Vom Versuch zum Providurium: Der «Mehrzweckstreifen» auf der Nordstrasse sorgt für Ärger
Grossflächige, verschieden grosse Rechtecke zieren einen etwa 150 Meter langen Abschnitt der Nordstrasse im Zürcher Quartier Wipkingen. Was anmutet wie ein etwas überdimensioniertes Strassenkreide-Kunstwerk, ist eine Strassensignalisation. Vor fast vier Jahren hat das Tiefbauamt der Stadt Zürich den sogenannten «Mehrzweckstreifen» anstelle von zwei Fussgängerstreifen mit Verkehrsinseln angebracht. Versuchsweise bis im Frühjahr 2023.
Im Quartier sorgte der Mehrzweckstreifen zuerst bei so manchem für Verwirrung. Inzwischen ist die Konfusion Ärger gewichen. Wie Beni Weder, Präsident des Quartiervereins Wipkingen, am Mittwoch mitteilt, hat der Verein einen Anwalt engagiert.
Denn die probehalber angebrachte Signalisation ist zu einem Providurium geworden.
Beni Weder kann das nicht nachvollziehen. Der Anwalt werde nun abklären, ob die Signalisation mit dem versuchsweise eingeführten Mehrzweckstreifen rechtens sei.
Immer wieder komme es auf dem Strassenabschnitt zu brenzligen Situationen, sagt Weder – meist zwischen Velofahrern, die stehende Autos überholten, und Fussgängern. «Die Vorstellung, dass alle Verkehrsteilnehmer aufeinander achtgeben, weil man die Strasse angemalt hat, ist illusorisch. Vor allem auf einer Strasse mit 800 Querungen pro Stunde.» Allein schon die Tatsache, dass die Stadt in der Strassenmitte Poller aus Beton angebracht habe, zeige, dass der Mehrzweckstreifen nicht funktioniere. «Es braucht klare Verhältnisse, die für alle verständlich sind.»
Die Idee hinter der Neugestaltung der Nordstrasse: Fussgänger sollen die Strasse überall queren können. Anders als bei Fussgängerstreifen haben sie aber keinen Vortritt. Zudem solle der vielseitige Streifen auch «ein Stützpunkt für Fussgängerinnen und Fussgänger» sowie «ein Aufstellbereich für links abbiegende Auto- und Velofahrende» sein, hiess es 2021. Im April 2023 verkündete die Stadt, man ziehe eine positive Bilanz.
Umfrage mit 30 Personen
Wie das Tiefbauamt auf Anfrage schreibt, sei der Verkehr im Bereich des Mehrzweckstreifens langsamer unterwegs. Das erhöhe die Sicherheit. Zudem habe die Stadt eine Umfrage mit 30 Passanten durchgeführt. Mehr als die Hälfte habe angegeben, dass der temporäre Mehrzweckstreifen gut oder sehr gut funktioniere, 20 Prozent bewerteten ihn als genügend. «80 Prozent der Befragten haben angegeben, dass sie es begrüssen würden, wenn der Mehrzweckstreifen dauerhaft eingeführt werden würde.»
Der Quartierverein machte eine eigene Umfrage zum Mehrzweckstreifen – und kam zu einem anderen Ergebnis. Von 300 Teilnehmerinnen und Teilnehmern hätten sich 60 Prozent für eine Rückkehr zu Fussgängerstreifen und Inseln ausgesprochen. Im November 2023 überreichte der Verein dem Stadtrat eine Petition mit 1100 Unterschriften.
Fünf Monate habe es gedauert, bis der Verein Rückmeldung von der Stadtregierung erhalten habe: Es gebe noch keinen Konsens über das weitere Vorgehen, es würden alle Varianten geprüft. Seither ist fast ein Jahr vergangen.
«Was ist das für ein Demokratieverständnis?»
Weder ist konsterniert. «Was ist das für ein Demokratieverständnis?», fragt er rhetorisch. Besonders stossend sei, dass der Stadtrat den Anschein erwecke, er drücke sich vor einer Antwort.
Das Tiefbauamt beteuert, man nehme die Anliegen aus dem Quartier ernst. Die Stadt habe mit einem umfassenden Monitoring ein differenziertes Bild der Situation erhalten. «Wir haben zwei Verkehrserhebungen, Befragungen sowie Beobachtungen vor Ort durchgeführt.»
Die Umfrageergebnisse und die Petition des Quartiervereins würden ebenfalls in die Beurteilung einfliessen. Das Tiefbauamt möchte «diesen Anliegen wenn möglich gerecht werden». Deshalb würden verschiedene weiterführende Lösungen untersucht. Darunter Varianten mit Begegnungszone, Tempo 20 und Tempo 30 mit Fussgänger- und Velostreifen.
Stadt zeigt sich unbeirrt
Kritik hin oder her, die Stadt treibt das Konzept andernorts munter voran. Beispielsweise beim vielbefahrenen Verkehrsknoten an der Rämistrasse im Universitätsquartier oder auf der Uraniastrasse.
Im Kantonsrat reagierten die Bürgerlichen mit Schrecken auf die Pläne. Fussverkehr Schweiz, die Stiftung zur Förderung einer behindertengerechten baulichen Umwelt, sowie der VCS und Pro Velo Kanton Zürich wehren sich gegen die Pläne des Stadtrats – bisher ohne Erfolg. Der Stadtrat hat sämtliche Einsprachen zurückgewiesen.