Samstag, Oktober 5

Laut der Pharmaindustrie hemmen tiefe Preise und lange Preisverhandlungen den Zugang für Schweizer Patienten zu Medikamenten. Politik und Behörden drängen dagegen auf weitere Preissenkungen.

Das Leben ist voller Zielkonflikte. Mit solchen Zielkonflikten kämpft das Parlament derzeit im Rahmen eines Kostendämpfungspakets für das Gesundheitswesen. Das Paket hätte diesen Monat in den Nationalrat kommen sollen, doch die Vorbereitungsarbeiten der zuständigen Kommission gehen in die Verlängerung. So wird der Nationalrat das Geschäft frühestens in der Dezembersession beraten.

Der Grund für die Verzögerung ist der noch ungelöste Streit um die Medikamentenpreise. Die Bürger wollen dabei am liebsten den Fünfer und das Weggli: möglichst raschen Zugang zu allen neuen Medikamenten, aber das Ganze soll bitte nicht viel kosten. Doch je tiefer die Preise neuer Medikamente in der Schweiz sind, desto kleiner ist der Anreiz der Hersteller, hier möglichst rasch auf den Markt zu kommen.

Für Diskussionen in der Nationalratskommission sorgt etwa der Vorschlag, dass bei umsatzstarken Medikamenten künftig automatisch Rabatte möglich sein sollen. Dies könnte laut Schätzungen Einsparungen von «bis zu» 400 Millionen Franken pro Jahr bringen. Doch die Details sind noch offen.

Wink mit dem Zaunpfahl

Der Schweizer Ableger des Pharmakonzerns AstraZeneca hat vergangene Woche daran erinnert, dass die Schweiz beim Zugang zu neuen Medikamenten in Europa nur auf Rang 6 liegt. Basis der Aussage sind die jüngsten Erhebungen einer Marktforschungsfirma für den europäischen Pharmaverband.

Die Analyse umfasst die von den EU-Behörden von 2019 bis 2022 neu zugelassenen Medikamente. Erfasst wurden 167 Arzneimittel. 87 Prozent von diesen waren im Januar 2024 in Deutschland «voll verfügbar». Deutschland war damit Spitzenreiter. Dahinter folgten Italien, die Niederlande, Luxemburg und Österreich. Die Schweiz brachte es auf eine Quote von 48 Prozent, der EU-Durchschnitt lag bei nur 27 Prozent.

«Voll verfügbar» heisst hier, dass die Medikamente von der Grundversicherung der Krankenkassen regulär vergütet werden. Zählt man die Medikamente hinzu, die im Einzelfall vergütet werden können, lag die Schweizer Quote bei 70 Prozent. Dies ergab Platz 4 in Europa. Bei den Medikamenten für seltene Krankheiten stand die Schweiz auf Platz 6. «Mehr» muss aber nicht immer auch «besser» sein.

Grösse macht attraktiv

Der Branchenverband Interpharma nennt als Kriterien der Hersteller bei der Marktauswahl für Medikamente namentlich den Preis, die Effizienz der behördlichen Verfahren und das Marktvolumen. Die USA waren bisher für Produzenten besonders attraktiv wegen der Volumen und der Preise. Die EU verspricht ebenfalls hohe Volumen, doch nach der EU-Marktzulassung folgen die Preisverhandlungen auf nationaler Ebene.

In der EU ist Deutschland für die Hersteller attraktiv, weil es das grösste Marktvolumen und relativ hohe Preise hat. Deutschland kennt zwecks schneller Markteinführung für gewisse Heilmittel auch vorläufige Preise, welche die Hersteller selber festlegen können.

Auch in der Schweiz will nun das Parlament ein System mit vorläufigen Preisvergütungen über den Einzelfall hinaus. Dies soll den Zugang von Patienten zu gewissen Medikamenten beschleunigen. Doch laut einer neuen Studie von Forschern aus der Schweiz und den USA schneidet die Schweiz gemessen an der Dauer von der Zulassung eines Medikaments bis zur breiten Kostenübernahme schon relativ gut ab.

Gemäss der Analyse betrug die mittlere Dauer (Median) bei 290 untersuchten Medikamenten von 2011 bis 2022 in der Schweiz 5,8 Monate und war damit kürzer als in den vier Vergleichsländern Deutschland, USA, Frankreich und England (7,4 bis 17,7 Monate). Laut der Studie lag die Schweiz aber ein Jahr nach der Zulassung gemessen an der Quote der vergüteten Medikamente noch auf Platz 3 der fünf Länder.

«Die Untersuchungen relativieren eine Hauptmotivation von vorläufigen Preisfestsetzungen», sagt die beteiligte Forscherin Kerstin Vokinger, Professorin für Recht und Medizin an der Universität Zürich. Sie verweist auf eine Studie von 2023. Diese habe einen anderen Ansatzpunkt gezeigt: «Pharmafirmen reichen ihr Dossier für die Zulassung in der Schweiz im Median etwa vier Monate später ein als jenes in den USA und in der EU.»

Ein Bericht der Eidgenössischen Finanzkontrolle von 2023 kam zu ähnlichen Befunden. Erstens: Pharmafirmen reichten im Median ihr Zulassungsgesuch bei Swissmedic erst etwa 200 Tage später ein als jenes bei der Europäischen Arzneimittelagentur. Zweitens: Die Überprüfungszeiten bei Swissmedic und beim BAG seien international wettbewerbsfähig. Aber drittens: Das BAG könnte den Prozess mit provisorischen Anfangspreisen direkt nach der Zulassung um über 200 Tage verkürzen.

Mehrheitsfähig im Parlament

Eine generelle Regel für vorübergehende Preise bei speziell wichtigen Medikamenten dürfte im Parlament mehrheitsfähig sein. Aber die Definition der erfassten Medikamente und die Festlegung der Preise sind kontrovers. Der Ständerat hatte diesen Juni eine Version beschlossen, die laut BAG-Schätzung künftig etwa 10 bis 20 Prozent der neuen Medikamente erfassen könnte und die Preisfestsetzung ohne konkretere Anweisung dem BAG überliesse. Würden sich die Anfangspreise im Nachhinein als überhöht entpuppen, wäre eine Rückzahlung der Differenz durch die Hersteller vorgesehen.

Laut einem BAG-Papier würden die Preise in diesem Modell analog den geltenden Regeln zur Einzelfallvergütung festgelegt. Bei diesem Modell sei die Gefahr gross, dass es zum «Papiertiger» werde, sagt Interpharma: Der erfasste Kreis von Medikamenten sei klein (laut Branchenschätzung weniger als 6 Prozent), und die Preise könnten so tief ausfallen, dass sich für die Hersteller die sofortige Markteinführung nicht lohne.

Der Pharmaindustrie schwebten ein breiterer Erfassungskreis sowie eine Preisfestsetzung auf Basis des traditionellen Auslandpreisvergleichs mit den neun europäischen Referenzländern vor. Das BAG hatte für dieses Modell einen Kostenzuwachs von 260 Millionen Franken pro Jahr prognostiziert – trotz Rückerstattungspflicht der Hersteller bei überhöhten Preisen.

Weil viele Länder vor allem bei teuren Medikamenten vertrauliche Rabatte gewähren, verzerrt der Vergleich offizieller Preise das Bild. Deshalb sieht die provisorische Preisfestlegung bei der derzeitigen Einzelfallvergütung Abschläge von oft 30 bis 40 Prozent der ausländischen Vergleichspreise vor. Die Sache wird noch viel zu reden geben.

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