Samstag, April 19

Über ein Jahr nach dem abrupten Abgang des Präsidenten rumort es im Schweizer Ingenieur- und Architektenverein (SIA) immer noch. Der Vorstand möchte den Streit gern beilegen. Doch es gibt Widerstand.

Die Meldung versetzte die Architekturbranche in Aufruhr. Nur zwanzig Monate nach seiner Wahl warf der Präsident des Schweizerischen Ingenieur- und Architektenvereins (SIA), Peter Dransfeld, bereits wieder das Handtuch. Dransfeld habe sich entschieden, sein Amt mit sofortiger Wirkung niederzulegen. So stand es in der Medienmitteilung vom 14. Dezember 2022. Begründet wurde der Rückzug mit der Allerweltsfloskel «unterschiedliche Führungsauffassung». Mehr war nicht zu erfahren, die Parteien hatten Stillschweigen vereinbart.

Beim SIA handelt es sich um den mit Abstand bedeutendsten Verband der Baubranche. Mit seinen 16 000 Mitgliedern, 18 Regionalsektionen, 23 Fachvereinen und 200 Normenkommissionen greift er tief in den Alltag der Bevölkerung ein. Er regelt und normiert alles, vom Honorar für Gebäudetechniker über die Anforderungen für Treppengeländer bis zur Entwässerung von Baustellen. Er redet mit in der Klimapolitik, der Raumplanung, der Infrastrukturpolitik, der Baukultur. Kurz: Wer in der Schweiz baut, kommt nicht am SIA vorbei.

Doch der Verband hadert immer wieder mit sich selbst. Das hat mit seiner Grösse zu tun, aber auch mit seiner Geschichte. Der SIA wurde 1837 gegründet und ist damit älter als der Bundesstaat. Entsprechend komplex sind die historisch gewachsenen Strukturen. Einen grossen Teil der Arbeit leisten die ehrenamtlichen Experten in den 200 Kommissionen. Der Vorstand, das wichtigste Führungsorgan, arbeitet im Nebenamt. Das macht den Verband schwerfällig.

Ein Gegengewicht bildet die professionelle Geschäftsstelle mit ihren knapp 60 Vollzeitstellen. Dort laufen die Fäden zusammen. Die Macht habe sich längst zur Geschäftsstelle verschoben, kritisiert Heinrich Degelo, ein langjähriger SIA-Kommissionspräsident. «Die Geschäftsstelle macht die Politik, der Vorstand vertritt sie nach aussen.»

«Mit blankem Unverständnis»

Das sei vor allem den ehrenamtlichen Mitgliedern der Kommissionen und Sektionen ein Dorn im Auge. «Als Peter Dransfeld kam, haben alle aufgeatmet», sagt Degelo. Dransfeld habe sich eingebracht, er habe Fragen gestellt und die Leute gleichzeitig ihre Arbeit machen lassen. «Wir dachten: Endlich einer, der das Präsidium so auffasst, wie es in den Statuten steht. Einer, der etwas bewegen will, aber auch weiss, was der Verband an seinen Experten in den Kommissionen hat.»

Degelo gehört zu den Mitunterzeichnern eines offenen Briefs, der wenige Tage nach Dransfelds Abgang 2022 auf der Plattform des Bundes Schweizer Architekten (BSA) publiziert wurde. In dem Brief forderten Degelo und weitere hochrangige SIA-Funktionäre Dransfelds sofortige Wiedereinsetzung und eine Aufklärung der Vorfälle.

«Konsterniert, mit blankem Unverständnis und grossem Bedauern» habe man Dransfelds Rücktritt zur Kenntnis genommen, heisst es darin. Und weiter: «Wir akzeptieren diesen nicht. Vielmehr sind wir überzeugt, dass der Abgangsgrund nicht ursächlich in der Person Dransfeld zu suchen ist, sondern internen Ungereimtheiten auf Stufe Vorstand und Geschäftsstelle.» Die Unterzeichner verlangten die Einsetzung einer Geschäftsprüfungskommission, um die Vorgänge zu untersuchen.

Die Forderung wirkte. An der Jahresversammlung im April 2023 setzten die 76 Delegierten eine Spezialkommission ein. Sieben Leute aus den eigenen Reihen, dazu ein externer Jurist, wurden mit der Aufgabe betraut, die Vorgänge zu beleuchten.

Im September 2023 lieferte die Kommission einen 80-seitigen Bericht ab. Doch was darin steht, weiss bis heute nur ein kleiner Kreis von ausgewählten Personen in der Geschäftsstelle und im Vorstand. Die Delegierten mussten sich mit einer 5-seitigen, sehr allgemein gehaltenen Kurzfassung begnügen.

