Freitag, Oktober 11

Die Behandlung von Jugendlichen mit Geschlechtsdysphorie ist ein Thema, über das Mediziner und die Öffentlichkeit heftig streiten. Der Kinderpsychiater Alexander Korte will den sachlichen Diskurs mit einem Buch ankurbeln. Ob das etwas wird? Ein Gespräch.

Herr Korte, am Donnerstag erschien Ihr neues Buch. Fürchten Sie einen Shitstorm?

Ich fürchte mich nicht vor Widerrede – im Gegenteil. Ich habe mich auch nicht zurückgehalten mit Kritik im Buch. Diese ist allerdings in jedem einzelnen Punkt präzise wissenschaftlich begründet. Ich wünsche mir ebenso konstruktive Kritik – so dass wir endlich eine offene Debatte austragen. Gegenwärtig existiert diese nicht. Stattdessen verharren wir in einem ideologisch verminten, moralisierenden Konflikt, in dem jeder, der für Pubertätsblocker argumentiert, lieb, links und human ist. Und jeder mit Vorbehalten gilt als böse, rechts und menschenverachtend.

Ihr Buch heisst «Hinter dem Regenbogen» und ist gleichzeitig eine wissenschaftliche Monografie und ein politischer Debattenbeitrag. Zu Ihrer wissenschaftlichen Argumentation: Was kritisieren Sie genau an der gegenwärtigen Behandlung von Minderjährigen, die sich im falschen Körper fühlen?

Gegenstand meiner Kritik ist einerseits die Praxis der Pubertätsblockade, bei der Jugendlichen Medikamente verabreicht werden, um die Entwicklung des Körpers in der Pubertät aufzuhalten und damit eine spätere geschlechtsangleichende Operation zu erleichtern. Im Buch übe ich aber auch Kritik an der mutwilligen Beschädigung und ideologischen Besetzung unserer Sprache. Ja, auch der Wissenschaftssprache. Diese biedert sich einer fiktiv gendergerechten Wohlfühlwelt an – um den Preis der Wahrheitsfindung.

In Kürze erscheint eine neue Leitlinie, also ein Behandlungsleitfaden für den deutschsprachigen Raum. Dieser wurde scharf kritisiert, unter anderem von der Schweizerischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Hauptkritikpunkt: die Pubertätsblockade. Was ist das Problem damit?

Speziell an der Leitlinie kritisiere ich, dass sie einen ausschliesslich transaffirmativen Behandlungsansatz festschreiben, bei dem die Identifizierung des Kindes mit dem anderen Geschlecht nicht mehr kritisch hinterfragt werden darf. Stattdessen soll der Wunsch Minderjähriger als alleinige Wahrheit hingenommen und medizinisch erfüllt werden. Das halte ich für einen fatalen Fehler. Kinder und Jugendliche werden per Pubertätsblockade auf ein Gleis gesetzt, das mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit nur in eine einzige Richtung führt.

Wohin?

Die Studienlage zeigt eindeutig, dass rund 95 Prozent der Kinder, die Pubertätsblocker erhielten, sich in der Folge für die Behandlung mit gegengeschlechtlichen Hormonen und dann aller Wahrscheinlichkeit nach auch für eine körperverändernde Operation entscheiden. Frühere Studien zeigen hingegen, dass sich die Mehrheit der Jugendlichen, die ihre Pubertät ganz normal durchlaufen, im Laufe der Zeit mit ihrem Geschlecht aussöhnen – und damit einen gesunden, funktionierenden Körper behalten. Eine pubertätsunterdrückende und anschliessende Behandlung mit gegengeschlechtlichen Hormonen machen zu 100 Prozent unfruchtbar. Von langfristigen Beeinträchtigungen der Knochengesundheit, der sexuellen Erlebnisfähigkeit und der Hirnentwicklung gar nicht zu reden.

Vertreter des transaffirmativen Ansatzes argumentieren so: Dass sich so viele Jugendliche nach einer Pubertätsblockade für eine Geschlechtsangleichung entschieden, zeige doch nur, dass die Kinder wissen, was sie wollen und wer sie sind. Und das müsse man respektieren.

Dem halte ich ganz nüchtern entgegen, dass es in der Medizin eine Fehlerwahrscheinlichkeit von fast null nicht gibt. Stattdessen ist es hoch wahrscheinlich, dass wir mit der Pubertätsblockade starken Einfluss nehmen auf den Entwicklungsverlauf. Man kann dann nicht mehr einfach so zurück. Die wissenschaftlichen Befunde zeigen zunehmend, dass das Kosten-Nutzen-Verhältnis bei der Behandlung mit Pubertätsblockern schwer auf der Kostenseite liegt.

Die Verfasser der Leitlinie sagen, die Kosten seien leicht hinzunehmen. Denn Jugendliche mit Geschlechtsdysphorie seien häufig suizidal, es gehe also um Leben und Tod.

