Donnerstag, November 13

Litauen kündigt das internationale Streubombenabkommen und argumentiert mit der nationalen Sicherheit. Doch was wiegt schwerer: das Recht auf Selbstverteidigung oder humanitäres Völkerrecht?

Eigentlich sind sich die meisten einig: Streubomben sind eine äusserst problematische Waffe. Sie treffen ihr Ziel nicht genau, sondern dienen dazu, die Munition in sehr grosser Stückzahl über ein weites Gebiet zu verstreuen. Diese trifft immer wieder auch Zivilisten. Beim Aufprall explodieren selten alle Sprengkörper. Bis zu 30 Prozent bleiben gemäss Schätzungen als Blindgänger liegen und werden so zu einer jahrzehntelangen Gefahr. Deshalb haben 124 Staaten bis heute ein Verbotsabkommen unterzeichnet.

Litauen ist nun das erste Land, das diese Vereinbarung kündigt. Dies hat das Parlament im Juli mit 103 zu 1 Stimme beschlossen. Es war die Angst vor Russland, die zum deutlichen Entscheid geführt hat. Das litauische Verteidigungsministerium argumentiert damit, dass das Verbot von Streumunition Litauens Verteidigungsfähigkeit einschränke. Der zuständige Minister Laurynas Kasciunas sagte im Parlament: «Es wäre sehr falsch, wenn ein Land bei der Vorbereitung seiner Verteidigung sofort sagen würde, welche Kapazitäten es nicht einsetzen wird.»

Doch rechtfertigt die Selbstverteidigung den Einsatz einer Waffe, bei deren Verwendung nicht zwischen Kombattanten und Zivilisten unterschieden werden kann?

Ein Dilemma zwischen Völkerrecht und militärischen Vorteilen

In seinem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine setzt Russland Streumunition gezielt gegen Zivilisten ein. Der Kreml hat das Verbotsabkommen nie unterzeichnet. Ebenso wenig wie die Ukraine, China oder die USA. Die litauische Regierung argumentiert damit, dass sowohl Russland als auch Weissrussland in einem bewaffneten Konflikt mit Litauen zweifellos Streumunition nutzen würden. Damit hätten die Angreifer einen militärischen Vorteil.

Ausser den USA erlauben noch mehrere andere Verbündete Litauens Streumunition. Auf der Europakarte zeigt sich ein deutliches Bild: Jene Staaten, die die umstrittene Waffe noch im Arsenal führen, liegen alle in geografischer Nähe zu Russland. Es sind Litauens Nachbarländer Lettland und Polen sowie Estland, Finnland, Rumänien und die Türkei. Bis dato hätten sie die Streumunition nicht auf litauischem Boden einsetzen dürfen, wenn sie Litauen zu Hilfe geeilt wären. Seit die USA Streumunition an die Ukraine liefern, wurde in Litauen über eine Kündigung des Abkommens diskutiert.

Die Regeln der Kriegsführung gelten jedoch auch bei der Selbstverteidigung. Das bedeutet, dass Streumunition nur gegen militärische Ziele eingesetzt werden darf – und genau das ist mit der unpräzisen Waffe schwierig. In einem Interview mit der NZZ sagte der Völkerrechtler Marco Sassòli vor einem Jahr: «Wenn wir zulassen, dass man im Verteidigungsfall das humanitäre Völkerrecht verletzen darf, ist es tot.»

Sorge um die Abrüstung

Die litauische Regierung hat versichert, dass der Austritt nicht bedeute, dass das Land den Grundsätzen des humanitären Völkerrechts nicht mehr folge. Der Verteidigungsminister Kasciunas sagte vor dem Parlament, dass es heute möglich sei, die Waffe viel verantwortungsbewusster einzusetzen als in der Vergangenheit. «Es gibt viel modernere Technologien. Es ist viel effizienter. Es ist viel sicherer.»

Davon sind nicht alle überzeugt. Das Nato-Mitglied Norwegen, das einst das Verbot von Streumunition mitinitiiert hat, kritisiert den litauischen Entscheid scharf. «Zivilisten müssen geschützt werden. Doch 90 Prozent der Opfer von Streumunition sind Zivilisten», heisst es in einer Medienmitteilung des norwegischen Aussenministeriums. Man verstehe die litauischen Sorgen, doch Abrüstungsvereinbarungen gälten nicht nur in Friedenszeiten – im Gegenteil.

Von der internationalen Koalition gegen Streubomben und Landminen wurden Befürchtungen geäussert, dass Litauen zu einem Präzedenzfall werden könnte. Unbegründet sind diese nicht. Nach Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine ist die Zeit der Abrüstung einer kollektiven Aufrüstung gewichen.

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