Donnerstag, Januar 16

Die Hoffnungen sind gross, dass der zerstörerische Krieg im Nahen Osten ein definitives Ende findet. Doch noch ist unklar, ob die Vereinbarung tatsächlich in Kraft tritt.

«Keiner hat etwas gewonnen – und nichts wird sich ändern, wenn die Hamas an der Macht bleibt.» Immer wieder schaut die junge Palästinenserin aus dem Gazastreifen am Mittwochabend in einem Restaurant in Kairos Innenstadt auf ihr Handy. So wie Zehntausende Bewohner der Enklave ist sie in den ersten Kriegsmonaten in die ägyptische Hauptstadt geflohen. Als wenige Minuten später der Waffenstillstand zwischen Israel und der Hamas verkündet wird, ist ihre Freude von Zukunftsangst getrübt.

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Ohnehin geht das Bangen am Donnerstag weiter: Am Vormittag verkündete das Büro von Ministerpräsident Netanyahu, die Hamas sei von einigen Abmachungen zurückgetreten und verursache in letzter Minute eine «Krise». Solange die Hamas das Abkommen nicht vollumfänglich akzeptiere, werde das israelische Kabinett dieses nicht bewilligen. Die für 11 Uhr angesetzte Kabinettssitzung wurde auf unbestimmte Zeit verschoben. Die Hamas sprach am Donnerstagmorgen ihrerseits von «haltlosen Behauptungen».

Laut Medienberichten wurde die Sitzung des Kabinetts allerdings auch deshalb verschoben, weil der rechtsextreme Finanzminister noch nicht klargestellt hat, ob seine Partei die Regierung aus Protest gegen das Abkommen verlassen wird. Er verlangt offenbar verbindliche Zusagen, dass der Krieg nach der ersten Phase wieder aufgenommen wird. Steigt Smotrich aus, könnte Netanyahus Koalition theoretisch platzen. So ist nicht ausgeschlossen, dass die vereinbarte Waffenruhe auf den letzten Metern scheitert.

Kein Sieg für Israel oder die Hamas

Sollte das Abkommen aber in Kraft treten, wird der längste Krieg in Israels Geschichte bald ein vorläufiges Ende finden. Im jüdischen Staat herrscht eine angespannte Hoffnung auf die baldige Heimkehr von zunächst 33 Geiseln. Für die Palästinenser bedeutete die Feuerpause eine Befreiung von allgegenwärtigem Tod, Zerstörung und Leid. Ob das Abkommen tatsächlich zu Frieden führen kann, ist aber zweifelhaft. Zunächst haben sich die Kriegsparteien nur auf eine erste Phase geeinigt, die eine sechswöchige Feuerpause vorsieht. In dieser Zeit soll über eine zweite Phase verhandelt werden, die zu einem endgültigen Kriegsende führen soll.

Selbst wenn Israel und die Hamas ein permanentes Ende der Kämpfe vereinbaren, dürfte sich am grundlegenden Konflikt zwischen Israel und den Islamisten im Gazastreifen nur wenig ändern. Weder die Hamas noch der jüdische Staat können einen Sieg nach diesem Krieg verkünden, der fast 2000 Israeli und Zehntausende Palästinenser das Leben gekostet hat.

Israel lässt sich voraussichtlich auf eine Vereinbarung ein, die Ministerpräsident Benjamin Netanyahu noch vor wenigen Monaten als «gefährlich» gebrandmarkt hatte. Im Wesentlichen beruht das Abkommen auf jenem dreistufigen Plan, den der US-Präsident Joe Biden schon im Mai 2024 vorgeschlagen hatte. Die Verhandlungen scheiterten damals, da Israel neue Bedingungen stellte – etwa die vollständige Kontrolle über die Grenze zwischen Ägypten und dem Gazastreifen. Dies konnte Netanyahu schliesslich nicht durchsetzen.

Dazu kommt, dass Israel wohl nicht alle seiner offiziellen Kriegsziele erreichen kann. Während zwar die Geiseln freikommen werden, falls sich die Kriegsparteien nach sechs Wochen auch auf eine zweite Phase einigen, ist die militärisch extrem geschwächte Hamas nicht zerstört. Selbst der längste Gaza-Krieg aller Zeiten konnte die palästinensische Terrororganisation nicht in die Knie zwingen.

Die Hamas wird den Waffenstillstand ihrerseits als Sieg verkaufen, was angesichts des von ihr verschuldeten Massensterbens in Gaza an Zynismus kaum zu überbieten ist. Schon wenige Minuten nachdem die Feuerpause verkündet worden war, wurden in den sozialen Netzwerken Videos geteilt, die feiernde Hamas-Kämpfer auf den Strassen Gazas zeigten.

