Dienstag, Oktober 1

Lärm, Abfall, Menschenmassen führten dazu, dass die Street Parade fast verboten wurde. Doch Joel Meier rettete die Parade mit neuen Ideen. Er sagt über sich: «Ich gebe im Hintergrund den Takt an.»

Am Samstag ist es wieder so weit: Die Stadt Zürich verwandelt sich in die grösste Technoparty der Welt. Hunderttausende Techno-Fans tanzen an der Street Parade rund um das Seebecken zum Rhythmus elektronischer Beats. Es ist laut, heiss, voll – rund 900 000 Menschen werden erwartet.

Dabei den Überblick zu behalten, ist nahezu unmöglich. Doch einer muss genau das versuchen: Joel Meier, der sich auch «Mister Street Parade» nennt. Während alle tanzen, arbeitet er unter Hochdruck. Denn Meier, 51 Jahre alt, ist seit 16 Jahren Präsident des Vereins Street Parade.

Meier bildet zusammen mit drei weiteren Personen den Vorstand. Er ist zuständig für die Planung, das Programm, die Musik, die Getränke- sowie Essensstände und die Love-Mobiles, die aufwendig dekorierten Wagen, auf denen DJ und Musikfans tanzen.

Er muss organisieren und delegieren können. Vor allem aber: Er muss genau wissen, was die Leute wollen.

Dass er das weiss, hat Meier bereits mehrfach bewiesen: Grossveranstaltungen wie Caliente, Silvesterzauber, Uster on Ice und Open Air Gampel gehen auf sein Konto. Mit seiner Band spielte er über 400 Konzerte, und sein Magazin «RCKSTR» war knapp zwei Jahrzehnte lang eine der einflussreichsten Musikzeitschriften der Schweiz. Und als ein Virus durch die Schweiz fegte und die Partyszene lahmlegte, organisierte Meier fast aus dem Nichts den Impfbus und das Impfzentrum Uster.

Meier ist einer der wichtigsten Figuren der Eventbranche. Und doch ist er in der breiten Öffentlichkeit ein Unbekannter.

Schon früh der Tätschmeister

Schon als Kind lernt Meier, den Überblick zu behalten und Menschen zu führen: Als ältestes von fünf Kindern kümmert er sich um seine Geschwister. Meier sagt: «Ich schlüpfte in die Rolle des Tätschmeisters, übernahm Verantwortung und musste oft entscheiden, wie es weitergeht.»

Daneben prägt ihn noch etwas anderes: die Musik. Meier verehrt Michael Jackson, später bevorzugt er rockigere Gruppen wie Guns’n’Roses und Bon Jovi – Grössen der Musikgeschichte. Er hört sich die Alben pausenlos an. Die Musik fasziniert ihn.

Diese Faszination will er mit anderen Menschen teilen. Im Alter von 10 Jahren beginnt Meier, Schlagzeug zu spielen. Mit 15 Jahren organisiert er sein erstes Open Air in seinem Heimatdorf Bäretswil im Zürcher Oberland.

Nach der Schule absolviert Meier eine Metzgerlehre. Auf dem Beruf arbeiten wird er aber nur für eine kurze Zeit. Zu sehr lockt das Leben als Rockstar auf der Bühne, wo die Scheinwerfer brennen und die Luft vor Anspannung knistert. Meier stösst als Schlagzeuger zur Band Lazy Bones. «Wir waren aber alles andere als faule Knochen», sagt er und lacht spitzbübisch. Die Band nimmt zwei Alben auf und tourt durch die Schweiz, Österreich und Deutschland.

Meier merkt: Es geht bei der Musik um mehr als Rhythmus und Melodie. «Menschen reagieren auf Energien. Man schafft Stimmungen und transportiert diese.»

Die Band spielt rund 400 Konzerte. Zwei Jahre können Meier und seine Bandkollegen von dem Verdienst leben. Dann bricht sich der Gitarrist einen Finger. Konzerte fallen aus, in der Band herrschen Unstimmigkeiten. Das Geld wird knapp. Der Traum vom Rockstar scheint für Meier vorbei zu sein – nicht aber die Arbeit mit der Musik.

1998 beginnt Meier bei der Event-Firma Youngcom zu arbeiten, wo er schon nach einem Jahr Geschäftsleiter wird. «Da bin ich irgendwie reingerutscht», sagt er. Dass ihm Dinge mehr passieren, als dass er sie plant, zieht sich durch sein Leben. «Das Einzige, was ich geplant hatte, war, Rockstar zu werden», sagt Meier und fügt an: «Der Plan war gut. Die Ausführung weniger.» Er lacht, und seine Zahnlücke blitzt hervor.

«Ich trauere dem aber nicht nach», sagt Meier und zuckt mit den Schultern. «Gerade als Schlagzeuger ist man mit 25 Jahren körperlich sowieso am Ende. Dein Körper ist nicht dafür gemacht, so lange rumzuhämmern.» Meier ist jemand, der nach vorne schaut, sich vom Neuen mitreissen lässt. Er sagt: «Man muss sich in der Event-Szene den Entwicklungen anpassen. Sonst bleibt man stehen.»

