Geht es nach ranghohen Parteimitgliedern, hat Verkehrsminister Volker Wissing frühzeitig die Seiten gewechselt. Sie werfen ihm vor, ein Tauschgeschäft mit der SPD eingegangen zu sein.
Wer trägt die Verantwortung am Ende der Koalition? Über diese Frage herrscht Uneinigkeit – die Antwort variiert, je nachdem, wen man fragt. Aktuelle Recherchen der «Süddeutschen Zeitung» und der «Zeit» weisen in eine klare Richtung: Die FDP, unter Führung des ehemaligen Finanzministers Christian Lindner, habe den Koalitionsbruch minuziös vorbereitet, wenn nicht sogar provoziert. Von einer «Operation D-Day» ist in den Medienberichten Rede.
Seitdem konkurrieren zwei Erzählungen miteinander. In der einen, und die schlägt die höchsten Wellen, ist die FDP der Sündenbock. In der anderen war Scholz über die Frustration innerhalb der FDP frühzeitig informiert und konnte seinerseits den Bruch vorbereiten.
In der ersten Geschichte ist vor allem die FDP-Spitze verantwortlich für den Bruch der Koalition. Dazu scheint die ungewöhnlich scharfe Reaktion des Kanzlers zu passen nach dem verhängnisvollen Treffen im Kanzleramt Anfang November. Die drei Bündnispartner trafen sich um 18 Uhr zum Koalitionsausschuss.
Kurz darauf, am Abend des 6. November, erklärte Olaf Scholz in einer Stellungnahme, er könne das Verhalten des FDP-Chefs Lindner dem Land nicht länger zumuten. Scholz, der für seine Beherrschtheit bekannt ist, gab sich erkennbar wütend, als er nach den gescheiterten Verhandlungen im Koalitionsausschuss vor die versammelte Presse trat.
Geht es nach dieser Version, dann war der Kanzler von Lindners Sturheit überrumpelt. Er sah sich noch während der Sitzung dazu genötigt, ihn aus seinem Amt als Finanzminister zu entlassen, um wieder Herr der Lage zu werden.
Scharfe Kritik an Lindner von SPD und Grünen
Dementsprechend führte die Berichterstattung über das «liberale Drehbuch für den Regierungssturz», wie die «Zeit» titelte, zu aufgepeitschten Reaktionen bei Sozialdemokraten und Grünen. Sie sahen ihre Wahrnehmung von Lindner als egoistischen «Ampel»-Blockierer bestätigt. Auch Lindners Positionspapier zur «Wirtschaftswende» sei nur Mittel zum Zweck gewesen, argwöhnen sie.
Der SPD-Gesundheitsminister Karl Lauterbach nannte den Vorgang «schäbig» und «auch menschlich ein Armutszeugnis». Lauterbach bekundete dagegen seinen «Respekt» für den Verkehrsminister Volker Wissing. Der hatte sich laut den Berichten stets für einen Verbleib in der Dreierkoalition ausgesprochen.
Lauterbachs Kabinettspartner, Arbeitsminister Hubertus Heil, kommentierte auf X: «Verantwortung als Fremdwort, Bösartigkeit als Methode: Ich bin tief erschüttert über dieses Verhalten der FDP.»
Auch die Grünen hielten nicht zurück mit ihrer Kritik an der Partei um Christian Lindner. «Wenn man sich anschaut, wie präzise die FDP-Führung den Koalitionsbruch geplant hat, dann lässt sich auch die bisweilen schlechte Performance der ‹Ampel› in den letzten drei Jahren erklären», sagte Irene Mihalic, die parlamentarische Geschäftsführerin der Bundestagsfraktion, der «Welt». Britta Hasselmann, die Fraktionschefin der Grünen, war der Ansicht, die FDP sei «mit dieser Führungsspitze nicht regierungsfähig».
FDP-Politiker widersprechen Teilen der «Zeit»-Recherche
Aber lief es alles wirklich so ab? FDP-Politiker widersprechen dieser Lesart. Gegen die Überraschung von Scholz spricht schon die Tatsache, dass er seine Wutrede vom Teleprompter abgelesen hat. Offenbar waren ihm verschiedene Versionen einer Rede, angepasst an mögliche unterschiedliche Ausgänge des Koalitionsausschusses, bereits vorbereitet worden.
Fragt man ranghohe FDP-Mitglieder, weichen ihre Schilderungen der Sitzungen zum Teil stark von der «Zeit»-Recherche ab. Einige Zitate seien frei erfunden, behauptete ein Mitglied der FDP-Fraktion gegenüber der NZZ. An die Formulierung «D-Day» konnte sich keiner der Befragten erinnern. Auch die Behauptung, alle künftigen Gesetzesvorhaben blockieren zu wollen, sei falsch. Ebenso weisen mehrere ranghohe Mitglieder zurück, dass ein möglicher Koalitionsbruch für die Zeit von Scholz’ Teilnahme am EU-Gipfel in Budapest geplant worden sei.
Unbestritten bleibt jedoch, dass sich das sogenannte F-Kabinett – eine Gruppe aus zwölf Ministern und Fraktionsmitgliedern – auf verschiedene Ausgangsszenarien vorbereitet hat. Allerdings habe es keine einzelne Sitzung zum «Drehbuch» eines Koalitionsbruchs gegeben, vielmehr habe man sich wöchentlich getroffen und die meiste Zeit «profane» Themen beraten.
Der Generalsekretär der Liberalen, Bijan Djir-Sarai, sagte dieser Zeitung, die FDP habe die Regierungsarbeit in einem fort bewertet und dabei alle Szenarien, die vorstellbar wären, durchdacht, «wie die anderen Parteien auch». Djir-Sarai hob hervor: «Ich wüsste nicht, weshalb man sich für so eine Selbstverständlichkeit entschuldigen sollte – das wäre doch lachhaft.»
