Sonntag, Oktober 6

Der traditionelle Jodel beschreibt eine liebliche Idylle. Passt das noch in die heutige Zeit?

Dort, wo einst Eidgenossen gegen Habsburger in eine blutige Schlacht zogen und Winkelried die Eidgenossenschaft einte, treffen sich Ende Juni 3000 Alphornbläser, Fahnenschwinger, Jodlerinnen und 67 000 Gäste zum Zentralschweizer Jodlerfest.

In Sempach reiht sich Festbank an Festbank, Jodelklub an Jodelklub. Sie heissen Heimatchörli, Brisäblick, Bärgröseli. «Im Jodeln ist ein Sehnsuchtsort zu vernehmen», schrieb Goethe, der das Jodeln tatsächlich nur «im Freyen oder in grossen Räumen» erträglich fand. Wo gejodelt wird, ist die Welt heil. Eine Blase, fern der Realität.

Mit dieser Idylle sind nicht alle einverstanden. Neulich spielte sich auch eine andere Szene ab. Am Internationalen Frauentag im März stehen 40 Frauen vor der «Wiege der Eidgenossenschaft», dem monumentalen Landschaftsbild von Charles Giron im Nationalratssaal. Im Bundeshaus ertönt das Echo vom Eierstock.

Die Melodie, die durch den Wechsel von Brust- und Kopfstimme entsteht, ist vertraut: «jo-li-joo-uh-lu». Doch statt über das verniedlichte «Meiteli» oder das sich aufopfernde «liebe Müetti» singt der erste feministische Frauenjodelchor der Schweiz: «Muetter, chom säg mer gschwend, brucht die Wält no mee Chend? Sött mer no Muetter sii, e üsere Ziit?»

Das Echo vom Eierstock will den Jodel in die Gegenwart holen. Der Eidgenössische Jodlerverband hingegen die Tradition der Vergangenheit bewahren. Und so befindet sich der Jodel gerade in einem Spannungsfeld: zwischen Idylle und Realität, Folklore und Veränderung, zwischen den althergebrachten Männerjodelchören und jodelnden Frauen, die ihren Platz in der Tradition suchen.

Texte wie zu Gotthelfs Zeiten

Der Naturjodel, ein Gesang ohne Worte, diente einst der lautstarken Verständigung. Von Alp zu Alp grüssten die Sennen mit vokaler Lautmalerei, warnten vor Gefahren, lockten die Tiere von der Weide. Der Jodel boomte auch in den Städten, als in Zeiten der Landflucht das Heimweh nach den Bergen zu lindern war.

«Vertroue ha», «Det wo de Himmu d Ärde berüert» oder «S Liächt i Dir» heissen die lieblichen Lieder, die am Jodelfest gesungen werden. Seit dem 19. Jahrhundert wird der Jodel auch von poetischen Strophen begleitet. Die Jodellieder entstammen noch immer der Lebenswelt der Bergler, der Sehnsucht nach einer Harmonie, für die im Zug der geistigen Landesverteidigung kräftig drauflosgehandorgelt wurde.

Heute wird die Volksmusik von Städtern gern belächelt. Denn die Schweizer sind kein einig Volk von Älplern mehr. Viele Lieder romantisieren die Verbundenheit zur Natur. Gesungen wird über das Bergkreuz und die Meitschi, die «nach riche Manne strääbe». Über die Idylle, die nichts mit der grossen, weiten Welt zu tun hat. Da ist der Stolz auf die Heimat, ein Begriff in ständiger Diskussion. Der Jodel soll die Schweiz musikalisch auszeichnen, ihr einen Klang geben, die Texte aber haben das 21. Jahrhundert verschlafen.

Frauenchor schreibt sexistische Texte um

Der traditionelle Liederschatz sei schön und gross, sagt Simone Felber, die musikalische Leiterin des Echos vom Eierstock. Felber, 31, hat klassische Musik studiert und ist durch ihren Freund in die «Szene» hineingerutscht. Im Jodel könne sie sich selbst besser ausdrücken, sie habe darin ihren Klang gefunden. Felber hat sich der Schweizer Volksmusik verschrieben. Auch in ihrer Formation «Simone Felbers iheimisch», der A-cappella-Gruppe «famm» oder im Duo «hedi drescht» zeigt sie, wie aktuell diese klingen kann.

Häufig sei es aber schwierig, sich mit den jahrzehntealten Texten zu identifizieren. Die Eierstöcke, wie sie sich nennen, plädieren nicht dafür, die Lieder zu canceln. Doch sie wollen mit den Klischees und traditionellen Rollenbildern einer christlich-konservativen Utopie darin aufräumen.

Nationalstolz, Sexismus und christliche Bilder werden ausgeklammert, um der Vielfalt der Schweizer Bevölkerung gerecht zu werden. Es brauche manchmal nur sanfte Anpassungen, sagt Felber. Statt dem Herrgott danken sie in der «Alpabfahrt» allem Leben. In der Liebesgeschichte werden Mädchen und Knabe zu Du und Ich.

Manche ihrer Jodeltexte sind fordernder, anklagend. Sie entlarven den männlichen Blick und überspitzen das verführerische Frauenbild. Anstelle des Meitschi, das den Bueb im Wald ins Paradies lockt, kommt eine Phantasiegestalt daher, eine «Sex-Hexe mit Locken und Po». Das Lied verweise auf die Vergewaltigungsfälle, in denen es jeweils heisse, die Frau habe einen zu kurzen Rock getragen und sei darum selbst schuld.

