Dienstag, November 11

Die einen lieben sie, die anderen fürchten sie. Nun werden die Millionen von streunenden Hunden in der Türkei zum Gegenstand des Kulturkampfs im Land.

Sie gehören zum Stadtbild von Istanbul wie die Silhouette der Hagia Sophia oder das Spitzdach des Galata-Turms. Und bei vielen Besuchern hinterlassen sie einen ebenso bleibenden Eindruck wie die gängigeren Sehenswürdigkeiten der ewigen Stadt am Bosporus: die Hunderttausende von Vierbeinern, die auf Istanbuls Strassen leben.

Schon 1867 schrieb der Schriftsteller Mark Twain nach seinem Besuch anerkennend über die Gleichgültigkeit, die Strassenhunde selbst gegenüber dem Sultan zeigten. Istanbul hat sich seither stark verändert. Hunde und Katzen, die ganz selbstverständlich im öffentlichen Raum ihren Platz einnehmen, figurieren auf den Handyvideos unserer Zeit aber ebenso prominent wie auf den gemalten Stadtansichten des 19. Jahrhunderts.

Auf Netflix lief vor einigen Jahren ein Film über Istanbuls Strassenhunde. Ein anderer streunender Vierbeiner, Boji, wurde in den sozialen Netzwerken so berühmt, dass ihm die Stadtverwaltung sogar ein eigenes Twitter-Konto einrichtete. Später wurde Boji Gegenstand einer Kontroverse zwischen der Regierung und der Opposition. Denn Strassenhunde sind in der Türkei auch ein politisches Thema.

Wachsende Zahl von Strassenhunden

Dieser Tage wird das besonders deutlich. Ende März berichteten Medien über Pläne der Regierung von Präsident Erdogan, mit drastischen Mitteln gegen Strassenhunde vorzugehen.

Gemäss diesen Plänen sollen im ganzen Land streunende Hunde aufgegriffen, in Tierheime verbracht und nach einer Frist von dreissig Tagen eingeschläfert werden, sollten sie bis dahin nicht von ihren allfälligen Besitzern zurückgeholt oder von Dritten aufgenommen worden sein. Ein konkreter Gesetzestext liegt bis jetzt nicht vor. Doch bereits die Berichte lösten weit über Tierschutzkreise hinaus einen Sturm der Empörung aus. Mehrere Protestkundgebungen fanden statt.

Erdogan erklärte vergangene Woche an einer Fraktionssitzung den Handlungsbedarf mit der rasch zunehmenden Zahl von Strassenhunden in der Türkei. Sie führe zu immer mehr Zwischenfällen mit Menschen. Fast jeden Tag erreichten die Regierung Berichte über Angriffe von oder Unfälle mit Strassenhunden. Hinzu komme die Tollwutgefahr. Mehrere Staaten warnten ihre Bürger bei Reisen in die Türkei vor diesen Risiken. Diese Probleme, die es in keinem anderen Industrieland gebe, könne die Regierung nicht ignorieren.

Ein reales Problem

Verlässliche Zahlen zur Population von Strassenhunden gibt es nicht. Laut Erdogan geht die Regierung von vier Millionen aus. Andere Schätzungen liegen noch höher. Dass die Zahl der Streuner schnell zunimmt, ist aber weitgehend unbestritten.

Inwiefern dies als Problem angesehen wird, hängt stark von der Perspektive des Betrachters ab. Die allermeisten Tiere sind friedlich, auch weil sie gut behandelt und regelmässig gefüttert werden. Während der Lockdowns, als etwa die Essensabfälle von Restaurants als Nahrung wegfielen, gab es besonders in wohlhabenden Quartieren viele private Initiativen zur Versorgung von Strassenhunden. Menschen, die einen Streuner auf eigene Kosten zum Tierarzt bringen, sind keine Seltenheit.

Dennoch sehen viele Bürger die grosse Zahl von Streunern als Problem an. Laut Regierungsangaben ist das sogar die Mehrheit. Tatsächlich kommt es regelmässig zu Zwischenfällen, die besonders für Kinder gefährlich werden können.

