Mittwoch, Oktober 9

Vor fünf Jahren sind bei Anschlägen auf Kirchen und Hotels in Sri Lanka 269 Personen getötet worden, unter ihnen zwei Schweizer. Mohamed Hanzeer hat Beweise dafür, dass einflussreiche Militärs hinter der Tat steckten. Er hat jahrelang für sie gearbeitet und will nun sein Gewissen erleichtern. Doch in der Schweiz, wo er Asyl beantragt hat, will niemand die brisante Wahrheit hören.

Mohamed Hanzeer sitzt am 21. April 2019 auf dem Rücksitz seines weissen SUV-Volkswagens und arbeitet, als auf seinem Mobiltelefon mehrere News-Alerts aufleuchten. Der erste kommt vom «Daily Mirror», es geht um die verheerenden Terroranschläge vom Vormittag. Die Polizei habe sechs Selbstmordattentäter identifiziert, steht da. Hanzeer schaut sich die Fotos an. Er bekommt keine Luft und beginnt zu zittern. Ihm wird klar, dass er in ein schreckliches Verbrechen verwickelt ist. Er kennt diese Männer.

Die Anschläge vom 21. April 2019, einem Ostersonntag, werden als «Osteranschläge» in Sri Lankas Geschichte eingehen. Während des morgendlichen Gottesdienstes griffen Selbstmordattentäter drei christliche Kirchen auf der Insel an. Fast gleichzeitig sprengten sich drei Terroristen in den Frühstückssälen von Luxushotels in die Luft. 269 Personen wurden bei der Anschlagsserie getötet, 43 von ihnen waren ausländische Staatsbürger, auch zwei Schweizer kamen ums Leben.

Erste Ermittlungen ergeben, dass die Attentäter einer einheimischen islamistischen Terrorgruppe angehören, der National Tawheed Jamaat (NTJ). Sie sollen Beziehungen zu internationalen Jihadisten haben. Doch Hanzeer ahnt, dass es nicht nur um religiösen Fanatismus geht. Hinter den Anschlägen vermutet er Männer, die das Land jahrelang regiert haben und um jeden Preis wieder an die Macht kommen wollen.

Erst zweieinhalb Jahre später wird Hanzeer den Mut aufbringen, über das, was er weiss, zu reden. Anfang Dezember 2021 wendet er sich an eine unabhängige Instanz, die ihm vertrauenswürdig scheint: die Schweizer Botschaft in Colombo. Doch die Schweizer Diplomaten wollen sein dunkles Geheimnis nicht hören. Es scheint ihnen zu brisant zu sein.

In den vergangenen zwei Jahren habe ich viele Akten zu diesem Fall gelesen: Hanzeers Appelle an die Schweizer Botschaft, Beschwerden seiner Anwälte, Gerichtsurteile, Stellungnahmen des damaligen Chefs der sri-lankischen Kriminalpolizei und Berichte von Parlamentskommissionen. Ich habe auch viele Gespräche mit Hanzeer geführt, an den unterschiedlichen Orten, an denen er sich gerade aufhielt, immer auf der Hut davor, entdeckt und von einem Auftragsmörder beseitigt zu werden. Aus Sicherheitsgründen nenne ich seinen derzeitigen Aufenthaltsort nicht.

Mohamed Hanzeer ist mit seiner Familie in einer französischen Grossstadt untergetaucht.

Über die zwei Jahre, in denen mir Hanzeer seine Lebensgeschichte erzählte, schien mir manches zu unglaublich, um wahr zu sein. Doch jedes Mal, wenn ich nachrecherchierte, ging alles bis zum letzten Detail auf.

Wie konnte dieser scharfsinnige und ehrlich wirkende Mann in die Gesellschaft von Auftragsmördern geraten? Und wieso entschied er sich schliesslich, auszusteigen, obwohl das sein Leben und das seiner Liebsten gefährdete? Dies ist seine Geschichte.

Ein Kind des Bürgerkriegs

Mohamed Mihlar Mohamed Hanzeer wird im Februar 1983 in Batticaloa im Nordosten Sri Lankas geboren. Ein paar Monate später beginnt der Bürgerkrieg. Die tamilische Minderheit hat genug von jahrzehntelanger Benachteiligung und Unterdrückung durch die Singhalesen. Die Liberation Tigers of Tamil Eelam (LTTE) kämpfen nun für einen unabhängigen tamilischen Staat im Norden und Osten. Anfangs greifen sie Sicherheitskräfte und andere Staatsvertreter an, bald terrorisieren sie auch die Zivilbevölkerung im Süden mit Selbstmordattentaten.

Den Rebellen gelingt es, im Norden einen De-facto-Staat zu errichten mit einer eigenen Regierung, einem Beamtenapparat und Grenzkontrollen. Je länger der Bürgerkrieg dauert, desto autoritärer wird ihr Regime. Sie rekrutieren Männer, Frauen und Kinder mit Zwang für den «Befreiungskampf», interne Kritiker bringen sie um. Derweil bekämpft auch die sri-lankische Armee die Liberation Tigers ohne Rücksicht auf die tamilische Zivilbevölkerung.

Hanzeers Kindheit ist geprägt von Gewalt und Vertreibung. Der Nordosten wird von den Rebellen kontrolliert. Die Mehrheit der Bevölkerung sind hinduistische Tamilen, es leben dort aber auch viele Muslime wie Hanzeer. Sein Vater ist Politiker und steht den Tamil Tigers kritisch gegenüber. Er muss deshalb nach Indien fliehen, die Familie bleibt in Sri Lanka zurück. Als Hanzeer sieben Jahre alt ist, wird der Vater im indischen Exil von LTTE-Terroristen erschossen.

Die Mutter arbeitet erst in Kuwait, später in Saudiarabien als Hausangestellte, um die vier Kinder zu ernähren. Hanzeer wächst mehrheitlich bei der Grossmutter auf. Mehrmals werden sie durch Kämpfe vertrieben, schliesslich wird das Haus der Grossmutter zerstört. Hanzeer verbringt seine Jugend in Flüchtlingslagern.

Als Ältester muss er früh selbständig werden. Er lernt fleissig, jede freie Minute verbringt er in der Bibliothek und liest. Hanzeer will aus dem Elend ausbrechen, es zu etwas bringen im Leben. In der Schule ist er der Klassenbeste. Er schafft es sogar an eine der besten Universitäten im Land und studiert Agrarwissenschaften, später auch noch Politik.

