Samstag, September 28

Gisèle Pélicot wurde hundertfach in betäubtem Zustand vergewaltigt. Weil der Prozess gegen ihren Ehemann und fünfzig weitere mutmassliche Täter öffentlich stattfindet, lernen die Franzosen, wie «gewöhnliche Männer» zu Tätern schwerster Verbrechen wurden.

Es ist Donnerstagmorgen, 8 Uhr 41, als ein vermummter Mann mit Gesichtsmaske, Sonnenbrille und grauer Regenjacke durch den Haupteingang des Gerichtshofs von Avignon schlüpft. Sein Oberkörper ist nach vorne geneigt, der Blick stur auf den Boden gerichtet. Keine Chance, diesem nervösen Mann eine Frage zu stellen.

Wenig später stiehlt sich eine zweite verhüllte Gestalt an den Pressefotografen und Kameraleuten vorbei und verschwindet im Gebäude. Auch er ist ein Angeklagter, der sich heute vor dem vorsitzenden Richter Roger Arata für seine mutmassliche Beteiligung an einem der schwersten Sexualverbrechen in der jüngeren Geschichte des Landes verantworten muss.

Erkannt werden wollen beide Männer nicht. Doch das dürfte schwer werden, bei einem öffentlich geführten Vergewaltigerprozess, der Journalisten aus aller Welt nach Avignon lockt.

Ikone für viele

Um 8 Uhr 50 erscheint auch Gisèle Pélicot vor dem Tribunal. Sie wird heute wieder von ihrem älteren Sohn David und von ihren Anwälten begleitet. Die zierliche 71-Jährige mit dem hennaroten Pagenschnitt und Sonnenbrille geht aufrecht und wirkt gefasst. So wie sie mittlerweile ganz Frankreich kennt. Aber ist sie das auch, gefasst? «Es geht ihr gut», versichert David Pélicot, als er die Sicherheitsschleuse passiert, «meine Mutter hat sich vorgenommen, das hier bis zum Ende durchzustehen.»

Als ihre Unterstützerinnen Pélicot entdecken, brandet in der Eingangshalle des Gerichtshofes Jubel auf. Wie jeden Morgen haben sie sich hier versammelt und auf ihre Heldin gewartet: etwa hundert Rentnerinnen, Studentinnen, Aktivistinnen, auch einige Männer. Sie klatschen und rufen «Merci, Gisèle!» und «Courage, Gisèle!», bevor sie vor einem Nebensaal Schlange stehen. Den Prozess dürfen sie von hier aus auf einer Leinwand verfolgen.

In der gegenüberliegenden Salle Voltaire, wo seit dem 2. September der Fall «Viols de Mazan» – Vergewaltigungen in Mazan – verhandelt wird, ist nicht genügend Platz für so viele Zuschauer. Als beklemmend beschreiben Beobachter die Situation in dem kleinen Gerichtssaal, wo sich Opfer und Täter, Verteidiger und Angehörige auf engstem Raum gegenübersitzen.

Gisèle und ihr früherer Ehemann Dominique Pélicot sitzen im Saal auch nur wenige Meter voneinander entfernt. Der 71-Jährige hat bereits zugegeben, ein Vergewaltiger zu sein. Über einen Zeitraum von mehr als neun Jahren verabreichte der Hauptangeklagte seiner früheren Ehefrau starke Beruhigungsmittel. Dann missbrauchte er sie und liess sie unzählige Male von Dutzenden fremden Männern missbrauchen. Ohne dass sie je davon erfuhr. Als die Taten bekanntwurden, reichte Gisèle 2020 die Scheidung ein.

Für die vierte Verhandlungswoche hat der Richter nicht mehr alle 51 Angeklagten gleichzeitig vorgeladen. So stehen neben Dominique Pélicot, der in einem Glaskasten sitzt und von zwei Polizisten bewacht wird, derzeit nur sechs weitere mutmassliche Täter vor Gericht. Es sind Andy R., 37 Jahre alt, ein Landarbeiter. Joan K., 26 Jahre alt, ein Soldat. Hugues M., 39 Jahre alt, ein Fliesenleger. Husamettin D., 43 Jahre alt, ein Lackierer. Mathieu D., 53 Jahre alt, ein Angestellter. Und Fabien S., 39 Jahre alt, arbeitslos.

