Mittwoch, Oktober 30

E-Autos stehen die meiste Zeit still. Der Strom, der nicht benötigt wird, könnte ins Hausnetz eingespeist oder zur Stabilisierung des Netzes eingesetzt werden. Doch die Technologie kommt noch nicht in Fahrt.

Immer mehr Schweizerinnen und Schweizer steigen auf das E-Auto um. Im zurückliegenden Jahr hatte jeder fünfte verkaufte Neuwagen einen rein elektrischen Antrieb; das ist ein Rekordwert. 164 000 Elektrofahrzeuge sind hierzulande inzwischen registriert – und glaubt man den optimistischen Prognosen der Branche, soll der Anteil der Batterieautos bereits 2030 bei über 70 Prozent liegen.

Der Boom der Elektrofahrzeuge lässt zwar die Nachfrage nach Strom ansteigen. Doch bietet er auch die grosse Chance, das Schweizer Stromnetz entscheidend zu entlasten. Denn E-Autos sind im Grunde nichts anderes als grosse Stromspeicher auf vier Rädern. Bis zu vier oder fünf Tage lange können sie einen durchschnittlichen Haushalt mit Energie versorgen. Und meist stehen sie zu Hause oder am Arbeitsort – also dort, wo Strom verbraucht wird. Hinzu kommt, dass die mit dem Auto zurückgelegte Distanz im Durchschnitt bloss 35 Kilometern pro Tag beträgt. Mit anderen Worten: Der nicht benötigte Strom aus der Batterie könnte anderweitig verwendet werden.

E-Autos als Hausspeicher

Bidirektionales Laden heisst das Zauberwort – gemeint ist damit, dass die Batterien von Autos in beide Richtungen genutzt werden können. Seit Jahren beflügelt die Technologie die Phantasien der Energiewende-Enthusiasten. Denn setzt sie sich durch, können nicht nur Hausbesitzer mit einer Solaranlage auf dem Dach die Akkus ihrer E-Autos bei Sonnenschein aufladen, um den Strom dann nachts oder an bewölkten Tagen für den Betrieb elektrischer Geräte wie etwa der Wärmepumpe einzusetzen («vehicle to home»). Auch können E-Autos Strom ins öffentliche Netz abgeben, wenn besonders viel Energie benötigt wird oder gerade wenig Strom vorhanden ist («vehicle to grid»).

«Das Potenzial des bidirektionalen Ladens ist riesig», sagt Noah Heynen, der Chef der Solarfirma Helion, die zur Amag-Gruppe gehört. «Sind künftig grösstenteils Elektrofahrzeuge unterwegs, entsteht damit eine Speicherkapazität, die doppelt so gross ist wie die aller Pumpspeicherwerke in der Schweiz.» So werde es mit cleveren Stromtarifen und Algorithmen möglich, die unregelmässig anfallende Produktion von erneuerbarem Strom auszugleichen.

Heynen verweist auf eine Studie, welche die ETH im Auftrag von Swiss E-Mobility, Auto Schweiz und Helion verfasst hat. Diese kommt zu dem Schluss, dass die Verwendung von Elektroautos als Batterien für das Netz die Systemkosten um bis zu 6,6 Milliarden Franken senken könne. So könnten Autobatterien etwa dazu beitragen, dass keine teuren und mit fossilen Brennstoffen betriebenen Notstromaggregate eingesetzt werden müssen. Zu einem ähnlichen Ergebnis war davor auch eine Studie des Bundesamtes für Energie (BFE) gekommen. Laut dieser kann der Netzausbau je nach Ebene um schätzungsweise 25 bis 60 Prozent reduziert werden, wenn der Strom von stehenden E-Autos intelligent genutzt wird. Bidirektionales Laden könne in Zukunft einen wichtigen Beitrag zur Versorgungssicherheit leisten, so lautet das Fazit des BFE.

Doch trotz den hohen Erwartungen kommt die Technologie hierzulande noch nicht richtig in Fahrt. Gerade einmal knapp drei Prozent der E-Fahrzeuge, die auf den Schweizer Strassen rollen, können gemäss Angaben des BFE überhaupt bidirektional geladen werden – und längst nicht alle diese Fahrzeuge nutzen diese Option. Es handelt sich dabei praktisch ausnahmslos um Modelle von asiatischen Fahrzeugherstellern, während es bei den meisten anderen Herstellern bisher bei der Ankündigung geblieben ist, dass die Funktion bald freigeschaltet oder eingebaut wird.

Weit fortgeschritten sind die Pläne immerhin beim VW-Konzern. Nach Aktualisierung der Bordsoftware sollen künftig erste Modelle – darunter fallen auch solche von Skoda und Cupra – prinzipiell auch als Hausspeicher genutzt werden können. Damit könnten bald weitere 10 000 bis 15 000 Fahrzeuge, die schon im Verkehr sind, bidirektional ladefähig werden. Auch testet Volkswagen zurzeit in Schweden mit einem Partner eine Komplettlösung mit einer Speicherbatterie für Einfamilienhäuser. Allerdings ist noch unklar, in welchem Umfang und zu welchem Zeitpunkt diese Dienste in der Schweiz verfügbar sein werden.

