Die Wahlschweizerin Demi Vollering führt im Kampf um den Sieg an der Tour de France Femmes, dann stürzt sie. Das Ziel auf der Alpe d’Huez will sie am Sonntag trotzdem als Siegerin erreichen.
Demi Vollering ist eine Frau, die weiss, was es bedeutet, Erfolg zu haben. Sie gewann 2023 die Tour de France Femmes und in diesem Jahr bereits die Vuelta und die Tour de Suisse. Auch bei den Classiques räumt sie ab. Vor allem aber ist sie eine Frau mit einem grossen Herzen. Beim Grand Départ der Tour in Rotterdam war sie schier überwältigt vom Zuspruch der Menge. Mit Tränen in den Augen und stockender Stimme sagte sie: «So viele Leute sind hier. Das bedeutet mir viel. Ich bin als kleines Mädchen hier in der Nähe auf einem Bauernhof gross geworden. Viele Gewächshäuser sind in der Gegend. Ich bin stolz, die Menschen hier zu repräsentieren, die sehr hart arbeiten.»
Vollering machte selbst eine Ausbildung zur Floristin, bevor sie Radprofi wurde. In Pijnacker, nur vierzig Velominuten vom Startort Rotterdam entfernt, wuchs sie auf. Dort ist auch das Blumengeschäft der Familie.
Wie viel ihr die Herkunft bedeutet, wurde auch bei ihrem grössten Moment dieser Tour deutlich. Über ihren Sieg beim Zeitfahren in Rotterdam, der ihr das Maillot jaune bescherte, freute sie sich natürlich. Tränen traten ihr aber vor allem deshalb in die Augen, weil sie den Erfolg mit ihren Nächsten so gut teilen konnte. «Ich bin sehr sensibel», sagte sie, «es war sehr bedeutsam für mich, diesen Sieg inmitten von so vielen Menschen, die mir nahe sind, errungen zu haben.»
Wie es bei den Männerrennen üblich ist, fand auch der Start der Tour de France Femmes nicht in Frankreich statt, sondern in den Radsport-affinen Niederlanden. Spektakulär ist der Zielort nach acht Etappen am Sonntag: Das Rennen wird in den mythischen Kehren der Alpe d’Huez entschieden, erstmals sind sie Teil der Frauenrundfahrt. In ihrer jetzigen Form wird sie zum dritten Mal ausgetragen. Dass der Frauenradsport an Boden gewinnt, zeigt nicht zuletzt das Engagement der ARD, welche die Etappen zum ersten Mal live überträgt.
Von den Kolleginnen im Stich gelassen
Demi Vollering, die niederländische Favoritin, bescherte den Zuschauern und Zuschauerinnen auf der fünften Etappe einen Schreckensmoment. Auf der Strecke von Bastogne nach Amnéville war sie in einen Massensturz kurz vor dem Ziel verwickelt. «Zum Glück sind es keine Knochenbrüche, aber mein Steissbein ist ziemlich geprellt. Ich fiel so hart, zitterte und hatte Schmerzen. Es dauerte auch eine Weile, bis ich überhaupt wieder auf das Rad steigen konnte», sagte sie später im Ziel.
Tränen allerdings flossen hier nicht. Vollering mobilisierte vielmehr alle Energien für die Aufholjagd. Grosse Teile davon bestritt sie allein, ohne die Unterstützung ihrer Teamkolleginnen. Das verwunderte. Denn gleich drei Fahrerinnen aus Vollerings Team befanden sich nach dem Sturz in Gruppen vor ihr. Nur eine wurde eine Weile später zurückgerufen, die anderen hingegen suchten vorn ihr Glück.
Fragen warf vor allem das Verhalten von Lorena Wiebes auf. Sie war beim Sturz unmittelbar neben Vollering gewesen. Sie gab auch zu, «etwas Gelbes am Boden» gesehen zu haben, also ihre Kollegin im gelben Trikot. Trotzdem stürmte sie davon. Die Equipe gab ein chaotisches Bild ab.
Vollerings Entscheidung, den Rennstall zum Ende der Saison zu verlassen, ergibt unter diesen Umständen noch etwas mehr Sinn. Denn auch das Team an der Tour ist weniger stark besetzt als noch 2023, als Vollering die Frankreich-Rundfahrt erstmals gewann. Die Schweizerin Marlen Reusser fehlt krankheitsbedingt. Die Belgierin Lotte Kopecky, im letzten Jahr Gesamtzweite und nominell stärkste Unterstützerin Vollerings, verzichtete wegen der olympischen Omnium-Wettbewerbe auf die Tour.
Vollering wollte auf all diese Misslichkeiten nicht eingehen. Sie hat nicht nur gelernt, professionell mit den eigenen Gemütslagen umzugehen, sondern sie hat daraus sogar eine mentale Waffe geschmiedet.
«In diesem Jahr sind Gefühle meine grösste Stärke», sagte sie am Rande der Tour. «Ich lege immer alle meine Emotionen in den Sport. Ich trainiere mit Emotionen, ich fahre die Rennen mit ihnen, alles geschieht auf der Basis von Gefühlen.» Mit regelmässigen Meditationsübungen bringe sie Körper und Geist in Einklang. Das verhelfe ihr auch zu besseren Leistungen beim Radsport.
Meggen als Wahlheimat
Einen Beitrag zu mehr Gelassenheit leistete auch ihr Umzug vor mehr als zwei Jahren in die Schweiz. Von Meggen am Vierwaldstättersee, wo sie wohnt, ist es nicht weit in die Berge, die sie für ihre Trainingsausfahrten schätzt. Zur Seebodenalp fährt sie gerne und zum Sattel, verriet sie dem Magazin «Gruppetto». Und überhaupt scheint die Liebe zur Schweiz nur von der Liebe zum Velo übertroffen. Die Schweiz sei so schön, dass sie nicht verstehen könne, weshalb nicht alle Menschen hier wohnen wollten, schwärmte sie.
Auf die finalen Berge der Tour de France bereitete sie sich dann aber doch in Frankreich selbst vor und fuhr vor allem die beiden Etappen in den Alpen ab. Auf sehr traditionelle Art übrigens, ganz ohne Team, mit nur einem Begleiter, übernachtet hat sie auf der Ladefläche eines Lieferwagens. «Das Waschen in einem schönen, sauberen Bach hat auch etwas. Das gibt eine Menge Energie. Man muss sich um nichts kümmern. Zurück zu den Grundlagen. Das pure Leben», so beschrieb sie die Erfahrung.
Vollering warnte aber auch vor der Härte des Parcours. Am Sonntag, in der achten und letzten Etappe, geht es auf die Alpe d’Huez hoch, zum ersten Mal im Frauenrennen. «Ich fand es steiler als erwartet. Man sollte sich nicht überschätzen», sagte Vollering.
Für die Aufholjagd wirkt sie doppelt gerüstet. Sie kennt die Strecke. Und sie weiss, wie man sie gut allein bewältigt.