Für Italienerinnen und Italiener, die beruflich etwas erreichen und sich entwickeln wollen, bleibt oft nur die Auswanderung. Der Staat hat das Problem lange ignoriert. Jetzt versucht er, den Trend zu brechen.
Ein Land ruft nach Fachkräften, aber es kommen keine (zurück). Eines der drängendsten Probleme Italiens ist die Emigration von besonders qualifizierten Personen ins Ausland: Der «Braindrain», wie man auf Neudeutsch sagt, die «fuga dei cervelli», wie sie es in Italien nennen, die Flucht der Hirne.
Kumuliert sind im Zeitraum von 2012 bis 2022 mehr als 600 000 Personen ausgewandert. Besonders hoch ist dabei der Anteil der jungen Akademiker. Zwischen 2012 und 2021 haben 120 000 Hochschulabsolventinnen und -absolventen im Alter zwischen 25 und 34 Jahren das Land verlassen, nur gerade 41 000 von ihnen sind in diesem Zeitraum wieder zurückgekehrt, wie der Migrationsforscher Matteo Villa errechnet hat.
Von drei Auswanderern dieser Kategorie bleiben also zwei im Ausland. «Der Trend ist ungebrochen», sagt Villa, Co-Leiter des Data-Lab am Ispi in Mailand, einer auf internationale Angelegenheiten spezialisierten italienischen Denkfabrik. Das Land verliert viele seiner besten Köpfe – Menschen, die es eigentlich dringend benötigen würde, um Staat und Wirtschaft voranzubringen und das riesige Potenzial, über welches Italien ökonomisch verfügt, besser ausschöpfen zu können.
Lieber lamentieren sie über die Immigration
Einer davon ist der 37-jährige Marco Baity Jesi. Er hat an der Römer Universität La Sapienza theoretische Physik studiert und sich später in Spanien, Frankreich und in den USA weitergebildet. Seit 2019 leitet er an der Eawag, dem Wasserforschungsinstitut des ETH-Bereichs, die Gruppe für maschinelles Lernen und komplexe Systeme, die sich mit Problemen im Zusammenhang mit Wasserqualität und Ökologie beschäftigt.
«Ich bin ausgewandert, weil ich etwas über die Welt lernen, Erfahrungen im Ausland sammeln und mich weiterentwickeln wollte. Für mich stand fest, dass ich zurückkommen würde. Ich glaube, das ist bei fast jedem so», sagt Baity Jesi. Dann habe er festgestellt, dass das Leben in der Schweiz einfacher sei. «Es gibt hier kein dysfunktionales und erdrückendes bürokratisches System.» Ausserdem habe man ihm in der Schweiz schliesslich einen sicheren Job angeboten, in Italien nicht.
In Italien ist das Problem erkannt, aber es läuft meist unter dem Radar der Politik. Lieber polemisieren die Parteien über die Folgen der Immigration. Die Bilder vom Elend der Mittelmeer-Migranten auf ihren prekären Schiffen und in den überfüllten Aufnahmezentren prägen die Debatte und vermitteln das Gefühl, Italien werde von Zuwanderern gleichsam überrannt.
Dabei bleibt der Ausländeranteil in Italien seit Jahren ziemlich stabil – selbst wenn in den vergangenen zehn Jahren mehr als eine Million Menschen in Italien gelandet sind. Matteo Villa hält fest: «Seit einem Jahrzehnt wächst die ausländische Bevölkerung in Italien nicht mehr.» Für viele Migranten ist Italien nur eine Durchgangsstation auf dem Weg nach Norden.
⛔️🇮🇹 Migranti: l’invasione che non c’è.
Negli ultimi dieci anni in Italia sono sbarcate più di un milione di persone.
Ma anche oggi certifichiamo una situazione che conosciamo da tempo: da un decennio, la popolazione straniera in Italia NON cresce.
Buona invasione a tutti. ❤️ pic.twitter.com/mAYGUjY1Xy
— Matteo Villa (@emmevilla) February 15, 2024
Doch manchmal schafft es auch die «fuga dei cervelli» in die Schlagzeilen. Bei der letzten «manovra» etwa, der alljährlichen Schlacht um den Staatshaushalt, welche Regierung und Parlament jeweils während Wochen im Herbst heimsucht wie eine biblische Plage, rumorte es ein bisschen.
