Vor vier Tagen hatte Präsident Yoon für sechs Stunden das Kriegsrecht verhängt. Nun hat seine Partei eine erste Abstimmung über seine Amtsenthebung vorerst verhindert. Doch Yoons politisches Überleben ist damit nicht gesichert.
Die Staatskrise in Südkorea wurde am Samstag zum Live-Ereignis. Mehr als 100 000 Demonstranten versammelten sich vor dem Parlament, um die Amtsenthebung des südkoreanischen Präsidenten Yoon Suk Yeol zu fordern. Die Fernsehsender berichteten live vom Drama in der Nationalversammlung. Und es wurde dramatisch.
Vier Tage nach seinem gescheiterten Versuch, durch die Verhängung des Kriegsrechts die Macht an sich zu reissen, sollte das Parlament auf Antrag der Oppositionsparteien über die Amtsenthebung Yoons entscheiden. Doch Yoons regierende konservative People Power Party verhinderte die Abstimmung vorerst, indem 105 ihrer 108 Abgeordneten die Abstimmung boykottierten.
Das Drama war taktisch geschickt inszeniert. Zunächst waren die Abgeordneten von Yoons Partei anwesend und verhinderten die Einsetzung einer Sonderermittlungskommission gegen die Präsidentengattin Kim Keon Hee. Dann nutzten sie eine Regel, nach der 200 der 300 Abgeordneten anwesend sein müssen, damit ein Tagesordnungspunkt behandelt werden kann.
Der Parlamentspräsident schloss die Sitzung zwar nicht sofort und forderte die Boykotteure zur Rückkehr auf. Aber mit diesem Trick dürfte die Regierungspartei eine öffentliche Zerreissprobe vorerst vermieden haben. Für eine Amtsenthebung wäre eine Zweidrittelmehrheit im Parlament notwendig gewesen.
Da die Oppositionsparteien nur über 192 Sitze verfügen, wären für eine Entmachtung des Präsidenten 8 Überläufer aus der Regierungspartei nötig gewesen. Durch den Auszug mussten die Politiker nicht Farbe bekennen. Dennoch ist für Yoon der politische Überlebenskampf damit nicht beendet, sondern geht nur in die nächste Runde.
Han Dong-hoon, der Vorsitzende der People Power Party, sagte vor der Presse. «Die People Power Party wird auf den geordneten Rücktritt des Präsidenten drängen, um die Verwirrung zu minimieren». Seine Partei werde dabei in einer vorhersehbaren und transparenten Weise vorgehen, damit es keine öffentlichen Unruhen gebe. Er wolle sich auch mit der oppositionellen Demokratischen Partei beraten.
Der Ministerpräsident Han Duck-soo ist derweil für die Regierung zuständig. «Als Premierminister nehme ich die Herzen des Volkes und die Worte des Präsidenten ernst», sagte er. «Ich werde als Premierminister mein Möglichstes tun, um sicherzustellen, dass die derzeitige Situation so schnell wie möglich gelöst wird, damit die Sicherheit des Landes und das tägliche Leben der Menschen ohne Schwankungen aufrechterhalten werden können.»
Yoon versucht, sich mit einer Entschuldigung zu retten
Yoon selbst hat sein politisches Schicksal öffentlich in die Hände seiner Partei gelegt. Vor der Parlamentssitzung trat er erstmals seit Mittwochabend, als er das wenige Stunden zuvor verhängte Kriegsrecht wieder aufgehoben hatte, öffentlich vor die Nation – mit einer Mischung aus Erklärung und Entschuldigung.
Zunächst begründete er seinen Schritt kaum verhohlen mit der Politik der oppositionellen Demokratischen Partei. Diese hatte ihre parlamentarische Mehrheit immer wieder genutzt, um Amtsenthebungsverfahren gegen Regierungsmitglieder einzuleiten, und jüngst, um den Haushalt radikal zu kürzen sowie Ermittlungen gegen seine Frau zu forcieren.