«Es ist klar eine Provokation», sagt Felber, «ein Affront gegen diejenigen auf der traditionelleren Seite.» Als der Chor 2022 in Stans gegründet wurde, habe die Jodel-Männerbastion sie als Bedrohung wahrgenommen. Als wollten sie ihnen etwas wegnehmen.

Felber sagt: «Wieso muss alles so bleiben, wie es schon immer gewesen ist? Schau dich doch um, alles ist im Fluss.» Es sei wichtig, die Tradition zu erhalten. Doch daneben sei auch Platz für Neues. Darüber wolle man eine Diskussion anstossen. «Etwas, das sich nicht verändern darf, ist auch nicht lebendig und stirbt irgendwann ab.»

Für jodelnde Frauen gab es früher wenige Vorbilder. Mittlerweile strömen sie an Felbers Workshops. «Wir öffnen die Ohren derjenigen, die noch nie mit dem Jodel zu tun hatten», sagt Felber. So sei im Chor zum Beispiel eine queere Sängerin, die von zu Hause weggezogen sei, weil es ihr im Muotatal zu eng geworden sei. «Ihr gefiel der Jodel, in ihrem Tal fand sie aber keinen Anschluss.» Beim Echo vom Eierstock traf sie schliesslich auf Gleichgesinnte, die die traditionelle Musik anders interpretieren.

Mehr Akzeptanz

Am Jodelfest in Sempach steht der Jodlerklub Heimelig auf der Bühne im Festsaal. Es gibt Wettvorträge nach streng definierten Regeln. Festgeschrieben ist die korrekte Tracht, so dürfen Frauen zum Beispiel nicht in Männertracht auftreten. Der Gesang steht im Zentrum, Tongebung, Rhythmik, harmonische Reinheit, nicht die Texte. In grösster Hitze singt der Chor «Schneeluft», womit er die Klasse 1 erreicht, ein «sehr gut».

Die 22 Männer und 3 Frauen aus Ruswil sind eine klassische Zusammensetzung eines Chors im Eidgenössischen Jodlerverband, der für Ordnung in der Tradition sorgt. Seit 1910 bemüht sich der Verband, den Jodel zu bewahren. Er zählt heute über 700 Jodelvereine und 15 000 Mitglieder. 1999 waren es noch 10 000 mehr.

Frauen ist es seit hundert Jahren erlaubt, Mitglied zu sein. Die Kinder- und Jugendchöre bestehen mittlerweile je nach Region mehrheitlich aus Mädchen. Trotzdem sind die Jodelchöre bei den Erwachsenen noch immer eine Männerdomäne. Eine Chance hineinzukommen hat eine Frau häufig nur dann, wenn sie eine gute Solostimme hat.

Emil Wallimann, der Präsident der Fachkommission Jodelgesang des Eidgenössischen Jodlerverbands, begrüsst die Gründung neuer Frauenjodelchöre. Er übt aber auch leise Kritik am Echo vom Eierstock, das nicht zum Verband, sondern zur freien Jodelszene gehört und auch keine Trachten trägt.

Die Frage, ob heute nochmals beschrieben werden müsse, wie der Älpler auf die Alp gehe, dürfe laut gestellt werden, sagt Wallimann. Texte abzuändern, sei aber wegen des Urheberrechts ein heikles Thema. Es gebe heute viele neue Jodellieder, die ins Hier und Jetzt passten. Zum Beispiel über die Herzlichkeit zwischen Menschen, die mit Blick auf die Gehässigkeit in der Welt gerade dringend gebraucht würde. Wer die Lieder verstaubt finde, solle neue Texte, Melodien und Chorsätze schreiben. «Das wäre innovativ», sagt Wallimann, der selbst über 200 Jodelkompositionen geschaffen hat.

Kandidat für das immaterielle Kulturerbe

Der Vorwurf, dass dem Jodlerverband das Bewahren wichtiger sei als die Weiterentwicklung des Jodels, lässt Wallimann nicht gelten. «Diese Aussage hätte ich vor Jahren bestätigt», sagt er. Heute aber gehe der Verband mit der Zeit, die Dirigentenausbildung beispielsweise stehe als E-Learning-Kurs zur Verfügung. Das Tempo der Veränderung müsse aber der Basis angepasst werden, das sei wichtig, damit niemand ausgeschlossen werde.

Wallimann, 67, ist mit dem Jodel aufgewachsen und hat schon von klein auf im Familienchörli gesungen. Heute gebe es wieder viele begeisterte junge Menschen in der Jodelszene, die sehr engagiert seien. «Aber ich glaube, als Schüler ist es noch immer nicht einfach, zu sagen: ‹Im Sommer gehe ich in ein Jodellager›, ohne ein müdes Lächeln vom Gegenüber zu erhalten.»

Damit der Jodel als Schweizer Kulturgut wahrgenommen wird, hat der Jodlerverband gemeinsam mit anderen Institutionen die Kandidatur des Jodels für das Kulturerbe bei der Unesco eingereicht. Auf der Liste stehen bereits die Basler Fasnacht, das Winzerfest von Vevey oder die Uhrmacherkunst drauf, sogenannte lebendige Brauchtümer. So ist der Jodel immer etwas mehr als nur Musik.

Tatsächlich tut sich aber auch hinter der Folklore einiges: An den Swiss Music Awards gewann das Schwyzer Ländlertrio Rusch-Büeblä den Newcomer-Award. Anfang Jahr schloss die schweizweit erste Absolventin den Master of Arts in Musikpädagogik mit dem Hauptfach Jodeln ab. Und Simone Felber wurde im Mai vom Bundesamt für Kultur als «prägende Stimme der zeitgenössischen Volksmusik» ausgezeichnet. Man ahnt, der Jodel wandelt sich, er lebt.

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