Schon während des Studiums beginnt er als Journalist für zwei Zeitungen in Colombo zu arbeiten. Er liebt den Job und träumt davon, ein landesweit bekannter Reporter zu werden. Dann verändert ein schicksalhaftes Treffen mit einem alten Freund seines Vaters 2006 sein Leben.

Der Mann ist ein einflussreicher Minister und verschafft ihm einen Job als Übersetzer für einen anderen tamilischen Politiker. Die Bezahlung ist gut, und es imponiert dem erst 23-jährigen Hanzeer, Parlamentarier, Generäle und den Präsidenten höchstpersönlich zu treffen. Sein Arbeitgeber ist ein abtrünniger Rebell, der sich mit der sri-lankischen Armee verbündet hat und eine eigene Partei sowie die paramilitärische Truppe Tamil Makkal Viduthalai Pulikal (TMVP) anführt. Er heisst Sivanesathurai Chandrakanthan, aber man kennt ihn unter seinem Nom de Guerre «Pillayan».

Bald arbeitet Hanzeer nur noch für Pillayan. Er wird zum Sprecher von dessen Partei und später zu dessen persönlichem Sekretär. Er ist aber sehr viel mehr als eine Schreibkraft. Er wird zu Pillayans Schatten und zu dessen Stimme. Sein Chef spricht nur Tamilisch, und wenn er mit singhalesischen Politikern und Militärs kommunizieren will, ist er auf Hanzeer als Übersetzer angewiesen. «Wir waren rund um die Uhr zusammen. Niemand kannte ihn so gut wie ich. Er sagte mir einmal, er vertraue mir sogar mehr als seiner Frau», sagt Hanzeer. Noch heute ist Stolz in seiner Stimme zu hören, wenn er das sagt, obwohl er inzwischen Todesangst vor Pillayan hat.

Am Anfang hat er seinen Chef bewundert, fast schon verehrt. Pillayan ist ein respektierter Kommandant, und die beiden verbindet der Hass auf die LTTE. Hanzeer will den Tod seines Vaters rächen, Pillayans Männer bekämpfen die Rebellen. Als Hanzeer merkt, dass sich Pillayan vom Kämpfer für eine «ehrenvolle Sache» in einen Auftragsmörder verwandelt, ist es zu spät, um auszusteigen. Er weiss bereits viel zu viel.

Im täglichen Umgang mit seinen Leuten ist der Chef herzlich. Deshalb haben sie dem kleinen, beleibten Mann auch den liebevollen Kampfnamen Pillayan gegeben, nach dem dickbäuchigen tamilischen Elefantengott Pillayar. Gegenüber Feinden ist er jedoch erbarmungslos. Er hat als Kindersoldat in den Reihen der Tamil Tigers gekämpft und getötet. Das hat ihn abgestumpft, er gibt Morde in Auftrag, ohne mit der Wimper zu zucken.

Als 2007 ein von der TMVP zwangsrekrutierter junger Mann desertiert, lässt Pillayan dessen Vater und zwei Schwestern vor den Augen der anderen Rekruten erschiessen und sagt warnend, dass jedem, der illoyal sei, dasselbe drohe. «In dem Moment habe ich realisiert, dass ich da nicht mehr rauskomme», sagt Hanzeer. Ihm wird auch klar, dass er mit seiner Arbeit das Leben seiner Liebsten gefährdet. Es ist ein schreckliches Gefühl.

Eineinhalb Jahre lang war Hanzeers Frau auf der Flucht, bevor sie es zu ihm nach Europa schaffte.

Die Grossmutter, die für ihn wie eine Mutter war, ist zwar bereits verstorben, aber er hat nun eine eigene Familie. Seine Frau Nuskiya hat er als junger Journalist in Colombo kennengelernt. Sie waren entfernt verwandt, er fühlte sich sofort wohl mit ihr. Er war 22, sie 16 Jahre alt, als 2005 ihre Tochter auf die Welt kam.

Um das kleine Mädchen macht sich Hanzeer nun Sorgen. Er versucht, aus der TMVP auszusteigen mit der Ausrede, dass er mehr Zeit für die Familie brauche. Aber Pillayan lässt ihn nicht mehr ziehen. Hanzeer bleibt und wird über die Jahre Zeuge vieler schwerer Verbrechen werden.

Der Aufstieg eines Clans

Im November 2005 wird Mahinda Rajapaksa zum Präsidenten Sri Lankas gewählt. Er ist volksnah und charismatisch. Im Wahlkampf hat er Frieden versprochen. Tatsächlich finden 2006 Friedensgespräche zwischen der Regierung und den Rebellen statt. Als diese scheitern, entscheidet Mahinda Rajapaksa, den Konflikt mit einer neuen Armeeoffensive endgültig zu beenden. Die Verantwortung dafür überlässt er seinem jüngeren Bruder Gotabaya, einem cholerischen, ruchlosen Militär.

Unter Gotabaya begeht die Armee im Norden Sri Lankas ab Januar 2008 schwere Kriegsverbrechen: Tamilische Zivilisten werden massakriert, Gefangene hingerichtet, es kommt zu unzähligen Fällen von Folter und Vergewaltigungen. Allein in den letzten Kriegswochen werden laut Schätzungen von Uno-Experten 40 000 tamilische Zivilisten bei der Bombardierung einer «Schutzzone» getötet, 20 000 gelten bis heute als vermisst. Gotabaya bekommt den Übernamen «Terminator».

Im Mai 2009 gelingt es den Brüdern Rajapaksa, den Bürgerkrieg zu beenden und die Tamil Tigers praktisch auszulöschen. Die Singhalesen lieben sie dafür. Mahinda wird 2010 wiedergewählt, Gotabaya behält die Kontrolle über die Armee, und über vierzig weitere wichtige Ämter werden an Familienmitglieder verteilt. Hanzeers Chef Pillayan ist bereits 2008 vom Präsidenten zum Chefminister der Ostprovinz ernannt worden.

Entführung, Morde und Attentate

Wer Kritik an der Obrigkeit äussert, lebt im Sri Lanka der Rajapaksas gefährlich. Schlägertrupps schüchtern Mitarbeiter von Think-Tanks ein und stecken Redaktionen kritischer Medienunternehmen in Brand. Regierungsgegner werden in weisse Kleinbusse gezerrt, am Tag darauf findet man ihre Leichen im Strassengraben. Der unerschrockene Chefredaktor des «Sunday Leader» wird auf dem Weg zur Arbeit erschossen, ein christlicher Oppositionspolitiker während der Weihnachtsmesse in der Kirche.

