Donnerstag, Januar 16

Seit heute ist klar, dass die vom Parlament im September beschlossene weitgehende Lockerung in Kraft treten wird. Die Folgen für den Wohnungsbau und für die Städte in fünf Punkten.

Seit Jahren blockieren strenge Lärmschutzvorgaben viele Bauprojekte, obwohl der Wohnraum in den Städten knapp und teuer ist.

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Jetzt ist es definitiv, dass die Bestimmungen zum Lärmschutz massiv gelockert werden. Am Donnerstag läuft die Referendumsfrist gegen das neue Gesetz ab, und weder Grüne noch andere Organisationen im Bereich Gesundheit oder Lärmschutz haben ein Referendum lanciert. Wird das neue Gesetz die Probleme lösen?

1. Warum ist der Lärmschutz ein Problem für den Wohnungsbau?

Das Umweltschutzrecht schreibt vor, dass man an lärmgeplagten Strassen nur dann bauen darf, wenn man strenge Lärmgrenzwerte einhält.

Teilweise können die Behörden Ausnahmen machen, etwa, wenn der Bauherr ein detailliertes Konzept zum Lärmschutz vorlegt und wenn er ein «überwiegendes Interesse» an dem Vorhaben geltend machen kann. Doch in der Praxis haben die Bestimmungen viele Bauprojekte verzögert und blockiert.

Als Ausweg aus diesem Dilemma hat rund die Hälfte der Kantone die sogenannte Lüftungsfensterpraxis eingeführt. Diese beinhaltete, dass in einer Wohnung wenigstens ein Fenster auf eine ruhigere Seite zeigt und Bewohner dieses zum Lüften öffnen können. Doch das Bundesgericht erklärte diese Praxis 2016 für unzulässig. Das Vorgehen der Kantone höhle den Gesundheitsschutz aus und verstosse gegen Bundesrecht.

Damit blockierte das Gericht auf einen Schlag viele Wohnbauprojekte, die angesichts steigender Mieten und der akuten Wohnungsknappheit dringend benötigt gewesen wären. Bauprojekte wurden noch stärker zur Konfliktzone: Während der Architekt glaubte, alle Lärmschutzvorgaben korrekt eingehalten zu haben, nutzten Nachbarn und Rekurrenten dieselben Vorschriften oft, um unerwünschte Bauprojekte mit diesem Vorwand abzuschiessen.

Investoren, aber auch viele Architektinnen und Architekten kritisieren den Status quo: «De facto führte der Lärmschutz zu unangenehmen und jahrelangen Rechtsstreitigkeiten», sagt der Architekt Albi Nussbaumer aus Zug. Der Handlungsbedarf war also offensichtlich.

2. Wie sehen die neuen Lärmschutzvorgaben aus?

Zuerst wollte der Aargauer Nationalrat Beat Flach (GLP) mit einer Motion die Lüftungsfensterpraxis national verankern und damit den umstrittenen Bundesgerichtsentscheid rückgängig machen.

Das Parlament beschloss im September dann aber eine massive Lockerung des Lärmschutzes im Umweltschutzgesetz, die weit über den Vorstoss von Flach hinausgeht. Wenn Bauherren die Grenzwerte nicht einhalten können, können sie laut dem neuen Gesetz eine kontrollierte Wohnraumlüftung installieren: Diese sorgt in einem Haus oder in einer Wohnung automatisch für frische Luft, ohne dass Fenster geöffnet werden müssen. Diese Technik hat sich im Wohnungsbau seit 20 Jahren bewährt.

Und es gibt weitere Alternativen. Nach dem neuen Gesetz soll man auch ohne Lüftung bauen können, wenn man die Grenzwerte zumindest in der Hälfte der Wohn- und Schlafzimmer an einem Fenster einhält. Damit geht das neue Gesetz über die Lüftungsfensterpraxis hinaus: Neu wird es sogar möglich sein, einzelne Wohn- und Schlafzimmer nach der von Lärm betroffenen Gebäudeseite auszurichten.

3. Warum hat niemand das Referendum ergriffen?

Der Städteverband sparte nicht mit Kritik an der beschlossenen Lösung: «Der Lärmschutz wird auf Kosten der Bautätigkeit aufgeweicht, die Lebensqualität der Stadtbevölkerung wird geopfert», schrieb er in einer Mitteilung zum Parlamentsentscheid.