Dokumentiert werden diese etwa auf dem Konto «Basibos Köpek Sorunu» («Strassenhundeproblem») auf der Plattform X. Auch die in Europa fast überall ausgerottete Tollwut ist in der Türkei immer noch eine reale Gefahr. Immerhin 30 Fälle der potenziell tödlichen Krankheit gab es in den vergangenen 20 Jahren.

Kritik von Säkularen und Islamisten

Hinzu kommt ein kulturelles Element. Als Viehhüter und Wächter sind Hunde im Islam zwar akzeptiert. Der Legende nach sollen die ersten Hunde sogar durch die osmanische Eroberung von Konstantinopel in die Stadt gelangt sein. Dennoch gelten die Tiere als unrein. Sie als enge, fast freundschaftliche Begleiter des Menschen zu behandeln, die einen Namen tragen oder sogar im selben Haus wohnen, ist bei konservativen Muslimen verpönt.

Entsprechend ist die Solidarität mit den Hunden – und die Empörung über die Regierungspläne – in jenen Kreisen grösser, die der religiös-konservativen Regierung Erdogans ohnehin kritisch gegenüberstehen. Auch deshalb hat die säkulare Opposition die Regierungspläne sofort lauthals verurteilt. Selim Koru, ein Beobachter der polarisierten türkischen Gesellschaft, bezeichnet den Umgang mit Hunden als eine der vielen Bruchlinien im Kulturkampf des Landes.

Allerdings kritisierte auch die islamistische Yeniden-Refah-Partei, in der Erdogans AK-Partei bei den Lokalwahlen im März erstmals eine ernstzunehmende Konkurrenz im religiösen Lager erwachsen ist, die Regierung. Nur Gott könne das Leben nehmen, das er geschenkt habe, sagte der Parteipräsident Fatih Erbakan.

Sterilisation statt Massentötung

Präsident Erdogan erklärte darauf beschwichtigend, seine Priorität sei es, die Tiere von der Strasse zu holen, nicht, sie zu töten. Deswegen wolle man ja neue Besitzer für sie finden. Es sei seine Partei gewesen, die 2004 das erste Tierschutzgesetz verabschiedet habe. Dieses sieht unter anderem vor, dass Strassenhunde sterilisiert und geimpft werden. Allerdings habe sich dieses Vorgehen als unzureichend erwiesen.

Laut Tierschützern würde es reichen, das bestehende Gesetz richtig umzusetzen. Käme die Regierung endlich ihrer Verpflichtung nach und würde ausreichende Mittel für eine flächendeckende Sterilisation zur Verfügung stellen, liesse sich die Population innert weniger Jahre unter Kontrolle bringen. Dies wäre eine viel humanere Lösung für das Problem als die massenhafte Keulung, auf welche die Regierungspläne unweigerlich hinausliefen.

Osmanen setzten Zehntausende Hunde auf Insel aus

Angesichts des heftigen Gegenwinds ist unklar, welche Massnahmen Erdogans Regierung tatsächlich gegen die Strassenhunde ergreifen wird. Für Istanbul wäre eine Massentötung von Streunern allerdings keine Premiere.

1910 liess die osmanische Regierung schätzungsweise Zehntausende Hunde auf Sivriada, eine der Prinzeninseln im Marmarameer, verfrachten, wo sich die Tiere gegenseitig auffrassen und letztlich alle verendeten. Auch damals wurde das Streunerproblem als Zeichen der Rückständigkeit gesehen, das einer modernen Metropole unwürdig sei.

Das Heulen der ausgesetzten Tiere und der Gestank der Kadaver soll während Wochen in Istanbul wahrnehmbar gewesen sein. Seither wird Sivriada auch Hayirsiz Ada, die unglückselige Insel, genannt. Bis heute hält sich in der Stadt die Legende, das grauenhafte Ende von Tieren, deren Vorfahren einst mit Mehmet dem Eroberer nach Istanbul gekommen seien, habe zum Fall des Osmanischen Reichs beigetragen. Es geht also um viel.

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