Freitag, März 21

François Bayrou steht derzeit an allen Fronten unter Druck. Der Premierminister muss eine Revolte der Gewerkschaften überstehen, seine Minister im Zaum halten und einen jahrzehntealten Missbrauchsskandal aufklären. Wie lange hält er sich noch im Amt?

Wütend sei François Bayrou gewesen. So wütend, dass der Premierminister am Dienstag fünf wichtige Minister in sein Büro einlud und sie zur Rede stellte. Es ging um die Frage, ob das islamische Kopftuch nicht nur im Sportunterricht, sondern auch bei Wettkämpfen ausserhalb der Schulen verboten werden sollte. Mehrere Kabinettsmitglieder waren bei diesem Thema, das in Frankreich seit je die Gemüter erregt, heftig aneinandergeraten.

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Krach über das Kopftuch

Man müsse das Verschleierungsverbot vollständig durchsetzen, da es um den Kampf gegen den Islamismus und den Schutz der laizistischen Prinzipien gehe, hatte der Justizminister Gérald Darmanin gefordert. Man müsse das Verbot sogar noch ausweiten und auch Begleitpersonen der Schulklassen das Kopftuch untersagen, sekundierte der Innenminister Bruno Retailleau. Nein, widersprachen da Élisabeth Borne, die Bildungsministerin, und Marie Barsacq, die Sportministerin: Man müsse den Verbänden die Entscheidung überlassen und sich davor hüten, Kopftuchträgerinnen pauschal mit Radikalen gleichzusetzen.

Auch Bayrou findet, dass religiöse Symbole an öffentlichen Sportveranstaltungen in Frankreich nichts zu suchen haben. Dennoch fuhr der Premierminister seinem konservativen Innenminister, wie «Le Figaro» erfuhr, während der Aussprache mit den Worten «Halt die Klappe!» über den Mund. Retailleau, der zuvor schon wegen einer anderen Sache mit Rücktritt gedroht hatte, soll nur mit grosser Mühe zum Bleiben bewogen worden sein.

Dabei gehört das Thema Kopftuch derzeit noch zu den kleineren Problemen, die François Bayrou ins Haus stehen. Der Premierminister, der am Sonntag seine ersten hundert Tage im Amt überstanden haben wird, hatte im Januar versprochen, die ungeliebte Rentenreform zu überprüfen, bei der das Renteneintrittsalter von derzeit 62 auf 64 Jahre erhöht werden soll. Das sicherte ihm die Unterstützung mehrerer linker Abgeordneter im Parlament, die zusagten, vorläufig darauf zu verzichten, Bayrou mit einem Misstrauensvotum zu stürzen. Als Chef einer Minderheitsregierung aus Zentristen und Konservativen muss der 73-Jährige jederzeit damit rechnen, dass ihn die Opposition aus Linken und Rechten aus dem Amt jagt.

Im Februar rief Bayrou deswegen ein sogenanntes «Konklave» aus Vertretern von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden ins Leben, das angeblich ergebnisoffen über die Zukunft des Rentensystems verhandeln sollte. Dann aber hielt Emmanuel Macron am 5. März eine dramatische Rede an die Nation, in der er eindringlich vor Russland warnte – und kurz darauf erklärte sich auch Bayrou gegenüber den Franzosen: Er sei jetzt definitiv gegen eine Rückkehr zur Rente mit 62, weil sich das Frankreich mit seiner angespannten Haushaltslage, dem Druck der Finanzmärkte und den wirtschaftlichen Unsicherheiten durch die Politik der USA einfach nicht leisten könne.

Die linke Gewerkschaft CGT verliess das Konklave umgehend. Ihre Chefin Sophie Binet warf dem Premierminister Wortbruch vor und rief zu neuen Protesten auf. Auch bei den Sozialisten ist der Ärger gross. Bayrou, sagt ihr Generalsekretär Olivier Faure, könne sich nun nicht mehr darauf verlassen, dass ihn seine Partei auf Gedeih und Verderb weiter unterstütze.

Gedächtnisverlust?

Auf der rechten Seite des Parlaments beklagt sich unterdessen Laurent Wauquiez, der Vorsitzende der Republikaner, von Bayrou kleingehalten zu werden. Die konservative Partei ist Teil der Regierung, aber bei Verschärfungen in der Einwanderungspolitik kann es ihr nicht schnell genug gehen. Vor allem aber fordern Wauquiez und sein parteiinterner Rivale Retailleau harte Kante gegen Algerien. Das Regime in Algier weigert sich, abgelehnte Asylbewerber zurückzunehmen. Retailleau will deswegen ein historisches Abkommen mit der früheren Kolonie aufkündigen, das Algeriern die Einreise nach Frankreich erleichtert.

Bayrou ist inzwischen umgeben von Fallstricken. Nur 25 Prozent der Franzosen, heisst es in einer aktuellen Umfrage, haben noch eine positive Meinung über ihn – und das hat auch mit der sogenannten Bétharram-Affäre zu tun. Bei dem Missbrauchsskandal um das katholische Gymnasium Notre-Dame de Bétharram wurden Schüler über Jahrzehnte hinweg misshandelt, geschlagen und sexuell missbraucht. Bayrou wurde von dem Skandal unlängst eingeholt, denn zwischen 1993 und 1997 war er französischer Erziehungsminister und hätte damals eine Untersuchung der Schule anordnen können.

Bayrou behauptet, über die Vorfälle nicht informiert worden zu sein, doch Zeitzeugen widersprechen ihm. So berichtet eine ehemalige Mathematiklehrerin, dass Bayrous Frau, die an der Schule unterrichtete, im Jahr 1996 auf die Schreie eines geprügelten Schülers mit Gleichgültigkeit reagiert habe. Als Erziehungsminister verteidigte Bayrou die Schule sogar über Jahre, während er für die Opfer keine Worte fand. Inzwischen wurde wegen der Nichtanzeige von Straftaten eine Klage gegen ihn eingereicht.

Bei seiner Antrittsrede im Januar hatte Bayrou noch gescherzt, dass 84 Prozent der Franzosen nicht glaubten, dass seine Regierung bis Ende des Jahres bestehen werde. Und er frage sich, «wo die verbleibenden 16 Prozent ihren Optimismus hernehmen». Nun scheint es, als könnte der Premierminister schneller aus dem Amt scheiden, als ihm lieb ist.

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