Pillayans TMVP ist in viele dieser Verbrechen verwickelt. Wie alle paramilitärischen Gruppen ist sie am Ende des Bürgerkriegs zwar offiziell aufgelöst und entwaffnet worden, im Hintergrund agiert sie aber weiter als Mordkommando. Die Aufträge kommen von ganz oben.

Eine wichtige Rolle spielt dabei unter anderen Suresh Sallay, ein junger Militär, der unter Gotabaya Rajapaksa eine steile Karriere macht und zum Chef des Militärgeheimdienstes aufsteigt. Er gibt Pillayans Todesschwadronen Aufträge und zahlt ihre Gehälter. Hanzeer wirkt als Mittelsmann zwischen dem Geheimdienst und der TMVP, er nimmt Geld entgegen und verteilt es. Auftragsmörder bekommen nach erledigter Arbeit einen grosszügigen Bonus – oder, falls ihnen die Polizei auf die Spur kommt, eine neue Identität und ein Flugticket für ein europäisches Land.

Hanzeer ist damals unter seinem Nom de Guerre «Azad Maulana» bekannt. Er mag den Namen. Maulana ist die respektvolle Bezeichnung für einen muslimischen Geistlichen, und er ist nicht nur der einzige Muslim innerhalb der TMVP, er ist auch gebildeter als seine Mitstreiter. Im Gegensatz zu ihnen hat er nicht von klein auf gekämpft. Er hat studiert, er hat sogar einen Doktortitel.

Als Sekretär sei er selber nicht an Verbrechen beteiligt gewesen, er habe aber Bescheid gewusst, sagt Hanzeer. Er sei etwa dabei gewesen, als der Armeechef Gotabaya Rajapaksa Pillayan nach der Ermordung des christlichen Abgeordneten in seinem Büro für die «gute Arbeit» gelobt habe. Später habe er auch gehört, wie die Beseitigung des Chefredaktors des «Sunday Leader» geplant worden sei. «Politiker, Journalisten, Aktivisten, Universitätsprofessoren und sogar zwei IKRK-Mitarbeiter . . . So viele Menschen wurden über die Jahre von meiner Organisation umgebracht, und ich habe zugeschaut.»

Hanzeer hat ein erstaunlich gutes Gedächtnis. Noch heute erinnert er sich an jedes Detail der von seinen Leuten geplanten Entführungen und Morde. Wer ihm zuhört, kommt nicht umhin, sich zu fragen, wie er so lange schweigen konnte. Hatte er wirklich keine andere Wahl?

Der heute 41-Jährige sagt, er habe verdrängt, was um ihn herum passiert sei, und so getan, als hätte er einen normalen Job. Hanzeer versucht sein Verhalten zu erklären, er rechtfertigt es nicht. Auch wenn er nicht selbst gemordet habe, habe er doch Blut an den Händen, sagt er. Er sei bereit, für seine Verfehlungen zur Rechenschaft gezogen zu werden.

Hanzeer will sein Gewissen erleichtern, er will Sühne leisten. Und er versteht nicht, wieso sich niemand für die grausame Wahrheit interessiert. Jetzt, wo er endlich bereit ist zu reden. Er wünschte sich, er hätte früher den Mut gefasst, ins Ausland zu flüchten. Er hat viel zu lange gewartet. 16 Jahre hat er für einen Auftragsmörder gearbeitet, und die Angst war wohl nicht das Einzige, was ihn hielt.

Dank seiner Position an der Seite von Pillayan ist Hanzeer in die höchsten politischen Sphären aufgestiegen, und das als Muslim, was in Sri Lanka ungewöhnlich ist. Er verdient viel Geld. Er kauft sich eine Wohnung in einem schicken Vorort von Colombo, verbringt mit der Familie ab und zu das Wochenende in Indien, Singapur oder Dubai.

Gleichzeitig wird er immer einsamer. Er erzählt niemandem, was er tut. Seine Frau und seine Angehörigen wissen nur, dass er für jemanden in der Regierung arbeitet. Sie seien dadurch sicherer, denkt er. Er weiss aber wohl auch, dass sie schockiert wären, wenn sie wüssten, was für ein Mensch aus ihm geworden ist.

Seine Frau Nuskiya beklagt sich, weil er ständig unterwegs ist. Pillayan will ihn unentwegt bei sich haben, Hanzeer verbringt nur ein Wochenende im Monat mit der Familie. Nuskiya stört es auch, dass ständig Bodyguards um sie herum sind. Seit Hanzeers Fahrer bei einem Attentat getötet worden ist, das er selbst nur durch Glück überlebte, wird er immer von vier Geheimdienstleuten begleitet. Seiner Frau ist die damit verbundene Aufmerksamkeit unangenehm. Sie versteht auch nicht, dass er seine Mutter und seine Schwiegereltern kaum mehr besucht, um sie nicht zu gefährden.

Verschwörer und ihre Handlanger

Mahinda Rajapaksa und sein Clan begehen nicht nur schwere Menschenrechtsverletzungen und schwächen die demokratischen Institutionen im Land. Korruption und Vetternwirtschaft setzen Sri Lanka auch wirtschaftlich zu. Die Unzufriedenheit wächst selbst unter den einst treuen singhalesischen Wählern. 2015 verliert Mahinda die Wahlen, Präsident wird sein Herausforderer Maithripala Sirisena.

Das Machtsystem der Rajapaksas wankt: Gotabaya muss die Führung des Verteidigungsministeriums abgeben, Suresh Sallay wird als Geheimdienstchef abgesetzt. Auch Pillayan ist nicht mehr unantastbar. Er wird wegen Mordes verhaftet.

Hanzeer arbeitet weiter für Pillayan, während dieser im Gefängnis sitzt, er hat nun aber mehr Zeit und wird Unternehmer. Er importiert Fahrradteile und verkauft diese weiter. Seine politischen Kontakte helfen ihm dabei, das Geschäft läuft, bald hat er siebzig Angestellte. Er baut ein eigenes Haus mit einem kleinen Swimmingpool für die Kinder. Mittlerweile sind es zwei, sein Sohn ist zwei Jahre alt, seine Tochter ist gerade zehn geworden.

Hanzeer lebt zwischen Colombo und Batticaloa, wo sein Büro und seine Fabrik sind. Dort ist er auch am Morgen des Ostersonntags 2019, als eine laute Explosion zu hören ist. Er vermutet, es sei irgendwo ein Gastank explodiert. Eine Stunde später erfährt er, dass sich in der Zion-Kirche in Batticaloa ein Attentäter in die Luft gesprengt hat und es auch in der Hauptstadt Colombo Terroranschläge gab.