Die unter dem Strich immer noch sehr überschaubare Auswahl an bidirektional ladefähigen Fahrzeugen sorgt für erhebliche Ernüchterung in der Strombranche. «Wir haben in unseren Branchendokumenten bereits 2016 beschrieben, wie das bidirektionale Laden umgesetzt werden kann», heisst es etwa beim Verband der Schweizer Elektrizitätsunternehmen (VSE). Doch auch acht Jahre später sei die Hardware kaum vorhanden. «Die wenigsten E-Autos sind darauf ausgerichtet, und die Ladestationen sind sehr teuer», sagt der Sprecher Julien Duc.

Wenige Modelle, teure Ladeinfrastruktur

Dabei zeigt sich, dass es selbst bei Fahrzeugmodellen, die Strom liefern können, häufig Einschränkungen gibt. So wird die Funktion bei vielen Fahrzeugmodellen – etwa bei VW – ab einem Maximum von 10 000 KWh oder 4000 Stunden automatisch und für immer deaktiviert. Hinzu kommt, dass bidirektionale Ladestationen um ein Vielfaches teurer sind als unidirektionale. Erstere kosten mit Installation mindestens 15 000 Franken, Letztere sind bereits ab einem Preis von 1000 Franken erhältlich.

Grund für diese grossen Preisunterschiede ist, dass die Batterien eines Elektrofahrzeugs Gleichstrom nutzen und speichern. Aus dem Stromnetz fliesst allerdings Wechselstrom. Möchte man den im E-Auto gespeicherten Strom im Haus verwenden oder ins Stromnetz zurückladen, muss er erst zu Wechselstrom werden. Doch diese Umwandlung durch einen integrierten Wechselrichter ist sehr kostspielig.

Entsprechend gross ist die Zurückhaltung bei den Energieversorgern. «Die meisten Eigenheimbesitzer sind noch nicht bereit, in diese Technologie zu investieren», sagt der BKW-Sprecher Markus Ehinger-Camenisch. Ein Markteintritt der BKW ergebe deshalb keinen Sinn. Man beobachte den Markt aber.

Ähnliche Töne schlägt das EWZ an. Zwar steht es Hausbesitzern mit PV-Anlage im Versorgungsgebiet offen, den tagsüber gespeicherten Strom ins private Stromnetz abzugeben. Bis E-Autos den Strom aus der Batterie ins öffentliche Stromnetz einspeisen können, dürfte es jedoch noch eine Weile dauern. «In näherer Zukunft planen wir kein entsprechendes Produktangebot für unsere Privatkunden», sagt der EWZ-Sprecher Harry Graf.

Modellrechnungen der EWZ zeigen, dass die möglichen Erlöse pro Monat für die Privatkunden bei einer Rückspeisung ins Netz im tiefen zweistelligen Frankenbereich liegen würden. Angesichts der horrenden Zusatzkosten, die für das Fahrzeug und die Ladeinfrastruktur anfallen, würde sich das (noch) nicht rechnen.

Netzgebühren sollen wegfallen

Es fehle gegenwärtig ein Geschäftsmodell, das es den Fahrzeugbesitzern ermögliche, dass sich ihre Investition lohne, bilanziert denn auch das BFE. Mit dem Energie-Mantelerlass, über den das Stimmvolk voraussichtlich im Juni entscheiden wird, sind nun allerdings erste Schritte erfolgt, um das bidirektionale Laden attraktiver zu machen.

So soll der Strom, der aus Fahrzeugbatterien zurückfliesst, künftig von den Netznutzungstarifen befreit werden, die beim Laden anfielen. Dies würde es erlauben, dass sich die Speicher von E-Fahrzeugen mit gleich langen Spiessen vermarkten lassen wie etwa Pumpspeicherkraftwerke, die ebenfalls vom Netzentgelt befreit sind. Noch müssen allerdings einige wichtige Details geklärt werden. Wenn ein Elektroauto Strom zurück ins Netz speist, ist zum Beispiel nicht klar, zu welchem Tarif die Energie zuvor geladen wurde und wie viel zurückerstattet werden muss. Ebenfalls gibt es noch offene Fragen, welche die Messung der Stromflüsse und die Datensicherheit betreffen. Es handle sich dabei jedoch nicht um unüberwindbare Hürden, heisst es beim VSE.

Trotzdem rechnet derzeit kaum jemand damit, dass der Durchbruch der neuen Technologie unmittelbar bevorsteht, erst recht nicht die Automobilbranche. «Auf den Powerpoint-Präsentationen funktioniert das bidirektionale Laden tadellos», sagt Andreas Burgener, Direktor von Auto Schweiz, «da können wir mit dieser Technologie alle Netzprobleme aus der Welt schaffen und die Energiewende retten.» In der Praxis jedoch zeige sich ein anderes Bild. Um der E-Mobilität zusätzlichen Schub zu verleihen, müssten zuerst andere Probleme gelöst werden: «Wir müssen erst einmal dafür sorgen, dass die Mieter und Stockwerkeigentümer ihre E-Autos überhaupt laden können.»

Letztlich werden laut Burgener die Kosten darüber entscheiden, ob die Nutzung der Autobatterie als Hausspeicher massentauglich wird. Derzeit seien die wenigsten Fahrzeugbesitzer bereit, den Aufpreis für das bidirektionale Laden zu bezahlen, sagt er. Werde die Technologie günstiger, könnte sich dies allerdings rasch ändern.

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