ am Sonntag» das Personal dafür starkgemacht, nur noch den Vornamen tragen zu dürfen – zum eigenen Schutz. Es wurde erhört. Seit Anfang 2024 dürfen schweizweit alle Angestellten selbst wählen, wie sie angeschrieben werden möchten: nur mit Vornamen oder aber mit dem Vornamen als Initial plus Nachnamen.

Coop: «Du-Kultur schafft Vertrauen»

Laut Coop ging es dabei jedoch nicht um Stalking. «Wir glauben, dass eine Du-Kultur einen positiven Effekt von Vertrauen und Teamgeist vermitteln kann», schreibt die Medienstelle. Coop-Angestellte dürfen nun also – wie das im Englischen gebräuchlich ist –geduzt werden.

Ganz auf die Namensschilder wollen die Firmen aber nicht verzichten. «Namensschilder geben der Uniform eine persönliche Note. Unsere Gäste haben so die Möglichkeit, Besatzungsmitglieder persönlich anzusprechen», heisst es bei der Swiss. Ähnlich argumentieren Coop und Migros. Statistiken darüber, wie viele Fälle von Belästigung es in ihren Betrieben gibt, führen sie nicht.

Das gilt nicht nur für die Unternehmen, sondern für die ganze Schweiz. Hierzulande gibt es keine gesicherten Zahlen zu Stalking, weil es bisher kein Gesetz dagegen gibt. Folglich werden auch keine offiziellen Daten erhoben .

Hinweise liefert die Stadt Bern, welche eine Fachstelle für Stalking eingerichtet hat. Diese erfasst alle gemeldeten Fälle und wertet sie aus. Gemäss der nicht repräsentativen Statistik stammt eine stalkende Person in rund 7 Prozent aus dem beruflichen Umfeld. Entweder kennen sich Opfer und Täter, etwa aufgrund eines Arzt-Patienten-Verhältnisses. Oder aber: Nur der Täter kennt das Opfer. Zum Beispiel aufgrund eines Namensschilds.

In so einem Fall gebe es in der Regel zwei Motive, sagt Natalie Schneiter, Beraterin bei der Berner Stalking-Fachstelle. «Mehrheitlich ist es das Beziehungssuche-Stalking. Zum Beispiel, wenn sich ein Kunde in eine Verkäuferin verliebt.»

Zudem gebe es noch das Motiv der Rache, sagt Schneiter. Etwa wenn sich ein Kunde von einer Verkäuferin schlecht behandelt oder über den Tisch gezogen fühlt. «Er stalkt sie und macht ihr das Leben schwer, um eine Art von Gerechtigkeit wiederherzustellen.»

Schneiter findet eine Lösung mit Vornamen gescheiter als mit Nachnamen. Denn Personen mit einem speziellen Nachnamen seien im Netz – in Kombination mit einem Foto – häufig relativ leicht auffindbar.

Datenschützer auf der Seite der Angestellten

Doch müssen Angestellte überhaupt Namensschilder tragen? Grundsätzlich ja. Aber: «Aufgrund des neuen Datenschutzgesetzes hat man das Recht, das Namensschild zu verweigern, wenn man belästigt wurde oder einen unangenehmen Vorfall hatte», sagt Guido Schluep, Branchenleiter bei der Gewerkschaft Syna.

Das Unschöne daran: Es muss zuerst etwas passieren, bevor man das Namensschild ablegen darf. Laut Experten liegt die Schwelle dafür relativ tief. Ein unangebrachter Spruch an die Adresse einer Barkeeperin reicht.

Das bestätigt auch das Büro des Eidgenössischen Datenschutz- und Öffentlichkeitsbeauftragten (Edöp). Die Bekanntgabe der Identität könne die persönliche Sicherheit der Angestellten beeinträchtigen. «In seiner Interessenabwägung kommt der Edöp daher eindeutig zum Schluss, dass die Sicherheitsinteressen der Angestellten Vorrang haben vor den Marketinginteressen der Arbeitgeberin.»

Das Perfide am Stalking ist, dass es den Tätern – gemäss Zahlen der Berner Fachstelle sind in 86 Prozent der Fälle Frauen die Opfer – leicht gemacht wird. Einerseits liegt das am Internet. Zwar gab es auch vor dem digitalen Zeitalter Stalking-Fälle. Heute kann das Belästigen aber zu jeder Tages- und Nachtzeit sowie von überall auf der Welt stattfinden.

Andererseits weil Täter sich viel erlauben können. Geahndet wird Stalking nur, wenn man sich wegen anerkannter Straftaten schuldig macht, zum Beispiel Nötigung. Das tritt gemäss der Berner Fachstelle aber in weniger als der Hälfte aller Fälle ein.

«Stalking ist eine risikoarme Tat. Der Täter hat wenig zu befürchten, während das Opfer massiv darunter leidet», sagt der Forensik-Psychiater Frank Urbaniok. Das Phänomen nehme zu, das stelle er persönlich bei seiner Arbeit fest.

Urbaniok hat sich deshalb mit einer Petition dafür starkgemacht, dass Stalking unter Strafe gestellt wird. Mit Erfolg: Der Nationalrat hat Anfang Juni einem entsprechenden Gesetz zugestimmt. Der Ständerat muss noch darüber befinden.

Urbaniok begrüsst, dass Firmen neuerdings auf Namensschilder setzen, die nur mit dem Vornamen beschriftet sind. Freuen darüber kann er sich jedoch nicht. «Es ist nur die zweitbeste Lösung, denn es trägt nichts zur Entspannung bei.» Es gebe heute sehr viele Leute, die mit Schaum vor dem Mund herumliefen. Sie seien gereizt und gewaltbereit. «Hier müssen wir als Gesellschaft ansetzen», fordert Urbaniok.

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