Diese Männer wären gerne möglichst unsichtbar geblieben. Doch Gisèle Pélicot bestand darauf, dass das Verfahren nicht wie üblich hinter verschlossenen Türen stattfindet. So steht ihr offenes Auftreten im scharfen Kontrast zu den vermummten Männern, die sich ihre Mützen und Kapuzen tief ins Gesicht ziehen.

Sie möchte, erklärte Pélicot gleich zu Prozessbeginn, dass «die Scham die Seiten wechselt». Nicht das Opfer, sondern die Täter hätten sich zu schämen. Mit diesem Satz wurde die sechsfache Grossmutter über Nacht zur Heldin; für manche gar zur Auslöserin eines Epochenwechsels, eines neuen #MeToo-Moments in Frankreich. «Wir sind alle Gisèle», skandierten plötzlich Frauen an Kundgebungen im ganzen Land.

«Ein toller Kerl»

Weil die Zeitungen früh die Vornamen der Angeklagten und Details aus ihren Leben veröffentlichten, lernte das Land viel über die mutmasslichen Täter. Keineswegs handelte es sich bei ihnen nur um Monster, sondern vielmehr um «gewöhnliche Bürger», Familienväter, Rentner, Arbeiter, Angestellte. Steckte etwa auch im eigenen Kollegen, Nachbarn, Bruder ein Vergewaltiger? Und was sagt das aus über die Gesellschaft, wenn mehr als die Hälfte der Angeklagten auf nicht schuldig plädieren?

Einer von ihnen, Andy R., rechtfertigt sich im Prozess, dass er beim Anblick der bewusstlosen Gisèle an ein «libertinäres Spiel» zwischen dem Ehepaar geglaubt habe. Ein Anderer, Joan K., der jüngste der mutmasslichen Täter, räumt ein, dass es ihm Lust bereite, Sex mit einer schlafenden Frau zu haben.

Sollten die «fünfzig von Mazan», wie die französische Presse den Kreis der fünfzig Angeklagten nennt, profitiert haben von den patriarchalen Strukturen, die immer noch vorherrschen in Frankreich? So sieht es die Frauenrechtlerin Rose Lamy. Wenn sich etwa einige der Täter mit der Ausrede verteidigten, dass sie glaubten, der Ehemann habe seine «Genehmigung» zum Sex mit dem Opfer gegeben, sei das bezeichnend, findet Lamy. Die Autorin des Buches «En bons pères de famille» (Als gute Familienväter) erinnert daran, dass häusliche Gewalt noch immer verharmlost werde und viele Männer glaubten, ihre Partnerinnen zu besitzen.

Auch Dominique Pélicot lebte die Macht, die er über seine Frau zu haben glaubte, in besonders perfider Form aus.

Der Strippenzieher der Vergewaltigungen war wohl schon immer ein Mann mit zwei Gesichtern. 1973 hatten er und Gisèle geheiratet, damals beide 21 Jahre alt, für sie war der gelernte Elektriker die Liebe ihres Lebens. Das junge Paar liess sich in Paris nieder. Es bekam zwei Söhne und eine Tochter, David, Caroline und Florian. Rückblickend sollten diese ihre Kindheit als normal und ihren Vater als besonders fürsorglich bezeichnen.

Auch Gisèle hielt ihren Ehemann für einen «tollen Kerl». Gemeinsam beschlossen sie 2013, ihren Ruhestand in Mazan, einem Dorf in der Provence, zu geniessen. Sie mieteten ein Haus mit Swimmingpool, und oft, mindestens einmal im Monat, bekochte Dominique seine Frau zum Abendessen.

Dass er den Gerichten dann eine Mehrfachdosis Temesta beifügte, ein Medikament, das üblicherweise bei Angstzuständen verschrieben wird, blieb sein eigenes schmutziges Geheimnis. Erst nachdem Gisèle in einen komatösen Schlaf gefallen war, lud Dominique fremde Männer, die er auf der inzwischen gesperrten Plattform coco.gg kennengelernt hatte, in sein Haus ein. Dort, in der Küche, auf dem Sofa, meist aber im Ehebett, durften sie sich an seiner Frau vergehen, während Dominique filmte.

Die Vergewaltiger mussten strenge Anweisungen befolgen, um das Opfer nicht zu wecken, etwa keine Parfum- oder Alkoholgerüche hinterlassen und sich die Hände vorher aufwärmen. Es gab Abende, an denen gleich zwei Männer auf einmal erschienen, und es gab Männer, die insgesamt sechs Mal bei den Pélicots aufkreuzten. Mehr als neunzig Männer, so rekonstruierten es die Ermittler, sollen Gisèle zwischen den Jahren 2011 (als das Paar noch in Paris lebte) und 2020 vergewaltigt haben. Nur drei, die zum Haus kamen, lehnten das Angebot von Sex mit der bewusstlosen Frau ab. Zur Polizei aber ging niemand.

