Svenja Flasspöhler gilt als konfliktfreudig. In ihrem neuen Buch fragt sich die deutsche Philosophin, was das eigentlich ist: Streit.
Machen wir uns nichts vor: Streit ist eine Zumutung. Immer. Das sagt Svenja Flasspöhler nicht so. Aber fast. Auf der zweitletzten Seite ihres neuen Buches schreibt sie, in jedem Streit, der seinen Namen verdiene, gebe es einen entscheidenden Augenblick. Dann nämlich, wenn man sich entscheiden müsse: Bleibe ich, oder gehe ich? Lasse ich mich mit dem anderen ein und verteidige meine Position, auch gegen Argumente, die ich vielleicht absurd oder lächerlich finde? Oder ziehe ich mich zurück und lasse die anderen einfach weiterreden?
Gehen ist bequemer als bleiben. Wer geht, entzieht sich dem Konflikt, wählt den Frieden. Aber vielleicht nur kurzfristig. Denn auf lange Sicht ist Streit womöglich nicht das, was Menschen trennt, sondern im Gegenteil etwas, was sie miteinander verbindet. Wer streitet, muss sich mit seinem Gegner auseinandersetzen. Wer dem Streit ausweicht, sagt dem anderen: Du bist mir egal, mich interessiert nicht, was du denkst. Ein Streit hat ein Ende. Die Geringschätzung, die darin liegen kann, mit jemandem nicht streiten zu wollen, hält an.
Flasspöhlers Buch mit dem schlichten Titel «Streiten» ist ein Plädoyer fürs Streiten. Die deutsche Philosophin und Journalistin bezeichnet sich als einen Menschen, der gern streitet. Nicht aus Lust an der Auseinandersetzung, sondern weil oft nur ein Streit die Positionen klären kann. Weil Streit dazu führt, dass man seine eigene Haltung überdenken muss. Und ja, natürlich auch, weil man am Ende recht haben möchte. Schliesslich ist man überzeugt von dem, was man denkt. Und man würde die anderen gern von dem überzeugen, was man selbst für unwiderlegbar hält.
Vielleicht hat der andere recht
Gelingt das, festigt es die eigene Position. Anderseits reagieren wir verunsichert, wenn unsere Ansichten auf Widerspruch treffen. Es könnte sein, dass der andere recht hat, auch wenn wir es für unwahrscheinlich halten. Vielleicht widerspricht er ja, um mich zu ärgern. Vor allem aber: Im Streit werden nicht nur Ansichten hinterfragt. Es geht immer auch um uns als Menschen. In den Meinungen, die wir äussern, zeigen wir anderen, wer wir sind. Wenn jemand sagt: «Wie kannst du das für richtig halten?», ist das ein vernichtendes Urteil, das weniger die Position als vielmehr die Person, die sie vertritt, infrage stellt.
«Warum streite ich?» ist die Frage, die am Anfang von Flasspöhlers Essay steht. Das Bewusstsein dafür, dass in jeder Auseinandersetzung eine Zumutung liegt, durchzieht ihren Text von der ersten Seite an. Da, wo die Autorin sich an ihre Kindheit erinnert. An die Streitigkeiten, die der Trennung ihrer Eltern vorangingen. An zerschlagenes Geschirr, umstürzende Regale und ihre Angst, die Wortgefechte könnten eskalieren und mit dem Tod des Vaters oder der Mutter enden. Erinnerungen, die sie geprägt haben, weil sie ihr zeigen, wie verletzend Streit sein kann.
Sie erinnert sich auch an die Opposition, auf die sie als leitende Redaktorin bei Deutschlandfunk Kultur stiess, weil sie beispielsweise dafür plädierte, auch AfD-Politiker in die Sendungen einzuladen. Oder an die Angriffe, denen sie ausgesetzt war, als sie die #MeToo-Kampagne öffentlich kritisierte. Das führte manchmal zu offenem Streit. Manchmal nur zu unterschwelliger Ablehnung. Aber zumindest als Drohung lag der Streit immer in der Luft.