Gegen Mittag ruft ihn seine Frau Nuskiya an. In Colombo sei die Stimmung aufgeladen, in einigen Vierteln sei es bereits zu Übergriffen gegen Muslime gekommen, erzählt sie besorgt. Hanzeer weist den Fahrer an, so schnell wie möglich nach Colombo zurückzufahren. Sie sind gut eine Stunde unterwegs, als er den News-Alert mit den Fotos der Attentäter sieht und sich sein Leben für immer verändert.

Die sechs Männer stammen wie Hanzeer aus dem Osten Sri Lankas. Sie sind religiöse Fanatiker, nicht gemässigt wie die grosse Mehrheit der Muslime im Land. Fünf von ihnen hatten zeitweise mit seinem Chef die Zelle geteilt, Pillayan hatte sie Hanzeer 2017 vorgestellt. Ein paar Monate später wurden sie auf Kaution freigelassen. Das Geld hatte der Militärgeheimdienst bereitgestellt, Hanzeer hatte es den Angehörigen überbracht. Die Islamisten könnten ihnen in Zukunft nützlich sein, hatte ihm Pillayan damals erklärt.

Nun haben diese Männer grausame Terrorakte begangen, und Hanzeer ahnt, dass sie nicht der Islamische Staat losgeschickt hat, wie die Medien berichten. Er vermutet, dass es sich um eine eiskalte Verschwörung handelt – und er dabei unwissentlich die Vermittlerrolle gespielt hat.

An diesem Abend kommt Hanzeer völlig fertig zu Hause an. Er versucht seine Frau zu beruhigen und eilt dann von seiner Eigentumswohnung im 2. Stock hoch auf die Dachterrasse. Nervös wartet er auf Pillayans Anruf. Sein Chef ruft ihn jeden Abend um 21 Uhr aus dem Gefängnis an. An diesem Abend klingt Pillayan aufgeräumt. Er solle sich beruhigen, habe sein Chef gesagt, er habe auch nichts von dieser Sache gewusst. Doch das Gute daran sei, dass die Rajapaksas nun zurück an die Macht kämen und er nicht mehr lange im Gefängnis sitzen werde.

Pillayan geht davon aus, dass der frühere Militärgeheimdienstchef Suresh Sallay hinter den Anschlägen steckt und dass er im Auftrag von Gotabaya Rajapaksa handelte. Im engsten Kreis hatte dieser wiederholt darüber gesprochen, dass Unruhe geschürt werden müsse, um die Bürger zu verunsichern und die Regierung zu diskreditieren.

Hanzeer steigt die Treppe hinunter in die Wohnung. Gewöhnlich durchfliesst ihn ein Gefühl der Genugtuung, wenn er am hauseigenen Fitnesscenter im obersten Stock vorbeigeht. Es erinnert ihn daran, dass er es geschafft hat, sich hochzuarbeiten, von einem Zelt im Flüchtlingslager in diesen luxuriösen Appartementkomplex. Doch das Telefonat hat jede Selbstzufriedenheit ausgelöscht. Hanzeer fühlt sich elend. Die ganze Nacht muss er sich übergeben. Er kann an nichts anderes mehr denken als an das Treffen, das er im vergangenen Jahr organisiert hat.

Es war im Februar 2018. Im Auftrag von Pillayan hatte Hanzeer die religiösen Fanatiker, die sein Chef aus dem Gefängnis kannte, mit Suresh Sallay bekanntgemacht. Das Treffen fand auf einer Kokosnussplantage in Wanathavilluwa an der Westküste Sri Lankas statt. Der ehemalige Militärgeheimdienstchef und die sechs Männer in den langen weissen Kutten verbrachten über drei Stunden zusammen in dem kleinen Farmhaus der Plantage. Hanzeer war nicht dabei, er wartete draussen mit dem Fahrer der Islamisten. Er wusste deshalb nicht genau, was die Männer ausheckten. Pillayan hatte ihm nur gesagt, Suresh Sallay habe einen grossen Plan, und Hanzeer machte sich keine Gedanken, auch er war mittlerweile abgebrüht.

Die Osteranschläge sind für ihn dann aber ein Schock, eine völlig neue Dimension von Gewalt. Keine politischen Morde und Abrechnungen, sondern Terror gegen Zivilisten, gegen Frauen und Kinder. Gläubige wurden beim Beten getötet, Ausländer während der Ferien in Sri Lanka. Zudem beginnt danach eine regelrechte Hetzjagd auf Muslime. Sie werden auf der Strasse und in ihren Häusern von wütenden Mobs angegriffen. Im ganzen Land kommt es zu Razzien, viele unschuldige Glaubensgenossen werden verhaftet und gefoltert. «Ich bin fast wahnsinnig geworden vor Schuldgefühlen. Mit so etwas wollte ich nichts zu tun haben», sagt Hanzeer.

Im Nachhinein wird ihm vieles klar. Einzelne Episoden der vergangenen Jahre ergeben nun ein grosses Bild. Suresh Sallay und andere Vertraute von Gotabaya Rajapaksa hatten im Vorfeld der Anschläge wiederholt darüber diskutiert, dass die Chancen für eine Rückkehr an die Macht nicht gut seien. Sie wollten die Regierung von Präsident Sirisena destabilisieren. Zudem hatten sie argumentiert, das Rajapaksa-Lager müsse die christlichen Wähler auf seine Seite ziehen, um Wahlen gewinnen zu können.

Als Beweisstück dafür, dass er jahrelang mit dem Militärgeheimdienst zusammenarbeitete, hat Hanzeer einen von diesem erstellten Ausweis mitgenommen.

Hanzeer hat jahrelang mit diesen Leuten zusammengearbeitet, er weiss, wozu sie fähig sind. «Sie haben die Osteranschläge geplant, um Gotabaya zurück an die Macht zu bringen», sagt er. Es ist ein unglaublicher Vorwurf, der als Verschwörungstheorie abgetan werden könnte. Doch Hanzeer hat zu viel gesehen und gehört, er will die Wahrheit nicht weiter verdrängen.

