Donnerstag, Mai 1

Die Präsidentin der Columbia University griff bei den propalästinensischen Protesten durch und holte die Polizei. Das könnte sie ihre Stelle kosten. Wer ist diese kämpferische Frau?

Am 3. Mai – kurz nach der Räumung des Campus durch die Polizei – entsandte Nemat Shafik eine Videobotschaft an die fast 37 000 Studenten der Columbia University. Sie bittet sie, artig zu sein und den Frieden auf dem New Yorker Campus wiederherzustellen. Wie kleine Luftblasen des vernünftigen Denkens wirken ihre wohlformulierten Sätze. Die Universität könne nicht eigenhändig den Nahostkonflikt lösen. Aber sie könne ein Modell sein für Empathie gegenüber Andersdenkenden und den zivilisierten Diskurs. Sie, Shafik, werde alles tun, um die akademische Gemeinschaft wieder zusammenzukitten.

Die Frage ist nur, ob ihre Botschaft inmitten der ideologischen Auseinandersetzung an der Hochschule noch ankommt. In den Fakultäten formiert sich der Widerstand Hunderter von Professoren mit dem Ziel, ein Misstrauensvotum gegen Shafik durchzubringen.

Für Nemat Shafik muss es ungewohnt sein, im Kreuzfeuer der Kritik zu stehen. In Ägypten geboren, im Süden der USA aufgewachsen und nach einer Dissertation an der Universität Oxford, machte die Ökonomin eine steile Karriere, die ihr Ruhm und Ehre einbrachte. Shafik trägt den Order of the British Empire und wurde von Queen Elizabeth II. zur Baronin geadelt. Sie spricht Englisch, Arabisch und Französisch und ist Doppelbürgerin der USA und Grossbritanniens.

Eine krisenerprobte Spitzen-Ökonomin

Beruflich scheint die 61-jährige Shafik immer dort anzutreffen zu sein, wo die Welt brennt. Kurz nach dem Mauerfall 1989 arbeitete sie bei der Sektion Osteuropa der Weltbank. Danach wurde sie mit bloss 36 Jahren zur Vizepräsidentin der Weltbank ernannt. Als Vizedirektorin des Internationalen Währungsfonds leitete sie dessen Aktivitäten in der Euro-Zone während der Schuldenkrise; im Chaos nach dem Arabischen Frühling tat sie dasselbe im Nahen Osten.

2014 wechselte sie zur Bank of England und half mit, als Vize-Gouverneurin die Zentralbank durch die Brexit-Wirren zu navigieren. Nach sechs Jahren an der Spitze der London School of Economics wurde sie 2023 zur Präsidentin der Columbia University gewählt. Drei Tage nach ihrer Inauguration massakriert die Hamas am 7. Oktober mehr als 1100 Menschen in Israel. Unmittelbar danach beginnen die ersten propalästinensischen Proteste auf dem Campus der Universität.

In ihrer Antrittsrede vom 4. Oktober 2023 verströmt Nemat Shafik aufklärerischen Optimismus. Sie spricht zwar von den Rissen in der Gesellschaft, bröckelnden Demokratien und dem Aufschwung eines gefährlichen «Anti-Intellektualismus». Aber gleichzeitig betont sie die entscheidende Rolle der Universitäten darin, die Welt aus ihrem Malaise zu befreien. Dazu brauche es einen «neuen sozialen Vertrag» zwischen der Universität und der Gesellschaft. Sie zitiert Thomas Hobbes und Jean-Jaques Rousseau, Karl Marx und Adam Smith als Beispiele der fruchtbaren intellektuellen Auseinandersetzung, die auch heute die akademische Welt prägen müsse.

Shafiks schöngeistige Rede wird schon am Ort von der Realität eingeholt. Im Hintergrund protestieren Studentinnen und Studenten wegen sexueller Übergriffe eines früheren Campus-Gynäkologen. Ihre Stimmung gegenüber der Universitätsleitung ist bereits aufgeheizt.

Das Hamas-Massaker und der darauffolgende Gaza-Krieg entzünden eine Kettenreaktion, über die man auch nachträglich nur staunen kann. Innert Tagen werden die Universitäten in den USA zur Kampfzone propalästinensischer Proteste, obwohl die schreckliche Bluttat der Hamas noch ganz frisch ist. Doch die Protestierenden drehen die Schuldfrage um: Im Massaker sehen sie eine reine Folge der langen Unterdrückung der Palästinenser. Die Komplexität der Nahostpolitik blenden sie aus. Aufgestaute Empörung und Wut entlädt sich – von Shafiks Vision einer vernünftigen zukünftigen Elite ist wenig zu sehen.