Diese Beispiele zeigen, wie rasch die Lust an der Auseinandersetzung auch bei denen am Ende ist, die sie propagieren. Der Aufruf, wir müssten wieder streiten lernen, ist zum Gemeinplatz politischer Sonntagsreden geworden. Aber die Bereitschaft dazu ist meist gering, wenn es um Themen geht, die als heikel gelten – und über die allein schon deshalb diskutiert werden müsste. Allerdings schafft man mit Streiten allein noch keine Demokratie. «Eine Demokratie, in der nicht gestritten wird, ist keine», hat Helmut Schmidt einmal gesagt. Er meinte ein hartes, an der Sache orientiertes Streiten. Viele öffentliche Debatten sind davon weit entfernt, ob es um Corona geht oder um die Frage nach dem «richtigen» Umgang mit der AfD.
Am Abgrund der Vernichtung
Streit ist heilsam. Solange er ein dynamischer Zweikampf ist. Aber er ist verderblich, wenn er zum Grabenkrieg wird. Dann geht es nicht mehr darum, Argumente auszutauschen, sondern darum, Vorurteile zu bestätigen. Wer etwas sagt, ist wichtiger als das, was gesagt wird. Keine Seite ist bereit, sich auf die Position der anderen einzulassen, das Gespräch dreht sich im Kreis. Svenja Flasspöhler weist zu Recht auf die Ambivalenz hin, die im Streit liegt: «Ein Streit ist nie harmlos», hält sie fest, «der Abgrund der Vernichtung ist immer da.»
Das klingt dramatisch. Aber Streit ist tatsächlich mehr als eine Meinungsverschiedenheit. Und er ist nicht einfach ein Mechanismus zur demokratischen Willensbildung, auch wenn der «herrschaftsfreie Diskurs», den Jürgen Habermas als Methode zur Lösung der für eine Gesellschaft zentralen Fragen beschreibt, letztlich nichts anderes ist als ein Streit. Allerdings ein Streit, der durch Vernunft gebändigt ist und unter idealen Bedingungen abgehalten wird.
Svenja Flasspöhler macht an Habermas’ Kommunikationstheorie die Bedingungen fest, die nötig sind, damit Streit produktiv sein kann – und damit nicht mehr einfach ein Streit ist, sondern ein Diskurs. Sie zeigt aber auch die Grenzen der Theorie auf, wenn sie daran erinnert, dass sich Jürgen Habermas 2016 in einem Interview dagegen aussprach, sich mit AfD-Politikern ernsthaft auseinanderzusetzen. Diese «unsägliche Truppe», sagte er damals, verdiene keine Aufmerksamkeit.
Lästige Affekte
Als Reflex ist das nachvollziehbar. Aber Gesprächsverweigerung ist kein demokratiepolitisches Konzept. Flasspöhler zeigt daran beispielhaft, wo Streit entsteht: da, wo sich die eine Seite dem «zwanglosen Zwang des besseren Arguments» verschliesst, weil sie das infrage stellt, was im Diskurs als Vernunft gelten soll, und die andere Seite das Gespräch abbricht, weil sie ihre Vorstellung von Vernunft nicht antasten lassen will. Nicht mehr streiten, sondern canceln.
Herrschaftsfrei ist das nicht. Wer seine Vernunft zur einzigen, allgemein verbindlichen Vernunft erklärt, verlässt den Raum des freien Gesprächs, in dem die Vernunft, auf die sich alle verpflichten, erst ausgehandelt werden müsste. Zwanglosigkeit hört eben da auf, wo Ärger, Hass oder enttäuschte Liebe im Spiel sind – Affekte, die Immanuel Kant als lästige Störungen empfand. Denn sie lenken von dem ab, was Kant für unsere Aufgabe hielt: dem Gesetz der Vernunft zu gehorchen, das jeder Mensch in sich trägt.
Svenja Flasspöhlers Tour d’Horizon zeigt: Streiten heisst am Abgrund tanzen. Das ist beim Ehekrach nicht viel anders als bei Verhandlungen über das Klimaschutzgesetz. Und obwohl man dem Streit manchmal nicht ausweichen kann und eigentlich auch nicht soll: Man streitet immer trotzdem, das arbeitet Flasspöhler schön heraus. Man würde lieber gehen. Aber man bleibt. Vielleicht aus Trotz, vielleicht aus Ärger. Aber auch in der Überzeugung, dass es am Ende zu einer Lösung kommt. «Denn worüber es erlaubt sein soll zu streiten, da muss Hoffnung sein, untereinander übereinzukommen», hat Kant geschrieben. Das ist eine Hoffnung, nicht mehr. Und manchmal muss man sich zu ihr zwingen.
Svenja Flasspöhler: Streiten. Hanser-Verlag, München 2023. 128 S., Fr. 29.90.