Doch nach fünfzehn Monaten Krieg ist die Führungsriege der Terrororganisation dezimiert, von Gaza sind nur Ruinen übrig, und Israels regionale Abschreckung ist stärker als vor dem 7. Oktober 2023. Die Hamas könnte sogar Territorium verlieren, falls Israels Soldaten in der Pufferzone an den Grenzen des Gazastreifens verbleiben. Über tausend palästinensische Gefangene werden wohl als Teil des Abkommens freikommen. Viele von ihnen werden aber ins Exil gehen müssen. Ein Sieg sieht anders aus.

Eins ist dennoch unbestreitbar: Vorerst wird das Abkommen das Überleben der Hamas sichern, die wohl mit allen Mitteln versuchen wird, an der Macht zu bleiben. Gelingt ihr das, droht dem Gazastreifen eher früher als später ein neuer Krieg.

Der «X-Faktor» Trump

Die Frage stellt sich: Warum ist ausgerechnet jetzt dieses Abkommen zustande gekommen – zumal es in weiten Teilen jenem Plan entspricht, der bereits vor Monaten auf dem Tisch lag?

Drei Faktoren scheinen den Ausschlag gegeben zu haben: Erstens steht die Hamas isolierter da denn je. Seit dem Waffenstillstand zwischen Israel und dem Hizbullah erhält sie etwa keine Schützenhilfe der libanesischen Schiitenmiliz mehr. Auch andere Akteure aus der iranisch geführten «Achse des Widerstands» sind kaum mehr in der Lage, die Hamas zu unterstützen und Israel unter Druck zu setzen. Der sporadische Raketenbeschuss durch die Huthi aus Jemen wirkt fast schon hilflos. Die Hamas, die seit Monaten nur noch zu Guerilla-Aktionen fähig ist, scheint eingesehen zu haben, dass sie nicht mehr viel zu gewinnen hat.

Zweitens hat in Israel der Druck auf Netanyahu, einem Abkommen zuzustimmen, weiter zugenommen. Umfragen zeigten jüngst, dass sich mehr als 70 Prozent der Israeli für eine Einigung mit der Hamas aussprechen. Auch die Militärführung hat in den vergangenen Wochen auf Netanyahu eingewirkt, den diplomatischen Weg zu verfolgen. Aus Sicht der Armee lässt sich im Gazastreifen militärisch nicht mehr viel erreichen. Seit Monaten liefert sie sich im Norden der Enklave ein zerstörerisches Katz-und-Maus-Spiel mit der Hamas, ohne dass sie dem Ziel, die Terrororganisation endgültig zu zerschlagen, viel näher gekommen wäre.

Drittens dürfte der «Trump-Effekt» entscheidend gewesen sein. «Die Wahl von Donald Trump war der X-Faktor in den Verhandlungen», sagt Avi Kalo, der ehemalige Chef der Abteilung für vermisste Personen im israelischen Militärgeheimdienst. Mehrfach hatte Trump der Hamas damit gedroht, dass «die Hölle losbrechen» werde, wenn die Geiseln bei seinem Amtsantritt am 20. Januar noch nicht befreit seien – wobei unklar blieb, was das genau bedeuten würde.

Offenbar hat Trump aber auch massiven Druck auf die israelische Regierung ausgeübt. Wie die «Times of Israel» berichtet, erfolgte ein Durchbruch in den Verhandlungen nach einem «angespannten» Treffen zwischen Netanyahu und Steve Witkoff, dem designierten Nahost-Gesandten der Trump-Regierung. Witkoff, obwohl noch nicht offiziell im Amt, hatte jüngst auch den Verhandlungen in Katar beigewohnt und dabei eng mit dem Team des scheidenden Präsidenten Joe Biden zusammengearbeitet.

Kein Ende des Konflikts

Der Oberstleutnant Avi Kalo geht davon aus, dass der Erfolg des Waffenstillstands «im genuinen Interesse der Trump-Regierung ist». Der Experte für Geiselverhandlungen gesteht ein, dass das Abkommen noch scheitern könnte. Doch es sei davon auszugehen, dass die neue US-Regierung den Druck aufrechterhalten werde, damit beide Seiten ihren Teil der Übereinkunft erfüllten.

Die dritte und letzte Phase des Abkommens sieht einen Plan zum Wiederaufbau des völlig zerstörten Gazastreifens sowie für eine Nachkriegsordnung vor. Wie diese aussieht, ist immer noch vollkommen unklar. Wer künftig anstelle der Hamas in Gaza die Macht ausübt, lässt das Abkommen offen. Das Töten hätte zwar ein Ende – der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern allerdings noch lange nicht.

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