Im Reality-Format «Jung, wild & sexy» schütten sich Jugendliche mit Alkohol zu und prahlen mit derben Sprüchen. Die erste Staffel erreichte Kultstatus, mittlerweile läuft ein Revival. Doch die Zeiten haben sich geändert.
Im Herbst 2010 hat eine TV-Sendung die Schweiz aufgerüttelt. Die Serie zeigte junge Erwachsene, die ihre Grenzen suchten und sie zuverlässig überschritten. Die ihren Übermut auslebten, nächtelang durchfeierten und auf moralische Abgründe stiessen. Halbstarke Jungs klopften Sprüche wie «Hosen runter, Beine breit» oder «Die heisst glaub Sahara – sie ist so wüst wie eine Wüste».
Mit der Serie «Jung, wild & sexy» strahlte der Fernsehsender 3+ erstmals eine Serie aus, in der Jugendliche vor laufender Kamera hemmungslos trinken, feiern, flirten und ungefiltert über sexuelle Phantasien sprechen. Das Nachtleben mit all seinen Exzessen fand plötzlich seinen Weg in die Wohnzimmer der spiessbürgerlichen Schweiz.
Die Sendung war eine Mischung aus Unterhaltung und Fremdschämen. Das Publikum reagierte peinlich berührt – und schaute sich dann die nächste Folge an.
Derzeit läuft auf dem Streamingportal von 3+ die fünfte Staffel. Sie ist ein Abklatsch der alten Folgen, ein wohl letzter Versuch, ein Format zu retten, das einst die Massen begeisterte, aber heute nicht mehr dem Zeitgeist entspricht.
Kultur oder Volksverblödung?
2010, bei der Premiere, profitierte der Schweizer Privatsender 3+ von Traumquoten. Mehr als 360 000 Zuschauer schalteten zur ersten Episode von «Jung, wild & sexy» ein. Schnell wurden in der ganzen Deutschschweiz Public Viewings veranstaltet. Die sehr jungen und freudig naiven Protagonisten, die mit sexistischen Sprüchen polarisierten, gelangten zu zweifelhaftem Ruhm, auf den sie niemand vorbereitet hatte.
In einer Zeit vor Instagram oder Tiktok waren sich die Teilnehmer kaum über die Auswirkungen ihres Tuns bewusst. Sie lallten im Rausch in die Kamera, und kurz darauf wurden sie zu Figuren des frühen Internets. Manche sind es bis heute geblieben.
In der Öffentlichkeit wurde das Format breit thematisiert. Geht es den Jugendlichen im Ausgang tatsächlich nur ums Baggern, Saufen, Sprücheklopfen? Oder vermittelt die Sendung ein verzerrtes Bild der Jugend?
Befürworter der Sendung hoben die Aspekte von «Kultur und Unterhaltung» hervor. Kritiker sprachen von «völliger Volksverblödung». Der «Blick» befeuerte die Debatte und titelte: «3+ macht mit Muschis Quote». Die Sendung spaltete die Schweiz. Doch sie traf den Nerv der Zeit.
Damals boomte das Nachtleben. Junge Menschen zahlten bereitwillig die teuren Eintrittspreise der Klubs und becherten und tanzten die Nächte durch. Jede Woche gab es Dorfchilbenen, Pub-Feste, Après-Ski-Sausen, Fasnachts-Discos, Turnerabende. Man traf sich noch im realen Leben.
Die Jungen sahen bei «Jung, wild & sexy» sich selbst. Das Vorglühen im Wohnzimmer der Eltern, der Klubbesuch, der Absturz, der Kater und die Scham am nächsten Tag. Für viele andere war die Sendung eine Retrospektive, sie reflektierten die eigene Vergangenheit. Und der Rest bediente einfach seinen Voyeurismus und erfreute sich daran, wie die Protagonisten lächerlich gemacht wurden.
Partys in Liestal und in Zürich
3+ erfand das Reality-TV damals nicht neu. «Jung, wild & sexy» basierte auf einer österreichischen Doku-Soap, die Jugendliche auf nächtlichen Zechtouren zeigte. Auch die Schweizer Produzenten begleiteten Gruppen Jugendlicher zu wilden Partys. Ob in den Klubs in Zürich und Luzern oder den Dorf-Discos in Liestal oder Pratteln – die Kameras hielten alles fest.
Die Sendung wurde erst abends um 22 Uhr ausgestrahlt, doch die Zuschauer schalteten trotzdem ein. Auf Facebook gab es am Tag nach der Ausstrahlung kein anderes Thema. Wer eine Folge verpasst hatte, war out.