Hat Wissing interne Informationen an Medien zugespielt?
Die Liberalen erzählen die Geschichte also anders. Nach dieser Version war Scholz frühzeitig darüber informiert, was auf ihn zukommt – gewarnt wurde er von Volker Wissing. Der Minister habe nicht allein ausgewählte Medien, sondern auch dem Kanzleramt entscheidende Informationen zugespielt, heisst es aus seinem Umfeld. Sollte das stimmen, hätte Scholz frühzeitig von den Plänen der FDP erfahren – und damit die Möglichkeit gehabt, strategisch gegenzusteuern. Ein ranghohes FDP-Mitglied schimpft gar, Wissing habe sich vom Kanzler kaufen lassen. Ein schwerwiegender Vorwurf, für den es bisher keine Belege gibt.
Mehrere Beteiligte berichten jedoch, die Entfremdung zwischen Wissing und der Fraktion sei nicht neu gewesen. In internen Sitzungen sei er gar als «Anwalt des Kanzlers» aufgetreten, wie es ein Anwesender beschreibt, und er sei von klassischen FDP-Überzeugungen, etwa zu E-Fuels, abgewichen.
Am Abend des Koalitonsausschusses – jenem Abend, an dem Lindner entlassen wurde – war Wissing der Einzige, der danach nicht in die FDP-Parteizentrale kam. Ihm sei schlecht, soll er gesagt haben. Auf Anrufe, unter anderem von Marco Buschmann, reagierte er anschliessend nicht mehr.
Besonders misstrauisch blickt man nun auf einen Vorfall, der sich drei Wochen vor dem endgültigen Regierungs-Aus ereignet haben soll. Am 21. Oktober war Wissing für eine Rede beim Digitalgipfel in Frankfurt vorgesehen. Auf diesen Auftritt habe er sich intensiv vorbereitet. Doch kurzfristig liess er sich von seiner Staatssekretärin Daniela Kluckert vertreten – angeblich, weil er ins Kanzleramt zitiert worden war.
Kanzleramt statt Digitalgipfel
Fanden dort Absprachen zwischen Wissing und Kanzleramt statt? Wurden hier Weichen für das politische Weiterleben nach dem endgültigen Bruch gestellt? Ein Fragenkatalog an den Kanzleramtschef blieb bis zum Erscheinen dieses Textes unbeantwortet.
Wissing bleibt als einziger FDP-Minister Teil der Koalition
Klar ist nur: Wissing ist das einzige FDP-Kabinettsmitglied, das nach der Entlassung von Christian Lindner durch Scholz nicht zurücktrat. Während Justizminister Marco Buschmann und Bildungsministerin Bettina Stark-Watzinger bereits am nächsten Tag ihre Ämter niederlegten. Auch Wissings drei Staatssekretäre erklärten am Tag nach dem Koalitionsende ihren Rücktritt. Doch der Minister selbst blieb – ein Alleingang, der in der Partei für Kopfschütteln sorgt und seither Fragen nach seiner Loyalität aufwirft.
Wie wütend sie in der FDP auf Wissing sind, macht ein Zitat des aussenpolitischen Sprechers der FDP, Ulrich Lechte, deutlich. Er sagte gegenüber der NZZ, Wissing solle seiner Meinung nach auch künftig parteilos bleiben. «Ich kann anderen Parteien nur abraten, ihn aufzunehmen», fügte er hinzu.
Die FDP-Mitglieder stellen auch andere Aspekte der Geschichte infrage, wie etwa, dass sie intern von einem «D-Day» gesprochen hätten oder über ein angebliches «Drehbuch» für den Koalitionsbruch. Unter den FDP-Abgeordneten gilt es als offenes Geheimnis, dass Wissing selbst derjenige war, der den Medien diese Geschichte erzählte. Und wie glaubwürdig, fragen sie, seien Aussagen eines Insiders, der frühzeitig die Seiten gewechselt habe?
Eine Sprecherin des Bundesverkehrsministeriums reagierte auf eine entsprechende Nachfrage der NZZ lediglich mit dem Hinweis, dass der Minister mehrfach hervorgehoben habe, sich nicht zu parteiinternen Vorgängen äussern zu wollen.
Kampf ums Narrativ zum Regierungs-Aus
Auch über mögliche Motive von Wissing spekulieren die Abgeordneten. Der Minister habe eine Art Tauschgeschäft mit dem Kanzleramt ausgehandelt, sagen mehrere: interne Informationen gegen das Versprechen, eines Tages zum Richter am Bundesverfassungsgericht ernannt zu werden. Zitieren lassen will sich niemand. Belege für die möglichen Deals gibt es ebenfalls keine.
Auf einen Fragenkatalog verwies Wissings Büro zunächst auf dessen Äusserungen des Ministers in anderen Medien. Erst auf wiederholte Nachfrage, ob es eine Absprache zwischen Wissing und Kanzleramt gebe, dementierte eine Sprecherin gegenüber der NZZ mit deutlichen Worten: «Nein, das ist falsch. Wir weisen diese Gerüchte aufs Schärfste zurück.»
Möglicherweise sind diese Mutmassungen also nur eine Retourkutsche der FDP, die Wissings Verhalten als Verrat auffassen. Der Kampf um die Deutungshoheit über das Ende der Regierungskoalition und die Frage nach den Verantwortlichen ist jedenfalls nun entbrannt. Für die FDP, die es auch in der deutschen Öffentlichkeit nie leicht hatte, geht es bekanntlich um alles. Scheitert sie bei der kommenden Wahl ein zweites Mal an der Fünf-Prozent-Hürde für den Bundestag, könnte es das endgültige Aus für die Partei bedeuten.