Laut den jüngsten Strommarktszenarien ist die Importkapazität der Schweiz auf Basis eines Abkommens mit EU-Ländern etwa viermal so gross wie ohne Vereinbarung.
Der Strom fliesst automatisch aus der Steckdose. So denkt man. Bis er plötzlich nicht mehr fliesst. Die Schweizer sind bei der Versorgungssicherheit verwöhnt. Von 2014 bis 2023 fiel die Stromversorgung im Mittel pro Endverbraucher nur etwa 20 Minuten pro Jahr aus – und die Hälfte davon betraf geplante Stromunterbrüche.
Wesentlich länger mussten vor knapp zwei Wochen viele Spanier und Portugiesen ohne Strom auskommen: In weiten Teilen der beiden Länder fiel die Stromversorgung um bis zu 18 Stunden aus. Es ging dabei nicht um einen strukturellen Strommangel, sondern um einen plötzlichen Zusammenbruch des Stromnetzes. Die Ursachen sind noch Gegenstand von Untersuchungen.
Ein Blackout lasse sich auch in der Schweiz nicht ausschliessen, sagte Werner Luginbühl, Präsident der Eidgenössischen Elektrizitätskommission (Elcom), am Donnerstag vor den Medien in Bern. Aber die Schweiz habe relativ günstige Voraussetzungen. Das Land sei stark mit dem europäischen Stromnetz verbunden, und auch die hiesige Wasserkraft helfe der Stabilität.
Gerüstet für nächsten Winter
Die Elcom präsentierte am Donnerstag ihre neusten Analysen zur Versorgungssicherheit. Potenzielle Engpässe sind vor allem im Winter zu erwarten. Die Schweiz war in den letzten zwanzig Jahren im Winterhalbjahr meist Nettoimporteur.
Im Winter 2024/25 war die Versorgungssicherheit in der Schweiz laut Elcom «durchgehend gewährleistet» – namentlich dank relativ mildem Klima, starker Inlandproduktion und genügend Importkapazitäten. Auch für den kommenden Winter ortet die Behörde eine positive Ausgangslage.
Zu den zentralen Beurteilungskriterien für den nächsten Winter gehören: die Gasverfügbarkeit in Europa (zurzeit relativ tiefer Füllstand und deshalb ein Unsicherheitsfaktor), die Verfügbarkeit der französischen Kernkraftwerke (zurzeit als hoch eingeschätzt), die Importkapazität der Schweiz (gut bei geregelter Beziehung zu den EU-Ländern) und die Schweizer Inlandproduktion (positiver Ausblick). Angesichts anhaltender Unsicherheit gibt die Elcom aber «keine vollständige Entwarnung» für den kommenden Winter – so dass wie für den letzten Winter eine Wasserkraftreserve angebracht sei.
Die Elcom legte zudem aufdatierte Einschätzungen zu den mittelfristigen Perspektiven vor. Ein Bestandteil davon sind Simulationen anhand verschiedenster Szenarien für 2028, 2030 und 2035. Untersucht wurden ein Grundszenario sowie 13 Stressszenarien – und dies jeweils kombiniert mit 36 verschiedenen Wetterlagen. Die Stressszenarien umfassen verschiedene Kombinationen von Produktionsausfällen im In- und Ausland sowie Netzengpässen.
Laut den Analysen könnte es bereits im Basisszenario bei ungünstigen Wetterlagen 2030 und 2035 zu einem (leichten) Strommangel kommen. Deutlich grösser ist der erwartete Strommangel naturgemäss in den Stressszenarien. Eine generelle Erkenntnis aus den Rechnungen: Die Kapazitäten der grenzüberschreitenden Leitungen spielen eine zentrale Rolle.
Bei besonders strengen Szenarien mit gleichzeitigen Produktionsausfällen im In- und Ausland und eingeschränkter Importkapazität ist der Strommangel in der Schweiz laut den neusten Einschätzungen so gross, dass er kaum mehr mit inländischen Reserven auszugleichen ist: Reserven von mehreren tausend Megawatt seien «unrealistisch».
Vier- bis fünfmal Leibstadt
Im Interesse der Versorgungssicherheit braucht die Schweiz laut dem Elcom-Präsidenten ein Stromabkommen mit der EU oder eine technische Vereinbarung mit den EU-Ländern. Die jüngsten Szenarienrechnungen unterstellen beim Vorliegen eines politischen oder technischen Abkommens eine Schweizer Importkapazität von 8000 Megawatt. Ohne ein solches Abkommen wären es laut den Abschätzungen nur 1800 bis 2800 Megawatt. Die Differenz entspricht vier- bis fünfmal der Leistung des Kernkraftwerks Leibstadt.
Die Schweiz hat derzeit technische Vereinbarungen – namentlich mit 13 EU-Ländern der Core-Region. Dies ermöglicht den Einbezug der Schweiz in die Kapazitätsberechnungen der EU-Länder. Laut Elcom-Experten und anderen Stromnetzspezialisten sind diese Vereinbarungen aber kein vollwertiger Ersatz für ein Stromabkommen mit der EU. Die technische Vereinbarung müsse jedes Jahr verlängert werden, und jedes Partnerland könne dabei sein Veto einlegen – ein Abkommen mit der EU bringe weit höhere Rechtssicherheit. Auch inhaltlich gehe das vorgesehene Stromabkommen mit der EU weiter – etwa mit dem breiteren Zugang der Schweiz zu europäischen Plattformen für Regelenergie zum Ausgleich von Schwankungen und mit dem Zugang zum Intraday-Stromhandel. Lehnt die Schweiz das ausgehandelte Stromabkommen mit der EU ab, dürften zudem auch die technischen Vereinbarungen infrage gestellt sein.
Die Elcom empfiehlt Schweizer Produktionsreserven von mindestens 500 Megawatt für das Jahr 2030 und von 700 bis 1400 Megawatt bis 2035. Im Vordergrund stehen Reserven per Gaskraftwerk. Angesichts der langen Planungsphase eilt die Sache, wie die Behörde betont. Der Bund dürfte laut Elcom demnächst eine neue Ausschreibungsrunde für solche Produktionsreserven starten.