Nur durch einen Zufall kam der Spuk überhaupt ans Licht. Ein Wächter in einem Einkaufszentrum erwischte Dominique im September 2020 dabei, wie er Frauen unter die Röcke filmte. Die Polizei untersuchte daraufhin nicht nur sein Handy, sondern auch seinen Computer und stiess dabei auf Tausende von akribisch beschrifteten Fotos und Videos, die die Vergewaltigungen seiner Ehefrau dokumentierten.

Gisèle Pélicot musste glauben, dass sie an Alzheimer oder Krebs litt, denn anders konnte sie sich die Gedächtnislücken und regelmässigen Unterleibsschmerzen nicht erklären. Sie suchte Ärzte auf, die nichts fanden. Erst die Gerichtsmediziner entdeckten bei ihr vier Geschlechtskrankheiten, wohl alle übertragen von ihren Vergewaltigern, die keine Kondome benutzten.

Banalität der Gewalt

«Die gute Nachricht ist, dass die Beweislast in diesem Fall erdrückend ist», sagt Blandine Deverlanges. «Hätte Dominique Pélicot nicht all diese unsäglichen Aufnahmen von seinen Taten auf dem Computer aufbewahrt, würden seine Verteidiger jetzt versuchen, alle Aussagen in Zweifel zu ziehen.» Deverlanges, eine Lehrerin, kommt, wann immer sie es einrichten kann, zum Prozess, um Gisèle Pélicot zu unterstützen.

Die 56-Jährige ist Gründerin des feministischen Vereins Amazonen von Avignon. Sie erzählt, dass sie sich den Kampf gegen die «allgegenwärtige Vergewaltigungskultur» zur Aufgabe gemacht habe. Das Grundproblem, so Deverlanges, sei doch, dass viele Männer glaubten, es gebe eine Art Grundrecht auf Sex. Aber das könne es gar nicht geben. «Sex kann immer nur einvernehmlich sein.»

Etwas abseits von ihr steht Dikhra El Mouhidi, eine junge Psychologiestudentin aus Avignon, geschminkt und mit Kopftuch. Natürlich seien nicht alle Männer Monster, meint sie. «Aber sie sind schuldig, wenn sie gleichgültig bleiben. Wenn sie glauben, dass sie Gewalt gegen Frauen nichts angehe.»

Ist in Frankreich gerade wirklich etwas ins Rollen gekommen? Mehrere prominente Fälle über sexuellen Missbrauch gingen dem Mazan-Prozess voraus. Am schockierendsten waren dabei die Enthüllungen über Abbé Pierre, den 2007 gestorbenen Gründer der wohltätigen Emmaus-Gemeinschaft. Noch bis ins hohe Alter soll ausgerechnet er, den Millionen von Franzosen wie einen Nationalheiligen verehrten, Frauen sexuell genötigt und auch Kinder sexuell missbraucht haben.

Vor einem Pariser Gericht muss sich im Oktober auch der taumelnde Superstar Gérard Depardieu verantworten, weil er zwei Frauen sexuell belästigt haben soll. Und dann gibt es noch die Missbrauchsfälle in der französischen Filmbranche, die die Schauspielerin Judith Godrèche kürzlich mit ihrem Kurzfilm «Moi aussi» ans Licht brachte. Doch von diesen Fällen unterscheiden sich die Vergewaltigungen in Mazan dadurch, dass sie von Durchschnittsfranzosen verübt wurden, die sich nichts dabei dachten, sich an einer bewusstlosen Frau zu vergehen.

Edith Houvenaeghel, auch sie eine Unterstützerin des Opfers, glaubt nicht an einen neuen #MeToo-Moment. Es reiche ihr schon, sagt sie, wenn Gisèle Pélicot Gerechtigkeit widerfahre, die Höchststrafe müsse der Ex-Mann bekommen, 20 Jahre Gefängnis. «Dann wird er dort auch sterben!» Houvenaeghel und ihre Freundinnen werden sich noch gedulden müssen. Noch fünfzig Verhandlungstage, dann wird für Dezember ein Urteil erwartet.

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