Mittwoch, Oktober 9

Ende der sechziger Jahre mussten die Bewohner der entlegenen Chagos-Inseln einer Militärbasis weichen. Nun will London die Inselgruppe an Mauritius abgeben, doch die Skepsis der damals Vertriebenen ist gross.

Seit ihrer Kindheit träumt Pascalina Nellan von einer Rückkehr auf die Chagos-Inseln – obwohl sie die Heimat ihrer Grosseltern nur vom Hörensagen kennt. Weder Nellan noch ihre Eltern haben die abgelegene Inselgruppe im Indischen Ozean je mit eigenen Augen gesehen. Aber ihre Grosseltern erzählten oft von den tropischen Stränden und den unerschöpflichen Fischgründen.

Sie erzählten aber auch von dem Tag, an dem ihnen die britischen Kolonialherren beschieden, sie dürften nicht mehr in ihre Häuser zurückkehren und müssten fortan in Mauritius leben. Dieser Tag hat sich fest in die kollektive Erinnerung von Nellans Familie und die vieler Chagossianer eingebrannt.

Rund 1500 Einheimische lebten Ende der sechziger Jahre auf der Inselgruppe auf halbem Weg zwischen Tansania und Indonesien. 1968 entliess Grossbritannien Mauritius in die Unabhängigkeit. Doch die Souveränität über den Chagos-Archipel mit rund 1000 kleinen und kleinsten Inseln, die auch unter dem Namen British Indian Ocean Territories bekannt sind, behielt London. Der Hauptgrund: Grossbritannien hatte sich mit den USA auf die Errichtung einer Militärbasis auf der Inselgruppe geeinigt, die gemäss den Plänen entvölkert werden sollte.

Ein halbes Jahrhundert lang kämpften die Vertriebenen und ihre Nachfahren um ein Recht auf Rückkehr. Entsprechend aufgewühlt war die 34-jährige Nellan, als sie vergangene Woche an ihrem Wohnsitz in Derby in Nordengland auf dem Handy die Nachricht erhielt, Grossbritannien habe sich mit Mauritius auf die Rückgabe der Chagos-Inseln geeinigt. Noch kann sie die Folgen der Einigung nicht abschätzen. «Das Abkommen wurde über die Köpfe der Chagossianer hinweg verhandelt», sagt sie im Telefongespräch. «Wie schon bei der Vertreibung wurden wir von den Briten weder gefragt noch konsultiert.»

Strategisch wichtige Militärbasis

Die Zukunft der Chagos-Inseln hat in den letzten Jahren unzählige Uno-Gremien, Nichtregierungsorganisationen und internationale Gerichte beschäftigt. Dass die neue Labour-Regierung nun bereit ist, das Kolonialgebiet abzutreten, ist bemerkenswert – auch wenn noch kein Vertragstext vorliegt und viele Details unbekannt sind.

Ein Kernpunkt der Einigung ist der Fortbestand der amerikanischen Militärbasis auf der Insel Diego Garcia für weitere 99 Jahre. Konkret sollen die Briten im Namen von Mauritius die Souveränitätsrechte über die wichtigste der Chagos-Inseln für diese Zeitdauer wahrnehmen, damit der Stützpunkt weiterbetrieben werden kann.

Laut dem australischen Sicherheitsexperten Samuel Bashfield, der unlängst zur Geschichte und strategischen Bedeutung der Chagos-Inseln doktoriert hat, ist für Washington die geografische Lage der Basis entscheidend. «Diego Garcia liegt in Flugdistanz zum Nahen Osten», sagt er im Gespräch. Die USA hätten die Basis für ihre Einsätze in Afghanistan und im Irak sowie beim «Krieg gegen den Terror» regelmässig als Ausgangspunkt für Luftangriffe genutzt.

Im ausgebauten Militärhafen sei man überdies in der Lage, U-Boote und Flugzeugträger andocken und warten zu lassen. Weiter nutzen die USA laut Bashfield die Basis zur Bereitstellung von militärischem Material in gecharterten zivilen Frachtschiffen, die im Bedarfsfall rasch Krisenherde im Nahen Osten erreichen könnten. Schliesslich werde Diego Garcia auch zu Aufklärungs- und Kommunikationszwecken genutzt.

Ein weiterer Vorteil für die USA: Das Gastland Grossbritannien machte kaum Auflagen zur Nutzung der Militärbasis. Im Gegenzug wurde London von Washington finanziell entschädigt und erhielt einen Rabatt auf das atomare U-Boot-System Polaris, das die Briten von 1968 bis 1996 nutzten.