Auch eine Moderation brachte nichts

Doch Dransfeld ging in die Offensive und verschickte kurz darauf einen Brief an die Delegierten, in dem er diverse Aussagen aus dem Bericht auszugsweise wiedergibt. Er schreibt von «fehlende(r) Sensibilität für Interessenkonflikte», «Defizite(n) im Projektmanagement», fehlendem Einbezug von SIA-Gremien und dem «Potenzial nachhaltigen Schadens der Kommunikationskultur». Dies alles habe er in seiner Amtszeit regelmässig erlebt, «zuerst mit Erstaunen, dann zunehmend mit Sorge um Funktion und Ansehen des SIA».

Auch seine ehemaligen Kollegen vom Vorstand kritisiert er: «Das Interesse für diese Sorgen wirkte in der weiteren Vereinsführung begrenzt.» Dransfeld lässt auch durchscheinen, wo der Konflikt seinen Ursprung hatte. «Manche mögen eine repräsentativere Funktion des Präsidenten gewünscht haben als jene, die die Regelwerke des SIA vorsieht. Da einige diese Vereinsgrundlagen nur unzureichend kannten, übersahen sie vielleicht, dass der Vorstand seine Aufsicht nur unzureichend wahrnahm.» Anders ausgedrückt: Dransfeld wollte mehr tun, als dem Vorstand und der Geschäftsführung lieb war.

Dransfeld nennt in seinem Schreiben zwar niemanden namentlich, doch es ist offensichtlich, dass die Vorwürfe insbesondere auf den SIA-Geschäftsführer Christoph Starck zielen. Das Vertrauen sei beschädigt gewesen, auch eine externe Moderation habe dieses nicht mehr festigen können, schreibt er.

Im Januar 2024 wiederholte Dransfeld seine Kritik in einem Interview mit der «Thurgauer Zeitung»: «Bei einzelnen Führungspersonen war ein grosses Bedürfnis feststellbar, dass ich mein Amt niederlege. Und ganz entscheidend: Mir wurde die Ausübung meines Amtes erschwert bis verunmöglicht.»

Einer, der die Vorgänge aus nächster Nähe beobachtet hat, ist Hartwig Stempfle, bis März 2023 Präsident der SIA-Sektion Zürich. «Dransfeld war zuletzt einsam im Vorstand», sagt er. «Er hat gesehen, was nicht funktioniert, und er hat den Finger daraufgelegt.» Dass der detaillierte Bericht bis heute nicht einmal den Delegierten zugänglich gemacht worden sei, sei bedauerlich, aber nicht erstaunlich. «Eine Offenlegung würde vermutlich viel Unangenehmes zutage fördern.»

Keine Probleme mit Transparenz

Dieser Interpretation widerspricht der Vorstand vehement. Dass der Untersuchungsbericht nicht veröffentlicht werden könne, sei ein Entscheid der Delegierten gewesen, sagt Urs Rieder. Seit Dransfelds Rückzug führt er den Verband zusammen mit Alain Oulevey ad interim. «Es ist rechtlich nicht möglich, dass wir den Inhalt des Berichts offenlegen.» Die SIA-Führung hätte aber keine Probleme damit, Transparenz herzustellen.

Dransfelds Kritikpunkte seien aus dem Kontext gerissen. «Sie können eine solche Untersuchung in 100 anderen Organisationen durchführen. In 98 werden Sie Mängel finden.» Einzelne Kritikpunkte seien dennoch berechtigt. So habe man gewisse Geschäfte zu wenig sorgfältig mit den Kommissionen abgesprochen. Aber diese Punkte seien längst geklärt.

Auch der Geschäftsführer Christoph Starck sieht im Untersuchungsbericht kein Misstrauensvotum an die Vereinsführung. «Der Bericht attestiert, dass keine Compliance- oder erheblichen Governance-Mängel vorgekommen sind. Die Empfehlungen, welche im Bericht aufgeführt sind, betreffen Verbesserungsvorschläge, welche wir durchaus ernst nehmen und bereits bearbeiten.»

Dass es Kritik an der Führung gebe, liege bei einer Organisation wie dem SIA in der Natur der Sache. «Bei einem Verein lassen sich die strategische und die operative Ebene nicht strikt trennen», sagt Starck. Von einer Machtballung bei der Geschäftsführung könne aber keine Rede sein, ergänzt Rieder. Letztlich habe es mit Dransfeld zwischenmenschlich nicht funktioniert.

Es sind nicht die ersten Turbulenzen, mit denen der SIA in den vergangenen Jahren zu kämpfen hatte. Im Sommer 2018 hatte der Verein den renommierten Planungswissenschafter und Architektursoziologen Joris Van Wezemael als Geschäftsführer engagiert. Er sollte dem SIA den Staub aus dem Gebälk klopfen. Van Wezemael scheiterte, nach sieben Monaten musste er gehen. Die Hintergründe wurden nie kommuniziert. Im Juli 2019 wählte der SIA-Vorstand den Forstingenieur Christoph Starck zum neuen Geschäftsführer.

Die Vereinsführung hofft nun, an der Delegiertenversammlung vom 26. April einen Schlussstrich unter die Angelegenheit ziehen zu können. Dann soll der neue Präsident oder die neue Präsidentin gewählt werden.

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