Mittwoch, November 6

Sean Baker beschäftigt sich in seinen Filmen fast immer mit Sexarbeit. Völlig unverkrampft. Sein neustes Werk ist so beglückend, dass es dafür die Goldene Palme gab.

Während sich die junge Stripperin Anora auf einem riesigen Luxussofa an ihren noch jüngeren Ehemann Ivan schmiegt, drückt der genervt auf den Knöpfen seines Game-Controllers herum. Die Zigarette im Mundwinkel, das Koks liegt bereit, die Dollarscheine fliegen nur so durch die Luft: Die beiden Frischverheirateten lassen es sich gutgehen in der amerikanischen Ostküstenvilla eines russischen Oligarchen, dessen Sohn Ivan ist. Wer schon einmal einen Film gesehen hat, weiss, dass das nicht gut enden wird.

Ivan hat Anora, die lieber Ani genannt werden möchte, in einem Stripklub kennengelernt, sie hat für ihn getanzt und ein bisschen Russisch gesprochen, obwohl sie ihre Herkunft lieber versteckt. Das hat ihn begeistert, und was ihn begeistert, das will er besitzen. Er hat Anis sexuelle Dienste zunächst sporadisch und dann für eine ganze Woche exklusiv gekauft.

Ani hat mitgespielt, sie kann das Geld gebrauchen, und sie mag das dekadente Sonnenkind, ein über den Dingen schwebender Schönling, der sich alles leisten kann. In einem ekstatischen Augenblick haben die beiden in Las Vegas geheiratet. Es ist der Beginn und gleichzeitig das Ende eines Märchens, dessen Moral ungefähr lautet: Traue nicht dem Gold. «Pretty Woman», aber ganz anders.

Skurrile russische Handlanger

Man sieht der Ekstase dieser jungen, von Geld gekauften Liebe zu und ahnt, dass es so nicht weitergehen kann. Denn als die Eltern des russischen Elitesohnes von seinem Lebenswandel Wind bekommen, hetzen sie eine skurrile Gruppe überforderter Handlanger auf Ani und Ivan, bevor sie schliesslich selbst die Reise in die Vereinigten Staaten antreten.

«Anora» ist ein atemloser Film in fünf langen Sequenzen mit einem starken Gefühl für Raum und Zeit. Man begleitet das Kennenlernen von Ani und Ivan, dann das jähe Ende der weltflüchtenden Romantik, in der sich Ani verliert. Es folgen die Suche nach dem weglaufenden Ivan, die Begegnung mit den Eltern und schliesslich die Annäherung zwischen Ani und Igor, einem der Handlanger, der meist melancholisch dreinschaut. Mehr gibt es nicht zu sehen, aber alles wird so ausufernd betrachtet, dass man sich fast in einer epischen Erzählung wähnt. Das ist in erster Linie unterhaltsam, aber gleichzeitig auch exemplarisch für die Bedürfnisse des zeitgenössischen Kinos.

Der gekonnt zwischen Komödie und Drama balancierende Rausch von einem Film hat Sean Baker («Red Rocket», «The Florida Project») in Cannes die Goldene Palme eingebracht. Es ist bereits sein fünfter Film, der sich mit Menschen beschäftigt, die mit ihrer Sexualität Geld verdienen. Aus den entsprechenden Communitys erfährt Baker höchstes Lob, weil er Sexarbeiter nicht als Opfer darstellt.

Seine Drehbücher folgen keiner Betroffenheitsdramaturgie, er interessiert sich akribisch für sprachliche Feinheiten, Kleidung und soziale Codes, kurz für das Milieu seiner Figuren. In «Anora» aber gilt Bakers Hauptinteresse keineswegs der Sexarbeit, vielmehr hat es ihm die russische Expat-Gesellschaft rund um Coney Island angetan, eine surreal anmutende Welt zwischen endlosen Partys und elitären Restaurants.

Darstellerin aus «Better Things»

Glaubt man den Reaktionen auf Bakers Filme, hängt sein künstlerischer Erfolg vor allem an der Empathie, die er seinen Figuren entgegenbringt. Gemeint ist mit dieser den heutigen Filmdiskurs dominierenden Worthülse sein zugewandter, nicht urteilender Zugang zur Titelfigur, die von Mikey Madison gespielt wird. Man kennt die Darstellerin aus der Comedyserie «Better Things», hier nutzt sie ihr Timinggespür zugleich für tragische wie komische Szenen.

Tatsächlich legt sie ihre Figur faszinierend ambivalent an, sie ist eine naive Träumerin und leistet doch forsch Widerstand. Sie ist furchtlos und doch ängstlich, verletzlich und doch stark. In ihr bewahrt sich ein Glaube an die Liebe, der wie ein Fremdkörper wirkt in den tranceartigen Szenen, in denen alle kuschen vor den lange unsichtbaren Oligarcheneltern.