Neben dem Treffen auf der Kokosplantage gibt es viele weitere Indizien, die eine Verstrickung von hohen Militärs und Geheimdienstlern in die Osteranschläge nahelegen. Sie hier alle darzulegen, ginge zu weit. Die wenigen konkreten Beweisstücke und die vielen Indizien, die Hanzeer vorlegen kann, ergeben aber ein schlüssiges Bild. Als Insider kennt er so viele Details dieses Jahrhundertverbrechens, dass Ermittler mit seiner Hilfe das Puzzle leicht zusammensetzen könnten – indem sie Telefonanrufen nachgehen, Zeugen und Verdächtige befragen, Alibis überprüfen.

Hanzeers Aussagen werden von Untersuchungen der sri-lankischen Kriminalpolizei gestützt. Auch diese kam auf die Spur der einflussreichen Hintermänner. Ihr früherer Chef Shani Abeysekara beschreibt in einer Petition an das Oberste Gericht, wie der Militärgeheimdienst die Polizei bei ihren Ermittlungen systematisch behinderte und in die Irre führte. Laut den Angaben tauchten Agenten vor der Polizei bei den Familien der Selbstmordattentäter auf und verwischten Spuren, sie schüchterten Zeugen ein und verhinderten die Einvernahme mehrerer Verdächtiger mit dem Argument der nationalen Sicherheit.

Die Kriminalpolizei hatte bereits vor den Osteranschlägen gegen die National Tawheed Jamaat ermittelt und war dabei auf Verbindungen der Extremisten zum Militärgeheimdienst gestossen. Im Januar 2019 entdeckten Shani Abeysekara und seine Leute bei einer Razzia auf der Kokosplantage, von der auch Hanzeer berichtet, ein riesiges Lager von Waffen und Explosivstoffen und Hinweise darauf, dass es sich um einen Ausbildungsort für Terroristen handelte. Die Untersuchungen wurden vom Militärgeheimdienst aber gestoppt mit dem Argument, dass es sich um ein Armeegelände handle und aus Gründen der nationalen Sicherheit niemand vernommen werden könne.

Schwache Ermittler

Nach den Osteranschlägen hätte Hanzeer die Chance, sein Gewissen zu erleichtern und mit der Polizei zu kooperieren. Shani Abeysekara befragt ihn, doch obwohl Hanzeer weiss, dass der Polizeichef integer ist, schweigt er. Er hat Angst. Zum einen war er ja ungewollt selbst in die Planung des Terrorakts involviert, zum anderen weiss er, wie gross der Einfluss von Gotabaya Rajapaksa auf die Armee und den Geheimdienst weiter ist. Er ahnt, dass der mutige Polizeichef gegen die dunklen Mächte im Hintergrund nicht ankommen wird. Das wird sich später bestätigen.

Die Terrorserie zerstört das Image Sri Lankas als friedliches Ferienparadies, die Einnahmen aus dem Tourismus brechen ein. Der düstere Plan des Zirkels um Gotabaya Rajapaksa geht auf: Die Christen und die buddhistischen Singhalesen sind verunsichert, Präsident Sirisena verliert an Rückhalt. Während der polizeilichen Ermittlungen stellt sich heraus, dass der indische Geheimdienst Sri Lanka im Vorfeld der Attentate gewarnt hatte, die Regierung aber untätig geblieben war.

Fünf Tage nach den Osteranschlägen kündigt Gotabaya, der «Terminator», seine Präsidentschaftskandidatur an. Sri Lanka brauche angesichts der islamistischen Bedrohung wieder einen starken Mann an der Spitze, lautet seine Botschaft. Der Erzbischof von Colombo, Kardinal Malcolm Ranjith, stellt sich hinter Gotabaya Rajapaksa. Im November 2019 wird dieser dank den christlichen Stimmen zum Präsidenten gewählt.

Nach der Wahl setzt Rajapaksa umgehend den Chef der Kriminalpolizei ab. Shani Abeysekara wird sogar verhaftet und angeklagt, Beweismittel fabriziert zu haben. Er kommt später zwar auf Kaution frei, wird aber mit einem Ausreiseverbot belegt. Er wird beschattet, sein Telefon abgehört.

Glaubwürdige Ermittlungen zu den Osteranschlägen gibt es danach keine mehr. Die Staatsanwaltschaft, das Oberste Gericht und die Chefposten bei der Polizei sind nun wieder mit Rajapaksa-getreuen Leuten besetzt.

Gotabaya Rajapaksa macht seinen Bruder Mahinda zum Premierminister. Suresh Sallay wird zum Chef des Staatsgeheimdienstes und damit zum Chefspion des Landes. Der «Terminator» und seine Leute kontrollieren damit den gesamten Sicherheitsapparat. Innerhalb des Militärs sind ihnen sowieso viele treu geblieben.

Die Staatsanwaltschaft zieht später auch die Mordanklage gegen Hanzeers Chef zurück. Pillayan wird 2020 ins Parlament gewählt und übernimmt ein Ministeramt. Hanzeer müsste sich also keine Sorgen mehr machen. Solange diese Männer den Staat kontrollieren, wird das Verbrechen, das ihn in seinen Albträumen verfolgt, nicht aufgedeckt werden. Doch ihn quält das Gewissen. Er wünscht sich, dass die Wahrheit ans Licht kommt, er weiss aber auch, dass er nicht überleben wird, wenn er auspackt. Eine unabhängige polizeiliche oder gerichtliche Untersuchung ist unvorstellbar.

Im Spätsommer 2021 beginnen dann aber einige Oppositionspolitiker Zweifel an der offiziellen Version zu äussern, wonach die Osteranschläge von einem ausländischen Terrornetzwerk orchestriert worden sind. Im Herbst stellen auch die katholischen Bischöfe des Landes in einem offenen Brief an den Präsidenten unangenehme Fragen.

Ausstieg und Flucht

Suresh Sallay bestellt Hanzeer am Abend des 21. Oktobers 2021 in sein Büro. Üblicherweise wird er von dessen Mitarbeitern jovial empfangen, doch diesmal ist die Stimmung angespannt, Hanzeer wird sogar durchsucht, bevor man ihn zum Geheimdienstchef lässt. Sallay vermutet, dass er mit Oppositionellen und Priestern gesprochen habe. Er verhört ihn vier Stunden lang. Hanzeer versichert, dass er nichts preisgegeben habe, aber der Chefspion scheint zu spüren, dass ihn das Gewissen plagt.

Als Hanzeer am späten Abend dessen Büro verlässt, hat er panische Angst. In diesem Moment beschliesst er, ins Ausland zu fliehen. Sobald er und seine Familie in Sicherheit sind, will er die Wahrheit publik machen, auch wenn er sich damit selbst belastet.