Fussballvereine protestieren
Als die Regierung Meloni nämlich ankündigte, angesichts knapper Mittel die Steueranreize für Rückkehrer und qualifizierte Ausländer etwas zurückzufahren, kam es zu Protesten. Am auffälligsten (und einfachsten zu durchschauen) waren jene der Fussballvereine, welche um die Privilegien ihrer ausländischen Stars bangten. Doch auch der «Gruppo Rientro Italia», eine Vereinigung, die die Interessen von Rückkehrern vertritt, meldete sich zu Wort und lancierte eine Online-Petition. Mehr als 8000 Unterzeichnende forderten die Regierung auf, günstigere Regelungen für den Übergang vom alten zum neuen Regime zu erlassen.
Dabei ist das Angebot nach wie vor sehr komfortabel. Wer seinen steuerlichen Wohnsitz aus dem Ausland nach Italien verlegt, geniesst auch 2024 noch einen starken Steuervorteil: Nur 50 Prozent des Einkommens werden besteuert. Die Begünstigung gelte für diejenigen, die zuvor mindestens drei Jahre im Ausland gelebt hätten und sich verpflichteten, ihren Wohnsitz für mindestens fünf Jahre in Italien beizubehalten, erklärt Sergio Sirabella, ein Spezialist für internationales Steuerrecht in Rom. Die Arbeit muss überwiegend in Italien ausgeübt werden, und der Arbeitnehmer muss besondere Qualifikationen oder Spezialisierungen nachweisen können, weshalb es für Spieler von Profi-Fussballvereinen schwierig ist, sich zu bewerben. Auf diese Weise hofft der Staat wirklich qualifizierte Arbeitnehmer zur Rückkehr zu bewegen und den Braindrain zu stoppen.
Bis 2023 waren diese Regeln noch grosszügiger: Es wurden nur 30 Prozent des Einkommens besteuert; ausserdem genügte es, zuvor zwei Jahre im Ausland verbracht zu haben. Das hatte laut Sirabella dazu geführt, dass einige Firmen ihre Mitarbeiter eigens für diese Dauer ins Ausland schickten, damit diese von der Vorzugsbehandlung profitierten. Dies wiederum ermöglichte es den Arbeitgebern, Lohnerhöhungen zu umgehen. Um dieses Verhalten einzudämmen, hat die Regierung in der neuen Regelung weitere Restriktionen eingebaut.
Frustrierte Forscher
Für junge Forscher wie Baity Jesi spielen solche Regelungen eine untergeordnete Rolle. «Fast alle Akademiker im Ausland, die ich kenne, könnten in der Privatwirtschaft arbeiten und viel mehr verdienen. Es ist nicht der wirtschaftliche Anreiz, der sie antreibt. Was sie motiviert, ist vielmehr ein anregendes akademisches Umfeld und die Möglichkeit, unter fähigen Menschen zu sein.» Steuerliche Vorteile zögen demgegenüber nur neue Ungerechtigkeiten, Verzerrungen und Neid nach sich.
Das Problem des Landes sei nicht, dass es die Italiener ins Ausland ziehe, sondern dass niemand nach Italien gehen wolle. Wenn man dies ändern wolle, brauche es für junge Akademiker andere Anreize: die Aussicht auf einen unbefristeten Arbeitsvertrag etwa, aber auch genügend Mittel für die Forschung.
Etwas anders sieht es in der Privatwirtschaft aus. Hier hat sich laut einer im letzten Herbst vorgestellten Umfrage unter 400 gut qualifizierten jungen Rückkehrern deutlich gezeigt, dass die steuerlichen Anreize eine wesentliche Rolle für den Entscheid gespielt haben, sich wieder in Italien niederzulassen – eine deutlich stärkere Tendenz als bei Wissenschaftern und Professoren.
Er kenne einige Rückkehrer, sagt Baity Jesi, «alles sehr fähige Forscher. Sie nutzen zwar ihre im Ausland gesammelten Erfahrungen, arbeiten aber in Italien weit unter ihren Möglichkeiten». Viele seien frustriert.
Als Italiens Staatspräsident Sergio Mattarella anlässlich seiner Visite in der Schweiz im November 2022 auch die ETH in Zürich besuchte, versprach er, das Thema auf die Tagesordnung zu setzen. «Italien will sich bemühen, unseren jungen Menschen die Wahl zu erleichtern und ihnen konkrete Perspektiven zu bieten», sagte Mattarella. Doch der Weg dorthin ist weit und steinig. Mit Steueranreizen allein ist es nicht getan.
So bleiben die Italiener vorerst ein Volk von Auswanderern. Immerhin: Dort, wo sie sich im Ausland niederlassen, werden sie als Bereicherung wahrgenommen, menschlich, kulturell, wissenschaftlich, wirtschaftlich, gastronomisch – als Botschafter eines reichen Landes, dem die Ausdünnung droht.