Das Neue, von dem sich Meier als Erstes mitreissen lässt, sind die Medien. Bei Youngcom schreibt Meier für das deutsche Techno-Magazin «Raveline». Zusätzlich zu der Sonderausgabe über die Love Parade schlägt er eine Ausgabe für die Street Parade vor. Diese Schweizer Ausgabe wird später zu einem festen Bestandteil des Magazins. «Für die Texte musste ich alle Beteiligten der Parade interviewen – vom Präsidenten über den Sanitäter bis zum Müllmann.» Meier lernt alle wichtigen Personen und Abläufe kennen. Dieses Wissen sollte ihm später helfen.

Highlights statt Verbotsschilder

2004 gründet Meier das Magazin «RCKSTR», das für fast zwei Jahrzehnte zu einem festen Bestandteil der Schweizer Musikszene wird. Vier Jahre später bietet sich Meier bereits die nächste Herausforderung: Er bekommt das Präsidentenamt des Vereins Street Parade Zürich angeboten – bereits zum zweiten Mal.

«Das erste Mal habe ich abgelehnt. Ich hatte das Magazin gerade erst gegründet, und es kostet viel Energie, so etwas auf dem Markt zu etablieren», sagt Meier und streicht sich über seine streng zurückgebundenen Haare. «Aber als ich zum zweiten Mal angefragt wurde, wusste ich: jetzt oder nie. Also stellte ich mein Leben so um, dass es Platz dafür hat.»

Die Parade stellt Meier vor Probleme. Die Stimmung um den Event ist angespannt: Die Besucherzahlen sind rückläufig, die Behörden und die Anwohner sind vom Mega-Event genervt. Zu gross, zu laut und zu dreckig. Für Meier gilt es nun, das Szenario von 1994 zu vermeiden, als die Parade fast verboten wurde.

Also macht Meier das, was er gut kann: den Menschen zuhören, auf sie eingehen, verhandeln.

So folgt nach einem Gespräch mit der damaligen Polizeivorsteherin Esther Maurer ein entscheidender Wandel: Meier rückt die Künstler stärker in den Mittelpunkt und lässt rund um das Seebecken Bühnen aufstellen. Hinzu kommen zusätzliche Toiletten, Essens- und Getränkestände. Sie locken die Besucher ans Seebecken und entlasten die Innenstadt. Später werden die beiden Bühnen links und rechts der Quaibrücke – beim Sechseläutenplatz und beim Bürkliplatz – aufgestellt. Sie locken die Menschenmassen von der Quaibrücke weg und schützen diese so vor Überlastung.

Die Stadt willigt ein, die Parade darf bleiben.

Unter Meiers Leitung zieht die Parade im Schnitt fast 900 000 Besucherinnen und Besucher an. Damit hat er die Street Parade grösser gemacht, als sie vorher war.

Events zu veranstalten, sei primär Krisenmanagement, sagt Meier. «Man organisiert, was man nicht planen kann.» Seine Aufgabe sieht er darin, Probleme zu beseitigen, bevor die Besucher etwas davon mitbekommen.

In seinen bunten Shirts wirkt Meier geradezu unschuldig. Er ist ein Sympathieträger, kann die Menschen mit seinen Ideen begeistern. Das ist sein Geschäft. «Ich bin ein typischer Schlagzeuger, der hinter der Band hockt. Niemand weiss, wie er aussieht, aber jeder merkt, wenn er aufhört zu spielen», sagt er. «Ich gebe im Hintergrund den Takt an und helfe, wieder in den Takt zu kommen. Das ist meine Persönlichkeit.»

Wo es Druck gibt, entsteht Gegendruck

Für Meier sind Veranstaltungen aber mehr als pure Unterhaltung. «Es geht darum, Erlebniswelten zu schaffen. Die Leute dazu zu verführen, die Zeit, den Alltag und die Sorgen zu vergessen», sagt er. «Es ist ein unbeschreibliches Gefühl, wenn einem das gelingt.»

Dazu braucht es viel organisatorisches Geschick. Und ein Verständnis dafür, was die Menschen wollen. «Wie bewegen sich die Besucher, wann brauchen sie welche Informationen – all diese Dinge müssen stimmen», sagt Meier. «Man muss den Gast jederzeit so führen, dass er nicht gestresst ist, sondern sich frei fühlen kann.»

Die Street Parade zieht zwar Jahr für Jahr Hunderttausende Besucher an, in der Stadt sind aber längst nicht alle begeistert von dem Grossevent. Der Lärm, der viele Abfall und der beissende Uringestank, der auch noch Tage danach durch Zürich weht, stört viele Anwohner. Meier räumt ein, dass an der Streetparade nicht alles perfekt ist. «Die Bäume werden leider höher frequentiert als die WC-Anlagen», sagt er. Aber es sei doch allemal besser, wenn jemand einmal irgendwo hinpinkle und kurz rebelliere, «als dass er sonst das Jahr über Dinge kaputtschlägt, weil er irgendein Ventil braucht für den Druck, den er im Leben hat».