Vier Tage später fliegt Hanzeer mit Nuskiya und den Kindern nach Südindien. Er fühlt sich aber auch dort nicht sicher, er will nach Europa, weit weg von seinen ehemaligen Chefs. Mitarbeiter des Uno-Flüchtlingshilfswerks raten ihm, ein humanitäres Visum für die Schweiz zu beantragen. Die Schweiz hat Ende 2019 bereits einem anderen hochrangigen politischen Flüchtling aus Sri Lanka Asyl gewährt, dem stellvertretenden Chef der Kriminalpolizei, Nishanta Silva. In Genf befinden sich zudem wichtige Uno-Gremien, vor denen Hanzeer aussagen will. Und er glaubt, die Schweizer hätten ein genuines Interesse an der Aufklärung der Osteranschläge, weil dabei auch zwei Schweizer Bürger ums Leben gekommen sind.

In einer Mail an den Schweizer Botschafter schreibt Hanzeer am 2. Dezember 2021, dass er Informationen über die Hintermänner der Osteranschläge habe. Er sei bereit, vor der Uno oder vor einem internationalen Gericht auszusagen, wenn er ein humanitäres Visum zur Einreise in die Schweiz erhalte. In den folgenden zwei Monaten schreibt er zahlreiche weitere Mails und eingeschriebene Briefe an verschiedene Stellen in der Botschaft in Colombo, im EDA und im Staatssekretariat für Migration (SEM) in Bern. Weil ihm Mitarbeiter schweizerischer Hilfswerke raten, persönlich bei der Botschaft vorzusprechen, reist er im Januar zurück nach Colombo. Er ruft mehrmals in der Botschaft an und bittet um einen Termin. Eine Antwort bekommt er nie, weder eine positive noch eine ablehnende.

Die Schweizer Diplomaten tun einfach nichts. Der Grund dafür könnte die Affäre um den Fall Nishanta Silva sein. Der stellvertretende Polizeichef hatte nach 2015 unter anderem den Mord am Chefredaktor des «Sunday Leader» und das Verschwinden einer Gruppe von Studenten untersucht und war dabei auf Verbindungen zu Gotabaya Rajapaksa gestossen. Er wagte es, diesen zu vernehmen und mehrere Armeeoffiziere zu verhaften, daraufhin wurde er mit dem Tod bedroht.

Angst vor einer diplomatischen Krise?

Wenige Tage nach Gotabayas Wahlsieg im November 2019 floh der Polizeiinspektor in die Schweiz. Am Tag danach wurde eine lokale Mitarbeiterin der Schweizer Botschaft in Colombo von Unbekannten in eine Falle gelockt und mehrere Stunden lang verhört und bedroht. Die Täter wurden auch sexuell übergriffig. Die junge Sri Lankerin hatte sich im Konsulat um Asylfälle gekümmert, auch um jenen von Nishanta Silva, und die Peiniger verschafften sich über ihr Mobiltelefon Zugang zu Kommunikation in dem Fall.

Die Schweizer machten in einer Protestnote die sri-lankische Regierung für den Übergriff verantwortlich. Es kam zu einem diplomatischen Eklat. Gotabaya Rajapaksa behauptete, die Frau sei von interessierten Parteien zum Lügen gezwungen worden, um seine Regierung in Verruf zu bringen. Juristisch verfolgt wurden nicht die Täter, sondern das Opfer. Als die Frau wegen Verleumdung verhaftet wurde, gab die Eidgenossenschaft klein bei und entschuldigte sich in einer offiziellen Note. Die Schweiz habe nie die Absicht gehabt, das Image der sri-lankischen Regierung zu beschmutzen, hiess es. Die Beziehungen zwischen den beiden Ländern seien exzellent.

Lösen wird sich die diplomatische Krise erst im Sommer 2023. Die Konsulatsangestellte bekennt sich diffamierender Falschaussage schuldig und wird zu zwei Jahren bedingter Freiheitsstrafe und zu einer Busse von umgerechnet 14 Franken verurteilt. Sie lebt heute mit ihrer Familie in der Schweiz.

Nach diesem diplomatischen Desaster wollen sich die Schweizer Behörden offenbar nicht noch einmal mit dem unberechenbaren Rajapaksa-Regime anlegen und schauen im Fall von Hanzeer lieber weg.

Hanzeers Leben ist bedroht, er wird vom Geheimdienst gesucht. Es gelingt ihm, über einen Vermittler ein Touristenvisum für Frankreich zu besorgen und Anfang Februar 2022 mit der Hilfe eines bestechlichen Immigrationsbeamten am Flughafen von Colombo unbemerkt auszureisen. In Paris holt ihn ein Freund ab und fährt ihn nach Zürich, wo er am 16. Februar 2022 im Bundesasylzentrum im Zürcher Kreis 5 Asyl beantragt.

Zuerst kommt der Sri Lanker in eine Unterkunft für Asylbewerber in Boudry im Kanton Neuenburg. Nach einem Monat wird er nach Freiburg verschoben. Er versucht den Zuständigen mitzuteilen, dass er ein politischer Flüchtling sei und aussagen wolle. Zu einem Interview mit den Schweizer Behörden über seine Fluchtgründe kommt es jedoch nie. «Sie sahen mich nur als Problem und wollten mich loswerden», sagt Hanzeer im Rückblick.

Seine Frau, seine Tochter und sein Sohn sind in dieser Zeit noch immer in Sri Lanka. Auch sie werden vom Geheimdienst gesucht und sind untergetaucht. Sie kommen bei Bekannten unter, alle paar Wochen müssen sie den Aufenthaltsort wechseln. Die Kinder können nicht mehr zur Schule. Hanzeer hört manchmal wochenlang nichts von ihnen, aus Sicherheitsgründen bricht Nuskiya immer wieder den Kontakt ab.

Hanzeer fühlt sich machtlos, er weiss nicht, was er tun soll. In Sri Lanka hatte er Kontakte und konnte jedes Problem lösen. Nun ist er ein Nichts ohne Perspektive. Er wird depressiv, bekommt Medikamente, doch sie helfen nicht. Er denkt immer häufiger daran, sich das Leben zu nehmen. Einmal schluckt er eine Handvoll Schlaftabletten, doch es reicht nicht. Im Nachhinein ist er froh, er will seine Kinder nicht im Stich lassen, sie sollen nicht ohne Vater aufwachsen wie er.

