Besonders der extreme Bergsport kann etwas Getriebenes, Fanatisches haben und zur Obsession werden. Wer aber immer mehr erreichen will, wird blind für die Gefahren.
Es gibt ein berührendes Video aus dem Everest-Basislager, das der kanadische Höhenbergsteiger Don Bowie gedreht hat. Ueli Steck, der 2017 am Nuptse, einem Nachbarberg des Mount Everest, tödlich verunglückte, denkt darin über das Bergsteigen nach: «Du musst aufpassen, dass du nicht immer mehr, mehr, mehr willst», sagt er unter anderem. Denn sonst, so macht er es am Beispiel einer Reihe französischer Alpinisten deutlich, stehe da der Tod.
Der Küchenpsychologe würde sagen: Das klingt nach einer Sucht, wie bei einem Alkoholiker, einem Spiel- oder Drogensüchtigen. Und der Experte? «Mit Sucht ist die Abhängigkeit von einem Zustand gemeint. Als Folge davon ist es dem Betroffenen nicht mehr möglich, am normalen Leben teilzunehmen», erklärt Jan Mersch, Psychologe und Bergführer. «Das auf den Bergsport zu übertragen, ist schwierig. Aber natürlich hat insbesondere der extreme Bergsport etwas Getriebenes, Besessenes, Fanatisches.» Mersch ist ein Vertrauter der «Huberbuam», von Thomas und Alexander Huber, in jüngeren Jahren war er selbst am Berg extrem unterwegs.
Zwanghaftes Sporttreiben
Dass Sport und Bewegung und auch die damit verbundenen Gefühle zu einer Sucht werden können, weiss man schon länger. «Sucht ist nicht per se stoffgebunden. Suchthaftes Sport- und Bewegungsverhalten kann ebenso einhergehen mit Entzugssymptomen, Kontrollverlust, Konflikten im sozialen Umfeld sowie Belastungen und Risiken für die körperliche Gesundheit», sagt Malte Claussen, Sportpsychiater und -psychotherapeut an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. Sportler neigten zu einem zwanghaften exzessiven Sporttreiben. Auch bei Krankheit, bei Verletzungen und Schmerz werde das Training kompromisslos fortgesetzt, schwere gesundheitliche Folgen würden billigend in Kauf genommen. Damit aber nicht genug: «Die Phantasie, dass ich gewinne, werte ich höher als das Risiko, dass ich verliere.» Und damit wachse die Bereitschaft, sich grösseren Gefahren auszusetzen. Auch am Berg.
«Es gibt Momente, in denen mir das Free Solo so wichtig ist, dass ich mir denke: Sollte ich abstürzen, war es mir das wert», sagte der österreichische Ausnahme-Alpinist Hansjörg Auer einmal im Gespräch mit dieser Zeitung. Wer so redet, scheint in seinem Tun den ultimativen Kick zu suchen – und auch zu finden. Tatsächlich nahm Auer besondere Risiken in Kauf. Die von ihm 2007 mit einer Free-Solo-Begehung der Route «Weg durch den Fisch» an der Marmolata gelegte Messlatte wurde erst zehn Jahre später durch das Free Solo von Alex Honnold am El Capitan im kalifornischen Yosemite Valley übertroffen. Auer kann man zu seinen Free Solos nicht mehr befragen. Er starb 2019 am Howse Peak in Kanada. Die Seilschaft, zu der auch Jess Roskelley und David Lama gehörten, wurde von einer Lawine mitgerissen.
Dass auch Bergsport zu einer Sucht mit all den damit verbundenen Gefahren werden kann, das wurde unter Bergsteigern bislang weitgehend ausgeblendet. «Bergsüchtig» heisst zwar der Titel eines Buches von Hans Kammerlander. Darin beschreibt der Südtiroler Höhenbergsteiger aber nicht eine krankhafte Abhängigkeit, vielmehr steht Sucht als Synonym für seine starke Bergleidenschaft. Er schildert, wie er vom Knirps in Südtirol, der gerne auf Berge stieg, zum Weltklasse-Alpinisten wurde.
Erst in jüngster Zeit haben Bergsportler vereinzelt von sich aus das Thema im medizinischen Sinne angesprochen. Einer von ihnen ist Simon Messner, der erlebt hat, wie Bergsteigen für ihn zur Obsession wurde und ihn blind machte für die Gefahren am Berg. Entzugserscheinungen habe er zwar nicht gehabt, wenn er einmal für längere Zeit nicht mehr in den Bergen gewesen sei, aber, so sagt Messner im Gespräch: «Es fehlte mir.» Was ihm fehlte, ist aber nicht die Kletterei in schwierigen Routen. Ihm fehlte das intensive Gefühl, das er jeweils hinterher erlebte. «Das arbeitet tagelang nach. Ein ‹natural high›. Und das will der Körper und will man auch selbst wieder haben. Das kenne ich sonst im Leben nicht.» Simon Messner ist sich bewusst, dass es gefährlich ist, diesem Gefühl nachzujagen und dafür sogar Grenzen zu überschreiten. «Im schlechtesten Fall ist das eigene Leben der Einsatz», sagt er. Schon zehn seiner Freunde hätten so den Tod gefunden.
