Donnerstag, Januar 30

Die deutsche Ex-Kanzlerin Angela Merkel liest aus ihrer Autobiografie und weicht den grossen Fragen aus – das Zürcher Publikum ist trotzdem begeistert.

Bevor Merkel auf die Bühne kommt, ist die Aufregung gross. Der Saal des Volkshauses ist brechend voll, Weinglas-Geklimper, winkende Hände, unter einigen Armen klemmt Merkels 700-seitiger Schinken «Freiheit». Man will einen guten Eindruck bei der ehemaligen Kanzlerin hinterlassen, ein Besucher möchte sofort nach vorne aufschliessen, als er einen leeren Stuhl erspäht: «Sieht ja doof aus für Angela Merkel, wenn vorne noch die Hälfte leer ist.»

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Doch kaum ist Merkel auf der Bühne, ist es, als sässe sie schon immer dort. Ihre Hände ruhen auf den Seiten des aufgeschlagenen Buches, sie strahlt unerschütterliche Ruhe aus. Hinter ihr ein blauer Samtvorhang und eine Projektion ihres Buchcovers: ein Foto von Merkel im blauen Kostüm, auf ihrem Gesicht ein mildes Lächeln. Wieder einmal erstaunt Merkels Auftritt mit einer sonderbaren Symmetrie. Selbst der Cursor auf der Projektion ruht mittig auf Merkels Kinn.

Von der Uckermark ins Kanzleramt

Dann geht die Lesestunde los. Merkel trägt Auszüge aus ihrem Buch vor, zwischendurch erzählt sie ein bisschen. Sie setzt bei ihrer Kindheit in der Uckermark an. Hier und da schmunzelt sie über ihren eigenen Text, manchmal gibt es einen Lacher. Zum Beispiel, wenn sie über ihre vermutlich vorbewussten Sabotageversuche des DDR-Schulsystems berichtet. Einmal habe sie der Klasse Christian Morgensterns «Mopsenleben» vorgetragen:

O Mensch, lieg vor dir selber auf der Lauer, sonst bist du auch ein Mops nur auf der Mauer.

Aber was Merkel wie eine nette Geschichte erzählt, war natürlich gar nicht lustig. Sie kam dem Staatsapparat geradeso davon. Als sie kurz darauf von ihrer Mutter spricht, die voller Sorge um ihr Kind war, bricht Merkel die Stimme weg, ein paar Sekunden lang spürt man die Angst vor Verlust und Verrat, der in Merkels Kindheit und Jugend hinter jeder Ecke lauerte. Dann redet sie weiter, als wäre nichts gewesen.

Der restliche Abend ist eine Art Rekapitulation ihrer Kanzlerschaft: Wirtschaftskrise, Migrationspolitik, Ukraine, Covid. Formeln wie «das Gebot der Stunde» und «der Ernst der Lage» häufen sich. Merkels Erzählung erschöpft sich in der nüchternen Herleitung ihrer politischen Entscheidungen, was in den schlechten Momenten wie zähe Rechtfertigung daherkommt. Die Frage danach, was aus ihrer Politik geworden ist, lässt Merkel aussen vor.

Die eigene Politik vom Blatt ablesen

Das stösst besonders heftig auf, als sie über ihre Entscheidung spricht, 2008 den Nato-Beitritt Georgiens und der Ukraine zu bremsen. Noch im selben Jahr marschierte Putin in Georgien ein. Und als die Georgier die USA um Unterstützung baten, verneinten diese. Schliesslich war Georgien kein Nato-Mitglied. Und schon schliesst Merkel das Kapitel Putin mit den Worten: «Das ist die Aufgabe, die noch gelöst werden muss.» Sie sei keine aktive Politikerin mehr und könne deswegen nur allgemeine Hinweise geben. Als wäre damit irgendetwas gesagt.

Dabei kann Merkel auch anders. Zum Beispiel, wenn sie vorliest, wie es ihr im Politbetrieb so ergangen ist, als Frau und als Ostdeutsche. Merkel bleibt Merkel und ihre Kritik vorsichtig, aber als sie über die Hochnäsigkeit und den Chauvinismus von Gerhard Schröder spricht, gehen ihre sonst auf den Buchseiten ruhenden Hände erstaunlich oft in die Luft. Man solle die Kirche schön im Dorf lassen, sagte Schröder einst zu Merkels möglicher Kanzlerschaft im Fernsehen – sie sass direkt neben ihm. Merkel: «Ich dachte: Wahnsinn. Wäre Schröder gegenüber einem Mann genauso aufgetreten?»

Zum Schluss teilt Merkel ihre Gedanken zur politischen Sprache. Sie ertappe sich dabei, sagt sie, wie ungern sie manchen Politikern zuhöre. Die würden nämlich ständig ausweichen und in Phrasen sprechen. Immerhin hier entringt sie sich ein wenig Selbstkritik, früher habe sie das nämlich auch so gemacht. Es ist ein kurioser Schluss, denn genau dieses Gefühl begleitet den Abend: Sie weicht noch immer aus.

Aber das Publikum ist begeistert, es gibt Standing Ovations. Es ist, als ob das Zürcher Publikum zum Polit-Sightseeing gekommen sei, um endlich mal die Frau zu sehen, die schon mit so vielen mächtigen Menschen an einem Tisch gesessen hat. Es gibt kein Vorgespräch und keine Publikumsfragen. Die Rolle der Moderatorin, der Comedienne Hazel Brugger, beschränkt sich auf eine minimale An- und Abmoderation. Am Ende kommt sie mit einem grossen Blumenstrauss auf die Bühne. Merkel nimmt ihn entgegen und eilt davon.

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