Ein wichtiger Zeuge

Hanzeer kontaktiert verschiedene Menschenrechtsorganisationen, die an seinem Insiderwissen interessiert sind. Er sagt auch wiederholt vor einer vom Uno-Menschenrechtsrat eingesetzten Kommission in Genf aus, die Menschenrechtsverletzungen in Sri Lanka untersucht. Dabei geht es um die Osteranschläge, aber auch um andere ungelöste Verbrechen, deren Hintergründe er kennt. Die Experten vom Büro des Hochkommissars für Menschenrechte halten Hanzeer für einen sehr wichtigen Zeugen und unterstreichen dies auch in einem Schreiben an die Leiterin des Staatssekretariats für Migration.

Hanzeers Sohn hat sich bereits etwas integriert, seine Frau und seine Tochter tun sich schwerer mit dem Leben im Exil.

In der Zwischenzeit wachsen auch in Sri Lanka die Zweifel an der Version eines internationalen Terrorplots. Eine parlamentarische Kommission stellt in ihrem Bericht fest, dass der Militärgeheimdienst die Untersuchungen der Polizei systematisch blockiert habe. Eine von Präsident Sirisena eingesetzte Kommission aus fünf hohen Richtern soll gar Ermittlungen gegen enge Mitarbeiter von Gotabaya Rajapaksa gefordert haben. Da dieser zum Zeitpunkt der Abgabe des Berichts aber bereits Präsident ist, verhindert er die Publikation.

Für den Erzbischof von Colombo ist dies der endgültige Beweis dafür, dass Gotabaya Rajapaksa nicht an einer Aufklärung der Osteranschläge interessiert ist. Malcolm Ranjith hat schon entsetzt mitverfolgt, wie Shani Abeysekara und andere aufrechte Polizisten abgesetzt wurden und ein Rajapaksa-treuer Mann mit schlechtem Ruf die Verantwortung für die Ermittlungen übernahm.

Der Kardinal ist mittlerweile überzeugt, dass Sri Lankas Christen Opfer eines grausamen Machtpokers geworden sind. Kirchen wurden angegriffen, um ihre Stimmen zu gewinnen. Mit den Terrorangriffen sollte Islamophobie geschürt werden, die Sri Lanker sollten glauben, dass das Land durch muslimische Extremisten bedroht sei. «Am Anfang haben wir Christen an dieses Narrativ geglaubt, auch ich bin darauf hereingefallen», sagt Malcolm Ranjith im Gespräch mit der NZZ. «Heute frage ich mich, wie eine isolierte kleine Gruppe von Extremisten einen derart grossen koordinierten Terrorakt geplant haben soll.»

Der Erzbischof wählt vorsichtige Worte, er nennt die mutmasslichen Verantwortlichen nicht beim Namen, er lebt in Colombo und sorgt sich um seine Sicherheit. Doch Malcolm Ranjith tut, was er kann, damit die Wahrheit ans Licht kommt. Er organisiert Proteste und lobbyiert für eine unabhängige Untersuchung. Er hat den Papst informiert und in Genf Vertreter des Hochkommissariats für Menschenrechte getroffen. Er hat auch mit Hanzeer gesprochen und ist überzeugt, dass dieser ein wichtiger Zeuge für die Aufklärung der Osteranschläge wäre.

Die Schweizer Behörden sehen es nicht so. Im Mai 2020 beschliesst das Staatssekretariat für Migration, den Sri Lanker nach Frankreich abzuschieben, weil er dort in den Schengenraum eingereist ist. Es argumentiert formalistisch, auf die politischen Argumente geht das SEM nicht ein.

Hanzeers Anwalt erhebt Einspruch gegen den Entscheid. In seiner Beschwerde wirft er den Schweizer Behörden Rechtsverweigerung vor, weil sie auf keinen von Hanzeers vielen Kontaktversuchen reagiert haben. Sie hätten bewusst entschieden, sein Gesuch um ein humanitäres Visum zu ignorieren, und damit sein Recht auf ein rechtsstaatliches Verfahren verletzt, schreibt er.

Tatsächlich haben die Schweizer Botschaft und das SEM in Hanzeers Fall die eigenen Vorschriften im Umgang mit humanitären Visa missachtet. So hätte sein Gesuch von der Auslandsvertretung im nationalen Informationssystem erfasst und mit einer Stellungnahme ans SEM weitergeleitet werden müssen. Das SEM hätte dann den Antrag prüfen und einer Visaerteilung zustimmen oder diese ablehnen müssen. Hanzeers Antrag wurde aber offenbar nie behandelt.

Auf Anfrage der NZZ wird das SEM später erklären, es könne sich aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes nicht zum Fall äussern. Man wolle jedoch hervorheben, dass die Bearbeitung von Anträgen eine gewisse Zeit in Anspruch nehmen könne und das entsprechende Gesuch gegenstandslos werde, wenn sich dem Gesuchsteller eine andere Möglichkeit zur Ausreise biete.

Man dürfte sich beim SEM allerdings bewusst sein, dass Anträge für humanitäre Visa dringlich sind, weil die Antragsteller um ihr Leben fürchten müssen. Solche einfach zu ignorieren, bis ein anderes europäisches Land einspringt, entspricht zudem kaum dem Gemeinschaftsgedanken der Dublin-Verordnung, der auch die Schweiz untersteht.

Das Bundesverwaltungsgericht geht jedoch nicht auf den Vorwurf der Rechtsverweigerung ein und lehnt die Beschwerde ab. Hanzeer wird definitiv des Landes verwiesen. Am 8. August 2022 reist er nach Frankreich. Der ganze Asylprozess fängt wieder von vorne an.

Aus formalistischen Gründen abgeschoben

Hanzeer ist verzweifelt. In der Schweiz hat er sich ein kleines Netzwerk aufgebaut. In Frankreich ist er wieder völlig allein. Zudem fühlt er sich dort viel unsicherer, weil die Paramilitärs, für die er gearbeitet hat, in Frankreich stark präsent sind und die Chancen grösser, dass man ihn findet.

Seine ehemaligen Chefs wollen ihn zum Schweigen bringen. Hanzeer weiss, dass sie versucht haben, seinen Aufenthaltsort über Bekannte in der Diaspora ausfindig zu machen. Geheimdienstler haben die Wohnungen seiner Mutter, seines Bruders und seines Fahrers in Sri Lanka durchsucht. Auch Verwandte seiner Frau wurden verhört. Aus Sicherheitsgründen kennt niemand in der Heimat seinen genauen Aufenthaltsort.