Die Chagos-Inseln waren unbewohnt, als die Portugiesen im 16. Jahrhundert als erste Kolonialmacht eintrafen. Unter französischer Herrschaft wurden auf dem Archipel im 18. Jahrhundert afrikanische Sklaven und indische Arbeitskräfte angesiedelt. Sie gründeten Kokosnuss-Plantagen und entwickelten im Laufe der Jahrhunderte eine eigene Kultur und kreolische Sprache.

Die Briten, die die Kontrolle über die Inseln 1814 von Frankreich übernommen hatten, stellten sich auf den Standpunkt, die Chagossianer seien keine Ureinwohner. Damit rechtfertigten sie die Zwangsumsiedlungen im Zug der Vereinbarung mit den USA. Bis heute haben nur amerikanische Soldaten und eigens für den Stützpunkt rekrutierte ausländische Temporärarbeiter Zugang zum Inselparadies.

«Kolossaler strategischer Fehler»

Innenpolitisch stösst der Schritt der neuen Labour-Regierung von Keir Starmer auf heftige Kritik. Zwar wurden die Gespräche mit Mauritius bereits unter der konservativen Vorgängerregierung aufgenommen. Nun aber sprach der ehemalige Premierminister Boris Johnson von einem «kolossalen strategischen Fehler». Die Denkfabrik Policy Exchange argumentiert überdies, die Aufgabe des Chagos-Archipels könnte als Präzedenzfall für die vierzehn weiteren britischen Überseeterritorien interpretiert werden. Die argentinische Regierung sprach mit Blick auf die Falkland-Inseln bereits von einem «positiven Schritt».

Der Tory-Aussenpolitiker Ian Duncan-Smith argumentierte, Starmer missachte mit der Rückgabe der Inseln die strategischen Interessen des Landes und des Westens insgesamt. Offen sei, ob Mauritius den Amerikanern zum Betrieb der Militärbasis dereinst Auflagen machen könnte. Zudem sei das Land empfänglich für chinesische Beeinflussungsversuche; Peking könnte versuchen, auf den Nachbarinseln von Diego Garcia Abhöranlagen zu installieren.

Auch die USA wollen unbedingt verhindern, dass Peking von der Rückgabe profitiert. Allerdings berichtete der «Daily Telegraph», Washington habe London zum Abschluss der Vereinbarung mit Mauritius gedrängt – aus Angst, der wachsende internationale Druck auf Grossbritannien werde zu einer Rückgabe der Inseln führen, die den Fortbestand der Militärbasis nicht garantiert.

Misstrauen gegenüber Mauritius

Mehrere Uno-Resolutionen und ein nicht bindendes Urteil des Internationalen Gerichtshofs stützen den Anspruch von Mauritius auf die mehr als 2000 Kilometer entfernten Chagos-Inseln. Offen bleibt aber, was mit den vertriebenen Chagossianern und ihren Nachfahren geschieht, deren Zahl auf 10 000 geschätzt wird. Denkbar ist, dass die Regierung des mauritischen Premierministers Pravind Jugnauth das Rückkehrrecht an Auflagen bindet. Unter den Chagossianern ist das Misstrauen gegenüber dem mauritischen Staat gross.

«Eine Rückkehr nach Chagos unter mauritischer Herrschaft macht mir Angst», sagt Pascalina Nellan. Die indischstämmige Bevölkerungsmehrheit in Mauritius habe die afrikanischstämmigen Chagossianer stets als Bürger zweiter Klasse behandelt, erklärt sie. Und obwohl Mauritius von den Briten Geld für die Integration der Chagossianer erhalten habe, lebten viele in Armenvierteln. Zahlreiche Vertriebene und Nachfahren ergriffen wie Nellan die Gelegenheit zur Auswanderung nach Grossbritannien, als London den Chagossianern 2002 das Bürgerrecht zugestand.

Unklar bleibt auch, welche wirtschaftlichen Perspektiven die Chagossianer bei einer Rückkehr hätten. Wäre es ihnen erlaubt, auf Diego Garcia als zivile Arbeitskräfte der amerikanischen Militärbasis anzuheuern? Und wie liesse sich auf den anderen Inseln, die seit fünfzig Jahren unbewohnt sind, aus dem Nichts eine Existenz aufbauen? Noch hat Nellan den Traum einer Rückkehr ins Land ihrer Grosseltern nicht aufgegeben. Aber sie hat grosse Zweifel, dass er sich wegen der Einigung zwischen Grossbritannien und Mauritius realisieren lassen wird.

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