Freitag, Oktober 11


Reise-Tipp

Wer sich für moderne Kulinarik interessiert, sollte die katalanische Küstenstadt Roses wieder auf seine Liste der Reiseziele nehmen. Das Restaurant El Bullí, von dem aus Ferrán Adriá die gastronomische Welt veränderte, wurde als Museum El Bullí 1846 neu eröffnet.

Riesenskulpturen aus Stahl oxidieren nobel unter der katalanischen Sonne, gläserne Stelen listen reihenweise Köche auf, die hier in der Bucht Cala Montjoi klein anfingen und weltweit gross herauskamen: So stimmt man die Besucher des Museums El Bullí 1846 ausserhalb von Roses, zwei Autostunden östlich von Barcelona, auf die bevorstehende Erfahrung ein. Von dieser Bucht an der Costa Brava, genauer vom 2011 geschlossenen, weltbekannten Sterne-Restaurant El Bullí, ging vor rund 30 Jahren eine Neudefinition der globalen Kulinarik aus.

Ferrán Adriá, dem einstigen Küchenchef des El Bullí und heutigen Vordenker der weltweiten Kulinarikszene ging es nicht darum, der Öffentlichkeit sein mumifiziertes Restaurant zu präsentieren. Vielmehr wurde seit der Schliessung radikal über den Prozess des Erfindens und dessen Rolle in der Küche nachgedacht. Die Forschungsergebnisse wurden anschliessend aufwendig visualisiert, und entsprechend dem leicht megalomanischen Charakter Adriás entstand dabei eine Methodologie des Kreativprozesses. Der Name: Sapiens.

Neue Herangehensweise an Essen

Ferrán Adrià, Jahrgang 1962, kam als vor Ehrgeiz brennender Jungkoch 1983 in Roses an. Das Lokal gehörte noch dem Berliner Homöopathie-Arzt Hans Schilling und seiner Ehefrau Marketta. Die beiden hatten sich in den frühen 1950er Jahren des letzten Jahrhunderts in die Cala Montjoi verliebt und dort zunächst eine Minigolfstrecke mit Strandbar, später ein Restaurant eröffnet. Es hiess «El Bullí», weil die Frau des Hauses eine Liebhaberin der grimmig dreinschauenden Hunderasse war.

Das Lokal war schon vor dem Auftritt Adriás mit zwei Michelin-Sternen ausgezeichnet. Nachdem er das Ruder übernommen hatte, ging das Restaurant durch eine Krise, weil die Ideen des heutigen Kreativgurus sich den wenigsten Gästen erschlossen. Doch ab etwa 1998 begannen Esskulturfreaks aus Spanien, dann aus der ganzen Welt in Scharen nach Roses zu pilgern, um zu erleben, was Ferrán Adriás Kreativität im Kopf der Gourmets auslöste und was viele als totale Neusortierung ihrer kulinarischen Empfindungsbibliothek – sein Stil wurde gern als Molekularküche bezeichnet – beschrieben.

Lediglich rund 250 000 Personen hatten letztlich das Privileg, im «El Bullí» zu essen – sie waren der Hebel, mit denen Kataloniens Kulinarik-Monument die Welt aus den Angeln hob.

In diesen Jahren fieberhafter Aktivität wurden zahlreiche neue Zubereitungsarten und -konzepte wie die Dekonstruktion, die Sphärifikation, das warme Gelee oder die «salzige Süssigkeit» erfunden und auf immer neue, spektakuläre Weisen zu weit über zwanziggängigen Degustationsmenus kombiniert. Dabei fand Adriá heraus, dass Kreativität als Arbeitsmethode und nicht als flüchtige Gabe zu verstehen ist. Im Zug der Arbeit erforschten er und sein Team, wie sie jeweils zu ihren neuen Ideen kamen.

Ihr Ziel war kein geringeres als die Systematisierung der Kreativität, das Ausschalten des Faktors Zufall. Gesamthaft entstand während der «Bullí»-Epoche die schwindellerregende Anzahl von 1846 bis ins Detail ausgefeilten, originären Gerichten, die Methoden und Kreationen sind zu einem grossen Teil nachvollziehbar dokumentiert.

Die Zahl im Namen des Museums hat jedoch natürlich wie so vieles hier eine zweite Bedeutung: 1846 ist auch das Geburtsjahr von Auguste Escoffier, Adriás Vorbild als Systematiker der Kulinarik. Kein Wunder, gibt Adriás in Barcelona ansässige Stiftung in Zusammenarbeit mit dem Phaidon-Verlag eine ans monströse grenzende Lebensmittel-Enzyklopädie namens «Bullípedia» heraus – allein dem Wein sind bisher acht Volumen gewidmet.

Wie zur aktiven Zeit des Restaurants etabliert, tragen zahlreiche wissenschaftliche und kreative Bereiche zu dieser Forschungsarbeit bei, weshalb im Museum den interdisziplinären Beziehungen Adriás ein wichtiger Raum gewidmet ist. Die Stahlskulpturen mit ausgelaserten Stichworten zur Sapiens-Methodenkunde wie auch die ausführenden Texte auf der Website wirken etwas pompös, und man wird Adriás Gedankenwelt am Ende selbst kaum vollumfänglich erfassen.

Möglicherweise ist «El Bullí» 1846 auch ein Denkmal der Zeiten, in denen Produkte aus dem Mittelmeer und den Bergen Kataloniens noch in absoluten Topqualitäten verfügbar waren – Klimawandel , Umweltverschmutzung und Übernutzung von Beständen, aber auch die zahlenmässige Zunahme von Gourmets haben die Epoche der Sorglosigkeit in dieser Hinsicht beendet. Wohl mit ein Grund dafür, dass über dem Bullí-Museum ein gewisses Air der Melancholie schwebt.

Landkarte zu einem ruhelosen Geist

Dennoch ist das Museum wie eine Landkarte zu einem Geist, der sich der Freude am Kreieren und dem Ehrgeiz, niemals zu kopieren, geradezu aufopferungsvoll hingab. Genau deshalb ist ein Besuch für Leute auch ohne gastronomischen Background aufschlussreich. Wer sich dazu entscheidet, sollte aber an die Verpflegung denken – es gibt in der Cala Montjoi heute kein reguläres Restaurant mehr, sondern nur einen Xiringuito, wie Strandbars in Katalonien heissen. Im rund 20 Busminuten entfernten Städtchen Roses kann man ordentlich essen, und wahre Anhänger des Ferrán-Kultes werden versuchen, im Rafa’s am Carrer Sant Sebastián einen Platz zu bekommen.

Der Begriff Sapiens für Adriás übergreifende Methodenkunde der Kreativität ist natürlich bewusst vieldeutig gewählt. Das lateinische Wort Sapere bedeutet ursprünglich gleichermassen «Schmecken» wie «Wissen», der italienische Philosoph Giorgio Agamben widmete dem Wortfeld 1979 einen längeren Text und notierte, dass das Geniessen im Erkennen verlorengegangen sei, weil Schmecken und Wissen getrennt wurden.

Für Ferrán Adriá bedeutete Sapiens seit je, dass der Mensch die Welt am gründlichsten und am tiefgründigsten durch den Geschmack erfährt. Es ist kein Zufall, dass die letzte, heute museumsreife Revolution der Kulinarik von Spanien ausging, wo es eine Redensart gibt, die einen Menschen mit Ehrgeiz und Schaffenslust treffend umschreibt: «Tiene ganas de comerse el mundo», er hat Lust, die ganze Welt aufzuessen.

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