Eine Online-Untersuchung der Medizinischen Universität Innsbruck hat nun zum ersten Mal die Frage nach dem Suchtpotenzial des Bergsteigens gestellt. Zum Einsatz kam dabei ein Fragebogen, der in ähnlicher Form auch für die Untersuchung von anderen Ausprägungen von Süchten verwendet wird. Befragt wurden Bergsteiger, die regelmässig und durchaus auch in extremer Exposition unterwegs sind. Gezielt wurde bei dieser Untersuchung nach der Fokussierung auf Gipfelerfolge und Kick-Erlebnisse gefragt.
Weitermachen um jeden Preis
Das Ergebnis: «Die meisten Leute gehen sehr gerne in die Berge, geniessen das Gefühl, einen Gipfel erreicht zu haben, wo die Probleme der Welt auch viel kleiner aussehen. Für sie ist Bergsteigen für die körperliche und psychische Gesundheit sehr förderlich», sagt Katharina Hüfner, assoziierte Professorin an der Universitätsklinik für Psychiatrie II in Innsbruck. Es gebe aber Menschen, bei denen das Bergsteigen Ausmasse annehme, die denen einer Sucht ähnelten. «Sie fokussieren ihr Leben stark auf das Bergsteigen, trotz Verletzungen oder negativen körperlichen Auswirkungen machen sie weiter», so Katharina Hüfner. Es entstünden Entzugssymptome, wenn kein Berg bestiegen werden könne, und das Bedürfnis, die Dosis zu steigern, um die erhofften Gefühle auszulösen.
Der grösste Unterschied zur Alkohol- oder zur Drogenabhängigkeit besteht darin, dass Bergsport sozial akzeptiert ist. «Es ist positiv konnotiert, wenn jemand draussen trainiert, gesund, braungebrannt und kernig ist. Da denkt man nicht, dass diese Person süchtig sein könnte», sagt die Psychiaterin und Neurologin. Deshalb sei es auch schwierig, solche Menschen davon zu überzeugen, sich behandeln zu lassen. Sie selbst habe in ihrem Berufsleben noch keinen «Bergsüchtigen» therapiert. Aber immer wieder hat sie es mit Anorexiepatientinnen und -patienten mit einem erhöhten Bergsportdrang zu tun.
Zudem ist den Medizinern aufgefallen: Bei jenen Studienteilnehmern, bei denen die Suchtwerte höher ausfielen, waren auch die Werte für Ängste und Depressionen ausgeprägter, und sie litten häufiger an anderen Suchterkrankungen wie beispielsweise Alkoholabhängigkeit. Wobei hier nicht ganz klar ist, ob die Befragten den Bergsport zur Selbsttherapie nutzen oder ob der übertriebene Sport Ängste und Depressionen auslöst oder verstärkt.
Dass ein extremer Bergsportler automatisch eine Bergabhängigkeit habe, das kann Katharina Hüfner nicht bestätigen. Aber: «Leute, welche die Suchtkriterien erfüllen, gehen auch ein höheres Risiko ein und suchen bewusst gefährliche Situationen, um einen Kick zu erleben», sagt sie.
Im Video aus dem Everest-Basislager spricht Ueli Steck nicht nur über diese Spirale, am Berg immer mehr erreichen zu wollen. Er nennt auch einen Bergsteiger, dem es scheinbar mühelos gelungen ist, mit dem extremen Bergsteigen aufzuhören: Christophe Profit. Der Franzose verschob in den 1980er Jahren mit seinen aneinandergereihten Solo-Speedbegehungen hoher Alpenwände Grenzen, im August 1991 bestieg er den 8611 Meter hohen K 2 im Alpinstil. Wieso hat er die grosse Bühne so plötzlich verlassen? Wieso ist er nicht zur nächsten Herausforderung weitergezogen? Er sagt dazu: «Es war an der Zeit, Bergführer zu werden. Mit 13 Jahren war mir klargeworden, dass ich Bergführer werden würde.» Die Bergführerei sei immer der rote Faden in seinem Leben gewesen. «Und tatsächlich hatte ich am K 2 gemeinsam mit Pierre Béghin ein so starkes und unglaubliches Erlebnis, dass ich den Eindruck hatte, das Schönste hinter mir zu haben. Ich dachte, es wäre unmöglich, so etwas noch einmal zu erleben.»
Die Antwort klingt einleuchtend, aber auch Profit muss zugeben, dass ihm das Aufhören nicht ganz leichtgefallen ist. Den Übergang erleichtert habe ihm, dass er später am Eiger auch als Bergführer und in Nepal als Bergsteiger noch einige Erfolge gefeiert habe. Aus der Spirale des «Mehr, mehr, mehr» scheint er jedenfalls herausgekommen zu sein.