Einzig der etwas tollpatschige Igor (Yuriy Borisov), der dabei hilft, Ivan (Mark Eydelshteyn, auf dessen Gesicht sich jeder Schatten eines Verantwortungsbewusstseins verflüchtigt) wieder einzufangen, scheint den Glauben an ein bisschen Aufrichtigkeit, ein wenig Zärtlichkeit mit ihr zu teilen. Zwischen den beiden entwickelt sich eine herrlich unwahrscheinliche Nähe, die das Romantische endgültig über das Sozialrealistische triumphieren lässt.

ANORA - Official Redband Trailer

Glaubhaftes Happy End

So ist das heute im Kino, der Kitsch regiert, es gilt nur die Frage, wie schlau er verkauft wird. Oder aber ist dieser Kitsch genau die Antwort auf die erkaltete Wirklichkeit? Tatsächlich berühren in «Anora» vor allem die kurzen Augenblicke der Würde und Hingabe, die Momente des Glücks, die Baker seinen Figuren schenkt und die anderen Filmen heute oft fehlen.

Es wäre wohl leichter, pessimistisch oder fatalistisch zu sein, Baker findet einen Weg, die grosse Hollywood-Tradition des glaubhaften Happy Ends fortzuschreiben. Nicht im Sinne eines «Ende gut, alles gut», sondern indem er einen Weg aus der ewigen Kette aus Leistung und Bezahlung zeigt. Und weil er ein Gefühl auslöst, das einen an das Gute im Menschen glauben lässt. Derart verbündet sich der Film mit seiner Hauptfigur. Beide vertreten die Seite der Romantik.

Die Empathie, die Baker zugeschrieben wird, hängt vor allem an seiner Fähigkeit, die Zuschauer zur Identifikation mit randständigen Figuren zu bewegen. Das ist relevant, weil Ani eine Figur ist, deren Milieu vielen fremd sein dürfte. Man identifiziert sich mit Ani, obwohl sie in vielen Dingen anders denkt als man selbst.

Ani würde sich «Anora» nicht anschauen, sie würde nicht wissen, was eine Goldene Palme ist, sie stört sich auch nicht am russischen Geld, an den Drogen, der Dekadenz, sie besitzt keine der Marker, die man heute als Moral bezeichnen würde. Und doch ist sie eine zutiefst moralische Figur.

Figuren aus dem Trump-Milieu

Baker schreibt seine Hauptfiguren mit dem Ziel, eine Kritik am vorherrschenden gesellschaftlichen Bild zu üben. Es sind Figuren aus Milieus, die den Kern der amerikanischen Gesellschaft bilden, unter ihnen sind Trump-Wähler, Kriminelle, Ungebildete und vom Diskurs vergessene Drifter, denen Baker nachforscht.

Er näht ein dramaturgisches Korsett, das Figuren gegen die Vorurteile und allgemeinen Erwartungen antreten lässt. Man sieht hier nicht die üblichen leidenden Intellektuellen des Kunstkinos, man sieht Menschen, die an das Leben glauben, das sie nicht haben. Diese Figuren verkörpern eine Idee, die fast einer Ideologie gleichkommt, man könnte es einen «Optimismus trotz allem» nennen.

Vielleicht macht das Baker zum prädestinierten Filmemacher einer Branche und einer Zeit, die händeringend nach Lösungen sucht, um Freude im apokalyptischen Gesamtgefühl empfinden zu können und zu dürfen. Ein Kino, das Spass macht, ohne zu verblöden. Das ist manchmal etwas angestrengt und formal uninspiriert, aber geht letztlich auf.

Eine Welt ohne Rückgrat

Sein Film betreibt Eskapismus, allen Figuren im Film geht es trotz ausbleibender Krankenversicherung und enger Wohnung recht gut, man muss sich nicht sorgen, aber er erzählt eben auch eine märchenhafte Parabel über den Einfluss des Geldes und der Macht, die damit einhergeht. Das ist nicht besonders tiefgehend, aber manövriert den Film aus den allzu seichten Gewässern, in die er manchmal anbiedernd zu steuern droht. Denn sämtliche Figuren tanzen hier nur nach einer anderen Figur, an deren Tropf sie hängen.

«Anora» zeigt so in seinen absurdesten Momenten das entstehende Chaos einer Welt, in der niemand mehr Rückgrat besitzt. Dann hängen die russischen Schergen am Telefon und fürchten den nächsten Befehl, zertrümmern mit Baseballschlägern einen Kiosk und wissen gar nicht, weshalb, und entschuldigen sich stets in formellen Floskeln, nachdem sie Gewalt haben anwenden müssen.

Und diejenigen, die sich lieben, glauben so wenig daran, dass sie es gar nicht bemerken. Zugleich aber schimmert immer ein menschlicher Überschuss in den Handlungen, es gibt ein Verständnis für die Unverstandenen, und das könnte dann auch mit Empathie gemeint sein.

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