Shafik greift gegen Studenten-Proteste durch

Nemat Shafik steht im Epizentrum eines Protestes, der die ehrwürdige Universität in ihren Fundamenten erschüttert: Der Gaza-Krieg entzweit nicht nur die Studentenschaft, sondern reisst auch zwischen und innerhalb der Fakultäten Gräben auf. Schon im Oktober solidarisieren sich Hunderte von Professoren mit den Protestierenden. Die Präsidentin der Columbia University sieht zu, wie ihre Kolleginnen von Harvard und Penn sich an einer Kongressanhörung winden, ihre protestierende Studentenschaft als antisemitisch zu bezeichnen – und kurz darauf aus dem Amt befördert werden.

Spätestens dann muss Shafik klar geworden sein, wie akut die Gefahr ist, zwischen den Lagern zerrieben zu werden. Studenten, Professoren, Geldgeber, Stiftungsräte und die Politik kochen heiss – wenn der Dampfkessel zu explodieren droht, warum nicht das Ventil lösen und die Präsidentin entlassen?

Doch Shafik hält sich, bis jetzt. Sie hat sich von Anfang an für ein hartes Durchgreifen entschieden. «Wir müssen die Kräfte, die uns auseinanderreissen, zurückweisen», lautete ihre erste Reaktion im Oktober. Sie schloss kurz darauf den Campus und erliess eine Sperre gegen zwei propalästinensische Gruppen, Students for Justice in Palestine und Jewish Voice for Peace. Über Weihnachten beruhigte sich die Lage etwas. Doch der Krieg in Gaza dauert an und fordert immer mehr palästinensische Opfer. Die Studenten an der Columbia University organisierten sich neu und besser unter der Dachorganisation «Columbia University Apartheid Divest». Sie warteten auf den richtigen Moment für eine koordinierte Aktion.

Der Moment kommt am 17. April, als Nemat Shafik vor dem Bildungsausschuss des Repräsentantenhauses aussagt. Anders als ihre geschassten Kolleginnen von Harvard und Penn bekundet sie keine Mühe, Antisemitismus mit klaren Worten zu verurteilen. Als gleichentags die Protestierenden das Zeltlager auf dem Südrasen des Columbia Campus errichten, zögert sie nicht, die Polizei zu rufen und das Gelände zu räumen. Sie holt die Sicherheitskräfte ein zweites Mal, als Studenten am Ende eines Ultimatums ein zentrales Gebäude der Hochschule einnehmen. Die Universität ist jetzt geschlossen. Das Graduierungsfeier ist abgeblasen, die Polizei präsent für unbestimmte Zeit.

Teile der Fakultäten revoltieren

Das Entsetzen in Teilen der Fakultäten, vor allem den geisteswissenschaftlichen, ist gross. Sie sehen in Nemat Shafik eine Verräterin. Hinter den Kulissen formiert sich der Widerstand unter der Ägide der Professorengewerkschaft American Association of University Professors. An einer Video-Sitzung am vergangenen Freitag, an der über 300 Personen teilnahmen, koordinierten Gewerkschafter das Vorgehen, um in der letzten Sitzung des Universitätssenats am 10. Mai ein Misstrauensvotum zu erzwingen.

Die Kritik an Shafik im schriftlichen Vorstoss ist harsch: Sie habe es verpasst, mit Verhandlungen die Lage zu deeskalieren, sie habe dem politischen Druck aus Washington zum Schaden der Universität nachgegeben, und sie habe einen «militarisierten Lockdown» des Campus veranlasst. Sie habe die Redefreiheit und akademische Freiheit der Studenten und der Professoren verletzt und den Senat mittels Notrecht ausgehebelt.

Und so ist dieser Sturm für Nemat Shafik nicht zu Ende. Es kann sein, dass sie als eine Universitätspräsidentin in die Geschichte eingeht, die für Ruhe und Ordnung kämpfte und nur noch mehr Chaos stiftete. Oder aber sie schafft es, auf dem Vulkan weiter zu tanzen, bis sich die Gemüter wieder beruhigen.

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