Nachts plagen ihn Albträume, in denen Nuskiya und die Kinder von Gotabayas Schergen gefoltert werden. Erst Ende April 2023, nach eineinhalb Jahren auf der Flucht, schaffen sie es mit einem Touristenvisum nach Europa. Nun leben sie zu viert in einer engen Wohnung in einem mehrheitlich arabischen Viertel einer französischen Grossstadt.

Seit die Familie bei ihm ist, geht es Hanzeer besser. Auch wenn er nicht weiss, wie er hier Geld verdienen und sich um sie kümmern soll. Auch wenn seine 19-jährige Tochter ohne Baccalauréat hier nicht studieren kann und sich seit Monaten in ihrem Zimmer verkriecht. Nur sein 11-jähriger Sohn hat sich bereits integriert. Er geht zur Schule und hat neue Freunde gefunden. Hanzeers Frau und Tochter sind noch immer traumatisiert. Sie sehnen sich nach ihrem alten Leben, dem Haus, der Familie, den Freunden. Und sie machen Hanzeer für ihr Unglück verantwortlich.

Nuskiya weiss mittlerweile, warum sie untertauchen mussten. Vor seiner Flucht in die Schweiz hat er ihr alles gebeichtet. Es hätte fast ihre Ehe zerstört. Sie war schockiert, und sie fühlte sich betrogen. All die Jahre hatte er sie angelogen und das Leben seiner Kinder aufs Spiel gesetzt. «Hätte ich gewusst, in was mein Mann verwickelt ist, hätte ich ihn gezwungen, auszusteigen und viel früher mit uns ins Ausland zu flüchten», sagt sie bei einem unserer Treffen.

Die Wohnung, in der die vierköpfige Familie momentan lebt, ist eng und nur spartanisch eingerichtet.

Seit eineinhalb Jahren lebt Hanzeer nun schon in Frankreich. Er wurde dreimal von den Migrationsbehörden interviewt und hat alles erzählt, was er weiss. Auch seine Frau und seine Tochter sind vernommen worden. Die Franzosen nähmen sein Anliegen sehr viel ernster als die Schweizer und wüssten auch genauer Bescheid über die politische Lage in Sri Lanka, sagt Hanzeer. Sie wüssten, dass er in akuter Lebensgefahr sei und nicht in die Heimat zurückgeschickt werden könne.

Das stimmt ihn hoffnungsvoll. Bis heute hat er aber keinen Asylbescheid bekommen. Und die Unsicherheit wächst mit jeder Woche. Wieso es so lange dauert, können ihm auch Anwälte und Asylorganisationen nicht erklären.

Hanzeer ist es nicht gewohnt, untätig herumzusitzen. Er fühlt sich nutzlos. Er würde gerne arbeiten, damit ihm nicht ständig düstere Gedanken im Kopf kreisen. Doch ohne einen positiven Asylbescheid darf er das nicht.

Hanzeer träumt davon, als Übersetzer für eine Asylorganisation zu arbeiten. Er weiss nun, was es bedeutet, hilfloser Bittsteller zu sein. Er will anderen helfen. Er könnte auch für eine Menschenrechtsorganisation oder für das Rote Kreuz arbeiten. Aus einem Täter soll einer werden, der Opfern hilft.

Seit Hanzeers Flucht hat sich die politische Lage in Sri Lanka verändert. Die Rajapaksas haben das Vertrauen der Sri Lanker verloren. Präsident Gotabaya sah sich nach einem grossen Volksaufstand im Juli 2022 gezwungen zurückzutreten. Doch sein Nachfolger, Ranil Wickremesinghe, ist auf die Unterstützung von Rajapaksas Partei im Parlament angewiesen und tut nichts, um die Vergangenheit aufzuarbeiten. In der Armee und im Geheimdienst sitzen noch immer viele Vertraute von Gotabaya. Suresh Sallay bleibt Chefspion, Pillayan amtiert weiter als Minister, und der aufrechte Ex-Polizeichef Shani Abeysekara kann das Land bis heute nicht verlassen.

Gibt es Momente, in denen Hanzeer bereut, ausgestiegen zu sein? Hätte er weiter geschwiegen, würde er noch in einem Haus mit Swimmingpool leben. Seine Kinder wären nicht zu Flüchtlingen geworden, wie er damals im Bürgerkrieg. Und was zählt die Wahrheit, wenn sie keiner hören will?

«Nein, nein, nein», Hanzeer will nicht zurück. Er habe gebrochen mit dem alten Leben, sei endlich auf dem richtigen Weg. «Ich war Teil von etwas sehr Bösem, dafür will ich Busse tun. Ich kann die Anschläge nicht ungeschehen machen, aber ich will dafür sorgen, dass Gerechtigkeit geschieht», sagt er. Die mächtigen Hintermänner sollen nicht ungestraft davonkommen. Die Welt soll erfahren, wie viel Blut an ihren Händen klebt.

Das ist der Grund, weshalb mir Hanzeer seine Geschichte erzählt. Er will, dass sie endlich publik wird. Ende 2023 ist bereits ein Dokumentarfilm des britischen Fernsehsenders Channel 4 veröffentlicht worden, in dem Hanzeer und andere Zeugen aussagen, hohe Armeeoffiziere hätten die Osteranschläge orchestriert. In den sri-lankischen Medien hat der Film für Aufregung gesorgt, auch im Parlament kam es zu einer hitzigen Debatte. Das Verteidigungsministerium hat die darin erhobenen Vorwürfe vehement zurückgewiesen. Offizielle Stellen beharren bis heute auf der These, die Anschläge seien vom Islamischen Staat geplant worden. Konkrete Beweise dafür haben sie keine vorgelegt. Unsere Anfrage um eine Stellungnahme der Regierung zu Hanzeers Vorwürfen wurde nicht beantwortet.

Hanzeer sagt, unter der gegenwärtigen Regierung sei eine glaubwürdige Aufarbeitung der Ereignisse nicht möglich. Dafür brauche es neue Leute an der Staatsspitze. Das Volk müsse Gotabaya Rajapaksa und seine Leute endgültig davonjagen. Wenn es das dunkle Geheimnis der Osteranschläge kenne, werde es dies auch tun.

Doch glaubt Hanzeer wirklich noch an Schuld und Sühne? Und an Gerechtigkeit? «Ich will die Hoffnung nicht aufgeben. Sonst wäre alles umsonst gewesen», sagt er. Was Hanzeer bereut: dass er auf die Schweiz gesetzt und dadurch so viel Zeit vergeudet hat. Seine Hoffnung ist nun, dass die Franzosen weniger Angst haben werden als die Schweizer, sich mit den Mächtigen in Sri Lanka anzulegen.

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