Gemeinden, Kantone und der Bund geben jährlich rund 2,6 Milliarden Franken für die Kulturpolitik aus – und produzieren damit ein Überangebot für ein schrumpfendes Publikum. Wie die Schweiz ihre Kultur zielgerichteter fördern könnte.

«Auch Schlafen ist eine Form der Kritik, vor allem im Theater», meinte einst George Bernard Shaw. Der irische Dramatiker war vor rund hundert Jahren für pointierte Aussagen bekannt. Heute zielt sein Spruch jedoch ins Leere – und zwar sprichwörtlich. Denn die auffälligste Kritik ist nicht mehr das Schlafen im Theater, sondern das Fernbleiben. Das zeigt exemplarisch die Entwicklung beim Schauspielhaus Zürich, dessen Publikumssaal über die Zeit immer leerer geworden ist.

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So zählte das Schauspielhaus Zürich vor dreissig Jahren gut 182 000 Zuschauer. In der Spielzeit 2023/24 waren es noch knapp 95 000. Die Zuschauerzahlen haben sich also beinahe halbiert. Auch die Auslastung ist eingebrochen. Diese lag in der vergangenen Spielzeit bei 53 Prozent – fast jeder zweite Platz blieb leer. Woran liegt diese Entwicklung? Eines ist klar: nicht an zu wenig Fördergeldern.

Zu viele Produktionen für zu wenig Publikum

Die öffentliche Förderung des Schauspielhauses Zürich hat sich über die vergangenen 30 Jahre von gut 21 auf rund 40 Millionen Franken knapp verdoppelt. Das Verhältnis von Vorstellungseinnahmen zu Subventionen beträgt mittlerweile 1 zu 12 – für jeden Franken an Ticketverkäufen fliessen zwölf Franken an Steuergeldern in den Betrieb. Natürlich ist das Schauspielhaus nur eine Kulturinstitution von vielen. Doch auch schweizweit geht die Entwicklung in die gleiche Richtung.

Seit den 1990er Jahren sind die öffentlichen Ausgaben für Kultur inflationsbereinigt um fast 60 Prozent gestiegen. Heute geben Gemeinden, Kantone und der Bund jährlich rund 2,6 Milliarden Franken für die Kulturpolitik aus – das entspricht fast der Hälfte der Ausgaben für die Landesverteidigung. An mangelnder Finanzierung leidet die Kultur in der Schweiz keineswegs. Vielmehr dürfte der starke Ausbau der Subventionen zu einem Überangebot geführt haben.

So hat etwa die Zahl der Erwerbspersonen in «kulturellen Berufen im Kultursektor» zwischen 2010 und 2019 um über 40 Prozent auf etwa 87 000 Personen zugenommen – das Wachstum war fast viermal so hoch wie in der Gesamtwirtschaft. Mit dem entsprechenden Angebot hält die Nachfrage nicht Schritt. Schon vor drei Jahren sagte Philippe Bischof, der Direktor von Pro Helvetia: «Heute gibt es in Bereichen wie dem Theater, der Musik oder der visuellen Kunst zu viele Produktionen für ein zu kleines Publikum.»

Dieses Problem wird durch die Digitalisierung und Globalisierung verstärkt. Musik, Filme, aber auch die bildende Kunst erreichen heute weltweit ihr Publikum – die Erfolgreichsten bekommen dabei überproportional viel Aufmerksamkeit. Institutionen wie das Schauspielhaus bleiben hingegen im Kern lokal: Sie spielen für ein physisch anwesendes Publikum und sind entsprechend in ihrer Reichweite eingeschränkt.

Multifunktionale Infrastruktur fördern, Gutscheine verteilen

Vor diesem Hintergrund gilt es, die Ziele der Kulturpolitik neu zu setzen. Keine staatliche Förderung braucht es im Bereich der globalen Stars, diese können sich selbst finanzieren. Hat die Politik jedoch die Bereitstellung eines lokalen Kulturangebots zum Ziel, muss sie die Förderung überdenken. Sonst verpuffen die Subventionen zunehmend im leeren Theatersaal. Zwei Punkte sollten bei einer solchen Reform beachtet werden.

Erstens gilt es, primär Infrastrukturen direkt zu fördern – also multifunktionale Orte, die für verschiedene Kunstformen genutzt werden können und als regionale Kultur-Knotenpunkte dienen. Der Zugang zu diesen Infrastrukturen sollte unbürokratisch und apolitisch gestaltet sein. Das schafft nicht nur die nötige Distanz zur Politik, sondern eröffnet auch unbekannten Kunstschaffenden neue Möglichkeiten, was Vielfalt und Kreativität auf lokaler Ebene sicherstellt.

Zweitens sollten die eigentlichen Angebote, die auf diesen Infrastrukturen aufbauen können, indirekt gefördert werden. Dabei könnte man ein Modell prüfen, bei dem die Subventionen in Form von Kulturgutscheinen direkt an die Bürgerinnen und Bürger verteilt werden. Wie heute bedingte das eine Auswahl der akzeptierten und damit indirekt geförderten Angebote. Die Gutscheine würden jedoch das Bewusstsein für das Kulturangebot in der Bevölkerung erhöhen, und die Nutzung würde neu Teil der Förderung werden.

Eine solche Kulturpolitik hätte das Potenzial, die Rezeption des kulturellen Angebots in der Breite zu stärken. Gerade das ist entscheidend, wenn Kultur(-förderung) künftig mehr gesellschaftliche Wirkung entfalten soll. Es reicht nicht, ausgewählte Angebote mit Millionen von Franken zu subventionieren, wenn sie kaum jemand wahrnimmt. Hier besteht heute offensichtlich Handlungsbedarf. Eine Reform der Kulturpolitik tut not – bevor das kritische Schnarchen im Publikum vollends der Stille weicht.

Jürg Müller ist Direktor des liberalen Think-Tanks Avenir Suisse.

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