Auch die SP-Nationalrätin Jacqueline Badran stellte sich vehement dagegen: «Das Parlament hat aus dem Lärmschutz einen Immobilieneigentümerschutz gemacht.» Dennoch ergriffen linke und mieternahe Kreise das Referendum nicht.

Michael Töngi, Nationalrat der Grünen und Vizepräsident des Mieterverbandes, sagt, man habe mit der Referendumsdrohung allein das Schlimmste verhindert: «Wir haben damit gedroht, um extreme und sachfremde Positionen aus dem Gesetz zu kippen.» Dieses Ziel habe man erreicht.

4. Erhält die Schweiz jetzt endlich mehr Wohnraum?

Die meisten Investoren und Bauherrschaften begrüssen die Gesetzesrevision. Der Baukonzern Implenia schreibt: «Wir hoffen, dass der durch die Bundesversammlung eingeschlagene Weg weiter vorangetrieben wird.» Denn im Kern gehe es darum, das verdichtete Bauen zu erleichtern.

Die Baugenossenschaft Oberstrass in Zürich reagiert ebenfalls mit Erleichterung. Der Ersatz hundertjähriger Wohnhäuser an der Winterthurerstrasse ist seit Jahren wegen des Lärmschutzes blockiert. Deren Präsident Mathias Ninck sagt: «Es freut uns, dass für das Bauen an lärmigen Lagen wieder mehr Planungs- und Rechtssicherheit in Aussicht ist.»

Ähnlich äussert sich Andreas Gysi, Geschäftsführer der Zürcher Stiftung PWG: «Wenn der Parlamentsentscheid eins zu eins umgesetzt wird, wäre die Planungssicherheit grösser, da das Risiko von Einsprachen sinken würde.»

Manche Fachleute melden aber Vorbehalte an, etwa der Zürcher Baujurist Niklaus Schoch. Die Wirkung für Bauprojekte in Ballungszentren bleibe wohl «begrenzt»: «Die weit gefasste Rekursberechtigung lässt es ohnehin zu, gegen Bauvorhaben einfach andere Themen ins Feld zu führen als den Lärmschutz.»

So wie Schoch befürchten auch viele Investoren, dass das Inventar der schützenswerten Ortsbilder der Schweiz von nationaler Bedeutung (Isos) künftig verstärkt Hindernisse schaffen könnte. So sind zum Beispiel 75 Prozent des Zürcher Stadtgebiets im Isos-Inventar erfasst.

Das setzt viele Projekte Risiken aus, da stets zu prüfen ist, ob geschützte Ortsbilder beeinträchtigt werden könnten. Laut Schoch könnten potenzielle Rekurrenten diese Karte vermehrt spielen, um Projekte zu blockieren. Der Bauprozess ist damit wohl auch in Zukunft mit einigen Risiken und Schwierigkeiten verbunden.

5. Wie lange dauert es, bis die neuen Regeln greifen?

Bis klare Regeln in Kraft treten, wird es laut dem Bundesamt für Umwelt (Bafu) noch zwei bis drei Jahre dauern. Grund dafür sind offene Punkte, die erst in einer Verordnung geklärt werden müssen – inklusive einer Vernehmlassung. Diese Übergangszeit sorgt für Rechtsunsicherheit.

Der vom Parlament verabschiedete Gesetzestext enthält neue Begriffe und technische Massnahmen. Wie all dies konkret auszulegen ist, ist noch völlig offen.

Der Zürcher Architekt Christian Scheidegger sagt, es liege nun an Bauherrschaften und Architekten, trotz gelockerten Regeln gesunden und lebenswerten Wohnraum zu schaffen.

Albi Nussbaumer ergänzt, in der Vergangenheit seien aufgrund der Vorschriften teilweise fragwürdige Gebäude im öffentlichen Raum entstanden. Er hält es zudem für gut möglich, dass die Lärmbelastung an Strassen und im öffentlichen Raum in Zukunft stark reduziert werden könnte. Er denkt dabei an «technische Innovationen, nahezu geräuschlose E-Fahrzeuge, Temporeduktionen, eine andere Verkehrsführung oder bessere Strassenbeläge».

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