Yoon sagte, er habe aus Verzweiflung gehandelt. «Aber dadurch habe ich den Menschen Angst und Unannehmlichkeiten bereitet», fügte er hinzu. «Es tut mir sehr leid, und ich entschuldige mich aufrichtig bei den Menschen, die vielleicht überrascht waren.» Er wolle die rechtliche und politische Verantwortung für seine Entscheidung übernehmen. Er wies Spekulationen, er werde ein zweites Mal das Kriegsrecht ausrufen, zurück und erklärte, er wolle seine Partei über seine Amtszeit entscheiden lassen.
Das Ende der Präsidentschaft Yoons bleibt ungewiss
Eine Überlebensgarantie hat er sich damit allerdings nicht erworben. Offiziell bleibt Yoon Präsident. Doch die Frage bleibt, wie lange noch. Die Partei will zwar eine Amtsenthebung verhindern, die ihr politisch bei Neuwahlen schaden könnte. Doch das Verhältnis zum Präsidenten ist zerrüttet, vor allem das zwischen dem ehemaligen Generalstaatsanwalt Yoon und dem Parteichef Han Dong Hoon, die einst enge Kollegen waren.
Der Grund: In den vergangenen Tagen war bekannt geworden, dass Yoon während des Kriegsrechts zahlreiche Politiker verhaften lassen wollte, darunter auch Han. Han wandelte sich daraufhin vom Kritiker des Kriegsrechts zum offenen Gegner des Präsidenten.
Bereits am Freitag hatte er eine rasche Entmachtung des Präsidenten gefordert, um Schaden vom koreanischen Volk abzuwenden. Am Samstag vor der Abstimmung sagte er nun: «Ein vorzeitiger Rücktritt ist unvermeidlich.» Denn der Präsident sei nicht mehr in der Lage, sein Amt effektiv auszuüben.
Die Analyse ist zutreffend. Die Oppositionsmehrheit im Parlament dürfte nun ihre Angriffe verstärken und den Präsidenten noch mehr blockieren. Dabei hat sie die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich. In einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Realmeter sprachen sich am Mittwoch 73,6 Prozent für eine Amtsenthebung aus. In seiner eigenen Partei People Power Party war es allerdings nur eine knappe Mehrheit.
Doch auch unter den Konservativen dürfte Yoon weiter an Rückhalt verlieren. Denn eine Beobachterin, die nicht namentlich genannt werden möchte, glaubt, dass es zu einer ähnlichen Welle von Protesten kommen könnte wie 2016 vor der Amtsenthebung der damaligen Präsidentin Park Geun Hye, die später wegen Amtsmissbrauchs und Korruption inhaftiert wurde.
«Die Proteste werden wahrscheinlich zunehmen, da sich die nationale Situation verschlechtert und durch den Verlust der Führungsrolle des Präsidenten in einen vegetativen Zustand übergeht», sagt die Aktivistin. Sie glaubt, dass «die demokratiesensible koreanische Bevölkerung» je nach Situation «jederzeit eine explosive Kraft entfalten kann». Die südkoreanische Staatskrise geht also in die nächste Runde.
Wie kam es zu der Staatskrise?
Das Drama begann Dienstagnacht. Völlig überraschend rief Yoon in einer Fernsehansprache das Kriegsrecht aus. Soldaten rückten aus, um das Parlament abzusperren und die Wahlkommission zu durchsuchen. Dennoch gelang es 190 Parlamentariern aller Parteien, über Zäune und Mauern ins Parlament zu klettern und mit einem einstimmigen Votum das Kriegsrecht zu widerrufen.
Gleichzeitig versammelten sich Demonstranten vor dem Parlament. Doch auch das Militär stand offenbar nicht wirklich zum Präsidenten. Die Spezialeinheiten, die das Parlament absperren sollten, hatten auf Befehl ihres Kommandeurs ihre Waffen nicht geladen. Zudem benahmen sie sich zurückhaltend und räumten das Parlament nicht gewaltsam.
Kurze Zeit später gab der Präsident klein bei und hob das Kriegsrecht wieder auf, während im Land grosse Demonstrationen Yoons Amtsenthebung oder Rücktritt forderten. Damit war der Coup-Versuch des Präsidenten schnell gescheitert. Doch damit begann nach dem militärischen der eigentliche politische Krimi, der Südkorea nun noch weiter beschäftigen wird.