Meier lebt und liebt das, was er tut. Kommt er auch einmal an seine Grenzen? Ja, ja, sagt er, in den letzten drei Jahren sei das passiert. Als sich die Arbeit zwischen Impfen, Open-Air und Street Parade nahtlos ablöste und das Team pausenlos durcharbeitete.

«Da gab es nur eines: Grind abe und seckle», sagt er mit tiefer Stimme und zieht den Rauch seiner Zigarette in die Lunge. Danach brauche er Ruhe. «Am liebsten fahre ich mit dem Cabriolet alleine in die Berge. Weg von allen Leuten, möglichst nur noch Murmeltiere und Mäusebussarde. Mit etwas Glück noch ein Steinadler», sagt er. Allgemein hätte er gerne etwas mehr Zeit für sich. Und einen Bastelraum, sagt er und lacht. Es bilden sich kleine Falten um seine Augen. Dann wirkt er sanft.

Doch die Ruhe währt meist nicht lange. Nach der Street Parade beginnen die Vorbereitungen für die Winterveranstaltungen – das Uster on Ice oder sein neues «Baby», der Silvesterzauber, ein Volksfest um das Zürcher Seebecken, bei dem über 150 000 Besucher den Jahreswechsel mit einem Feuerwerk feiern. Meier organisiert den Silvesterzauber dieses Jahr zum ersten Mal, zusammen mit Vertretern aus der Zürcher Hotellerie und Gastronomie sowie von Zürich Tourismus.

Und beweist damit erneut seinen unablässigen Drang, neue Veranstaltungen zu organisieren, die die Menschen ihren Alltag vergessen lassen – zumindest für einen Moment.

Die Street Parade in Kürze

jhu. 1992 fand in Zürich die erste Street Parade statt. Damals tanzten gerade einmal 2000 Raver durch die Stadt. Seither hat sich viel verändert. Die Route führt längst nicht mehr über die Bahnhofstrasse, und das Besucheraufkommen ist ein ganz anderes geworden. Die Organisatoren erwarten für diesen Samstag 900 000 Besucherinnen und Besucher. Die Sache ist immer auch vom Wetter abhängig. Für den Samstag sieht die Wetterprognose gut aus, es wird sonnig, aber nicht allzu heiss.

Die Parade startet um 13 Uhr beim Utoquai. Von dort aus werden die 28 Love Mobiles – die bunt gestalteten Musik-Lastwagen – im Schritttempo rund um das Seebecken via Bellevue, Quaibrücke und Bürkliplatz bis zum Hafendamm Enge fahren.

Die Musik schallt nicht nur aus den Boxen der Love Mobiles, sondern auch von den diversen Bühnen rund ums Seebecken. Die grösste – die Opera Stage – befindet sich auf dem Sechseläutenplatz. Hier treten internationale Grössen wie Ellen Allien, Joris Voorn oder Chris Liebing auf. Die Party dauert bis Mitternacht an. Wer dann noch nicht genug hat, kann in zahlreichen Klubs in der Stadt weitertanzen.

Die Street Parade versteht sich noch immer als eine Demonstration für «Liebe, Friede, Freiheit, Grosszügigkeit und Toleranz». Das diesjährige Motto lautet denn auch: «Prefer: Tolerance». Organisiert wird die Veranstaltung vom nicht gewinnorientierten Verein Street Parade, den Joel Meier präsidiert. Noch heute legen Star-DJ kostenlos an der Parade auf.

Rund um das Seebecken sind die Strassen während der Street Parade gesperrt. Die Veranstalter empfehlen, mit dem öffentlichen Verkehr anzureisen.

Schutz und Rettung Zürich wird mit einem Grossaufgebot an der Street Parade präsent sein. Gegenüber dem Normalbetrieb sind 400 zusätzliche Personen aus den Bereichen Sanität, Einsatzleitzentrale, Feuerwehr, Zivilschutz und Logistik im Einsatz. Schutz und Rettung betreibt für die medizinische Versorgung der Besucherinnen und Besucher sechs Behandlungsstellen entlang der Umzugsroute. Hinzu kommt die Patientensammelstelle, welche intoxikierte Personen aufnimmt, um die umliegenden Spitäler zu entlasten. Zudem sorgen mobile Rettungsequipen und drei Boote für einen sicheren und schnellen Transport der Patienten. Der Sanität stehen zudem dreizehn zusätzliche Rettungswagen zur Verfügung.

Die meisten Behandlungen erfolgen jeweils aufgrund von Schnittwunden an den Füssen, übermässigem Alkoholkonsum oder Flüssigkeitsmangel. Schutz und Rettung empfiehlt deshalb, ausreichend Wasser und alkoholfreie Getränke zu konsumieren sowie festes, geschlossenes Schuhwerk zu tragen.

Exit mobile version