Freitag, Oktober 25

Der Schweizerische Israelitische Gemeindebund ruft politische Organisationen auf, sich zur Antisemitismus-Definition der International Holocaust Remembrance Alliance zu bekennen. SVP und Juso scheren aus.

Seit dem Terrorangriff der Hamas auf die israelische Zivilbevölkerung am 7. Oktober 2023 haben antisemitische Vorfälle in der Schweiz zugenommen. Und auch die Auseinandersetzungen darüber, was Antisemitismus überhaupt bedeutet und was nicht. Im Fokus steht dabei vor allem die Israel-bezogene Judenfeindlichkeit. Häufig geht es um die Frage, wie man beispielsweise Kritik an der Kriegsführung von Ministerpräsident Benjamin Netanyahu übt und Mitgefühl mit den Tausenden von zivilen Opfern in Gaza äussert, ohne dabei das Existenzrecht Israels infrage zu stellen.

Dieser Streit ist jüngst unter Jungparteien entbrannt. Hintergrund ist der Entscheid der Jungsozialisten, die Bewegung BDS («Boycott, Divestment and Sanctions») zu unterstützen. Die internationale Organisation gilt als israelfeindlich und steht in der Kritik, sich wiederholt antisemitisch verhalten zu haben. Sie bringt die israelische Politik mit dem südafrikanischen Apartheidstaat in Verbindung und fordert zum Boykott von israelischen Produkten auf.

Aus Sicht der Juso sind Boykotte ein gängiges Mittel, um politischen Forderungen Nachdruck zu verschaffen. Doch seit die NZZ die Unterstützung der BDS-Bewegung öffentlich gemacht hat, steht die Jungpartei in der Kritik, auch im eigenen Lager. Die SP-Leitung hat sich zwar nur halbherzig distanziert, die Juso seien eine separate Partei und träfen eigenständige Entscheidungen, liess sie verlauten. Doch die Basler Juso-Sektion äusserte deutliche Kritik am nationalen Entscheid: «Wir unterstützen diese Resolution (. . .) nicht», sagte die Präsidentin Ella Haefeli. Die BDS-Bewegung setze sich nicht für konstruktive Lösungen ein und sei zu wenig differenziert.

Am lautesten äusserte sich die Junge SVP Schweiz: Dass sich die Juso der «fanatischen, antisemitischen BDS-Bewegung» anschlössen, sei beschämend: «Die Jungsozialisten verabschieden sich mit diesem Schritt ins braune, antisemitische Milieu», sagte der Präsident Nils Fiechter.

«Junge SVP soll schweigen»

Fiechters Worte haben wiederum die Junge Mitte auf den Plan gerufen. Die Junge SVP verhalte sich «auch nicht besser» als die Juso, schrieb der Präsident Marc Rüdisüli in einer Medienmitteilung. Sie distanziere sich nicht von rechtsextremen Kreisen wie der Jungen Tat oder Martin Sellner, der schon Hakenkreuze an Synagogen geklebt habe. «Die Junge SVP sollte deshalb zu diesem Thema besser schweigen – oder sich endlich klar und deutlich distanzieren», so Rüdisüli.

Jonathan Kreutner, Generalsekretär des Schweizerischen Israelitischen Gemeindeverbunds (SIG), beobachtet den Konflikt mit Befremden. Es komme immer wieder vor, dass Parteien gegenseitig mit dem Finger aufeinander zeigten. Doch: «Antisemitismus kommt in allen politischen Milieus vor.» Zur Zeit der Aufarbeitung des Holocausts in den 1990er Jahren sei vor allem die rechte Judenfeindlichkeit verbreitet gewesen. Seit dem 7. Oktober seien auch linker Israel-bezogener Antisemitismus sowie islamistisch motivierte Judenfeindlichkeit verstärkt erkennbar.

In diesem Zusammenhang unterstützt der SIG einen Vorschlag der Jungfreisinnigen. Sie forderten diese Woche alle Jungparteien auf, sich zur Antisemitismus-Definition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) zu bekennen. Die Allianz wurde 1998 in Stockholm gegründet. Sie fördert die Aufklärung, Erforschung und Erinnerung des Holocausts auf der ganzen Welt. Dreissig Staaten haben die IHRA-Definition anerkannt, unter anderem die Schweiz.