Diese Argumentation kenne ich, sie ist an Zynismus und Unprofessionalität kaum zu übertreffen. Fakt ist: Es gibt keine Belege dafür, dass eine frühzeitige Weichenstellung mit der Pubertätsblockade und Hormonbehandlung das Suizidrisiko senkt. Klar ist, dass es den betroffenen Minderjährigen häufig sehr schlecht geht. Neuere Befunde aus Finnland zeigen aber, dass die Suizidalität auf die typischen Begleiterkrankungen wie Depressionen, Angststörungen, Autismus zurückgeht. Und nicht auf die Geschlechtsdysphorie selbst. Besonders wichtig: Eine Behandlung mit Pubertätsblockern und Hormonen senkte das Suizidrisiko nicht. Ich finde die Suizid-Argumentation auch aufgrund des Werther-Effekts unverantwortlich.

Was meinen Sie damit?

Es gibt bei der Behandlung von Betroffenen oft so ein Geraune, man müsse die mögliche Suizidalität des Kindes im Blick behalten und deshalb am besten vorbeugend Pubertätsblocker geben. Damit setzt man die Eltern unglaublich unter Druck, der Behandlung zuzustimmen. Und Sie kennen ja bestimmt den Werther-Effekt: Man setzt auch den Jugendlichen mit der Suizid-Vermutung einen Floh ins Ohr und kann damit psychologisch etwas in Gang bringen – also einen Suizidwunsch erst entstehen lassen.

Wir leben in einer Zeit, in der das Gefühl sehr viel zählt – auch jenes von Minderjährigen. Wenn also ein 13-Jähriger sagt, er sei ein Mädchen, im falschen Körper geboren. Wie können Sie sich dann hinstellen und sagen: «Nein, das ist falsch?»

Das käme mir ja gar nicht in den Sinn, so etwas würde ich nicht sagen. Aber es ist erforderlich, dieses Narrativ zu hinterfragen, um den Jugendlichen zu schützen. Im falschen Körper geboren – wie soll das gehen? Gibt es etwa weibliche oder männliche Seelen? Es handelt sich um einen gesunden Körper, aber um ein dystopisches Erleben davon, wie er sich in der Pubertät verändert. Dafür kann es verschiedene psychologische Gründe geben. Einfach ausgedrückt, ist es häufig eine Art Scheitern an den Klippen der Pubertät. Zum Beispiel wissen wir, dass es bei den Ursachen Überschneidungen mit Essstörungen wie Anorexie gibt. Auch dort geht es häufig um eine Abwehr von Sexualität oder um Altersrollenkonflikte: Jugendliche haben Schwierigkeiten, in eine neue Rolle hineinzuwachsen. Soziale Netzwerke, soziale Ansteckung, sowie interessanterweise intensivere Geschlechtsstereotype verstärken das Phänomen.

In den achtziger Jahren gab es weniger geschlechtsspezifische Kleidung oder Spielzeug als heute.

Ja, wir waren schon einmal weiter. Meiner Meinung nach ist es wichtig, in einer ergebnisoffenen Psychotherapie mit dem Jugendlichen unter anderem zu erarbeiten, wo er vielleicht glaubt, typischen Geschlechterklischees entsprechen zu müssen. Das macht häufig einen Teil des Problems aus.

In diesem Jahr hat sich sehr viel getan: Der Cass-Report führte in Grossbritannien zu einer Abkehr von Pubertätsblockern, die dort nur noch in Studien eingesetzt werden. Auch in Finnland, Schweden, Dänemark und Australien hat es sich ähnlich entwickelt.

In Frankreich und Italien hinterfragt man die Praxis ebenfalls.

Mein Eindruck ist, dass bei dem im Grunde medizinischen Thema Geschlechtsdysphorie eine beispiellose Verstrickung von Politik und Zeitgeist eine sachliche Debatte verhindert. Warum passiert das ausgerechnet bei diesem Thema, auf dem Rücken von Jugendlichen?

Das Sexuelle ist zu allen Zeiten immer auch ein politisches Thema gewesen. Denken wir zurück an die Zeit der sexuellen Revolution in der 68er Generation. Das Sexuelle war immer Austragungsort von Generationenkonflikten. Damals ging es der Prüderie an den Kragen. Heute geht es nicht mehr um Liberalisierung, sondern um Selbstbezug, Selbstbeschränkung und um ein narzisstisches Motiv in einem narzisstischen Zeitalter, in dem sich das Individuum nur noch mit sich selbst beschäftigt. Auch die Hinwendung der Politik zu Fragen der Identitätspolitik, in denen es dauernd um Geschlecht und Ethnie geht, trägt dazu bei. Ich gebe zu Protokoll, dass ich mich politisch der bürgerlichen Mitte zuordne und keinerlei Bezüge zur AfD habe, wie mir und allgemein jenen unterstellt wird, die den transaffirmativen Ansatz infrage stellen.

Erst kürzlich kam es bei einer Fachtagung wieder zum Eklat, bei dem der kritischen Seite die Redezeit gekürzt wurde. Wie kann es den Fachpersonen in den deutschsprachigen Ländern endlich gelingen, einen sachlichen Diskurs zu führen?

Es ist schwierig, aus meiner Sicht wird der Diskurs schon beendet, bevor er überhaupt begonnen hat. Meine Haltung wird von transaffirmativen Kollegen als absolute Minderheitsmeinung dargestellt, was sie nicht ist, das dürfte inzwischen klar sein. Ich mache mit meinem Buch erneut ein Angebot zum Gespräch.

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