Der Hype um die Serie machte Leute zu Berühmtheiten, die ausserhalb von Pratteln und Wittnau nie jemand kennengelernt hätte. Und die nach jeder Episode von den Boulevardblättern interviewt wurden. Sie sagten dann, dass sie keine Ruhe mehr hätten. Und dass ihnen ständig Frauen schreiben würden.
«Ran an die Möpse»
Besonders beliebt waren Cyril und Tobias. Die sehr aargauischen Kumpels lebten nach dem Motto «Brüste! Alkohol! Autos! Haargel!». Sie gingen angriffslustig und unbeholfen an Schaumpartys, und sie waren beide scharf auf «Pringles». Das war keine Dose Chips, sondern die Schwester ihres Kollegen Dave. Welch ein Stress, dieser Hahnenkampf.
Bekannt wurden beide durch ihre plumpen Sprüche. Tobias fand Bauland wichtiger als Frauen. «Das kannst du immer noch verkaufen und damit Millionen verdienen.» Cyril hingegen reichte es, wenn die Frauen viel «Holz vor der Hütte» hatten. Sein euphorisch im Alkoholrausch gelalltes «Ran an die Möpse» machte ihn zur Legende der Sendung. Seine postpubertären Fans gründeten auf Facebook etliche Fangruppen.
Auch die Basler Clique um Gabriel, Güney und Francisco hatte viele Fans. Die Halbstarken verfolgten im Ausgang nur ein Ziel: «aufreissen, abschleppen, flachlegen». Der 19-jährige Güney prahlte vor der Kamera: «Ich habe Sex mit Frauen und lasse sie wieder nach Hause gehen.» Seinem Lehrmeister gefiel der Auftritt gar nicht. Güney verlor seine Stelle, und «20 Minuten» titelte: «Jung, wild & arbeitslos».
Pech für Güney, gut für die Sendung, denn sie lebte von solchen Aussagen. Und doch war der Erfolg der Serie nur von kurzer Dauer. Bereits nach zwei Jahren hatten sich die Zuschauer an den wilden Eskapaden sattgesehen. Nach der dritten Staffel war Schluss. Vorerst.
Osteuropa statt Zentralschweiz
Vor zwei Jahren wagte 3+ dann das grosse Revival. Der Sender folgte dem Boom des Reality-TV: «Big Brother», «Bauer, ledig, sucht», «Der Bachelor» und «Die Bachelorette», «Temptation Island»: Fast täglich lief im Fernsehen ein Format, bei dem sich Menschen vor den Kameras hemmungslos verlieben – oder bekriegen.
Vielleicht läuft «Jung, wild & sexy» deshalb vorab nur noch auf dem Streamingportal von 3+. Die Sendung trägt auch nicht mehr den Zusatz «Baggern, saufen, Party machen», sondern nur noch «Refilled» – nachgefüllt.
Nun also die fünfte Staffel «Jung, wild & sexy». Doch heute wirkt eine Sendung, die Jugendliche in den Ausgang begleitet, wie ein Kontrast zur Realität. Mit der Corona-Pandemie hat sich das Ausgehverhalten verändert. Für viele junge Erwachsene sind die Klubs zu teuer geworden, und vielerorts gilt es als uncool, sich jedes Wochenende abzuschiessen. Die Jugend verbringt die Wochenenden heute lieber zu Hause mit Netflix oder beim Fifa-Zocken. Gesunde Ernährung und das Gym sind wichtig.
Die Partys und Schauplätze wurden ins Ausland verlegt. Statt an Schlagerpartys im Aargau schütten sich die Jugendlichen nun am Strand in Kroatien oder in Klubs in Budapest und Bratislava zu.
Die Sprüche sind hingegen niveaulos wie eh und je. In der neusten Episode lässt der 19-jährige Thurgauer Bryan den Zuschauer wissen: «Ich bin so spitz, Alter, ich bin so geil. Ich würd mich selber . . .». Zusammen mit seinem «Bro» Junior spricht er im Klub jede Frau an, die ihnen über den Weg läuft.
Bryan und Junior werden mit ihrem Gedöns kaum mehr die Aufmerksamkeit erreichen, die alten Sendungen zuteilwurde. Und vielleicht ist das ganz in ihrem Sinn. Die Protagonisten der ersten Staffel führen heute alle ein Leben abseits der Öffentlichkeit. Aber sie kämpfen noch immer mit den Folgen des zweifelhaften Ruhms von damals.
Der Aargauer Tobi wurde einst gefragt, ob er nochmals an der Sendung teilnehmen würde. Seine lapidare Antwort: «Ich will mir mein Leben nicht noch einmal versauen lassen.»