Moralische Verpflichtung

Der SIG weitet den Aufruf der Jungfreisinnigen von den Jungparteien auf alle politischen Parteien und Organisationen aus: «Das wäre ein starkes Signal», sagt Kreutner. Die Parteien würden sich moralisch verpflichten, sich gegen Antisemitismus zu engagieren, «auch in Bezug auf den Israel-bezogenen Antisemitismus».

Diese Art von Antisemitismus anerkennt, dass es judenfeindlich ist, wenn das Existenzrecht Israels als jüdischer Staat infrage gestellt wird. Darunter fällt laut Kreutner etwa der Slogan «From the river to the sea, Palestine will be free», der häufig an Pro-Palästina-Demonstrationen zu lesen ist. Auch die BDS-Politik gehört dazu. Der Organisation gehe es im Kern darum, Israel zu delegitimieren.

In der Schweiz bekennen sich fast alle Mutterparteien zur IHRA-Definition. Als erste hat sich die SP im Jahr 2019 öffentlich dazu geäussert, auch die FDP, die Mitte, die GLP und die Grünen sind dabei. Grosse Ausnahme ist die SVP, die im Gegensatz zu ihrer Jungpartei auf ein Bekenntnis verzichtet. Auf Anfrage stellt der Parteipräsident Marcel Dettling die Behauptung auf, Antisemitismus sei vor allem ein linkes Problem. Ausserdem handle es sich bei Bekenntnissen um «reine Symbolpolitik», die vom «wahren Problem» ablenke: Der zunehmende Antisemitismus sei «zu einem erheblichen Teil durch die masslose Asylzuwanderung aus muslimischen Ländern importiert».

Es ist keine Überraschung, dass auch die Juso die IHRA-Definition nicht zum Massstab nehmen. «Wir kämpfen gegen Antisemitismus und unterstützen darum die Jerusalem-Erklärung», sagte die Präsidentin Mirjam Hostetmann gegenüber Medien. Diese sei viel konkreter. Die Jerusalem-Erklärung wurde im Jahr 2021 von zwanzig Wissenschaftern verfasst. Diese kritisierten, die IHRA-Erklärung werde dazu ausgenutzt, Personen, die Israel oder dem Zionismus kritisch gegenüberständen, als antisemitisch zu delegitimieren.

Antisemitismus-Definitionen

Die IHRA-Definition lautet:

«Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden, die sich als Hass gegenüber Jüdinnen und Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.»

Die Jerusalem-Deklaration lautet:

«Antisemitismus ist Diskriminierung, Vorurteil, Feindseligkeit oder Gewalt gegen Jüdinnen und Juden als Jüdinnen und Juden (oder jüdische Einrichtungen als jüdische).»

Jonathan Kreutner widerspricht. Die IHRA-Definition lasse sehr wohl Kritik an der Politik der israelischen Regierung zu. So hält die IHRA in den beispielhaften Erläuterungen folgenden Passus fest:

«Erscheinungsformen von Antisemitismus können sich auch gegen den Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, richten. Allerdings kann Kritik an Israel, die mit der an anderen Ländern vergleichbar ist, nicht als antisemitisch betrachtet werden.»

Der SIG stützt sich, wie andere Organisationen weltweit auch, in seiner täglichen Arbeit auf die Definition der IHRA. Er dokumentiert antisemitische Vorfälle und wertet sie statistisch aus. «Die Definition gibt uns eine Vorgabe, um festzustellen, ob ein Vorfall antisemitisch ist oder nicht», sagt Kreutner. Das sei nötig: Der SIG erhalte zahlreiche Meldungen von Jüdinnen und Juden. Doch längst nicht alles, was als antisemitisch empfunden werde, sei es auch.

Aus Sicht des SIG ist Symbolpolitik im Zusammenhang mit Antisemitismus nichts Schlechtes. Sonst werde am Ende alles akzeptiert, was nicht explizit verboten sei. Das Strafrecht in der Schweiz ist im Vergleich zu anderen Ländern liberal und hält die Meinungsfreiheit hoch. Eine Verschärfung ist aber geplant: In Zukunft sollen eindeutige Gesten wie der Hitlergruss oder das Hakenkreuz verboten werden, das Parlament hat entsprechende Motionen überwiesen.

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