Samstag, Oktober 5

Taylor Swift ist nicht nur eine Sängerin, sie ist die Anführerin einer Religion. Ihre Anhängerinnen sind ihr treu ergeben. Ein Besuch im Gottesdienst, im Herzen der Fangemeinde.

Immer am Samstag, wenn an der Zürcher Langstrasse der Tag verschwindet, erscheinen die Partygänger. Männergruppen mit Bierdosen mischen sich mit angetrunkenen Junggesellinnen auf Abschiedstour. An den Fassaden lehnen Sexarbeiterinnen und rauchen. Irgendwer verkauft Drogen. Aus den Bars und Klubs hämmern die Bässe, am Boden zerspringt hie und da ein Glas. Wenn es in der Schweiz einen Ort gibt, an dem die Sünde noch lebt, dann ist es hier.

Während die Nachtmenschen die Strasse einnehmen, geht die Tür zur «Wunderbox» auf. Gruppen von Girls, die eigentlich längst Frauen sind, steigen die Treppe hinunter in den Klub. Sie halten einander an der Hand, Glitter im Gesicht, die Tops bauchfrei. Mit der harschen Langstrassenwelt von oben hat das hier unten nichts zu tun. Rosa, violett und hellblau leuchten die Scheinwerfer, im Klubnebel werden alle Kanten weich. An der Bar bestellen die meisten eine Cola. Denn heute Abend ist die Droge eine andere: Taylor Swift.

Swifties sind Bastler und Sammler: Kleider für Konzerte und Partys machen sie selbst, ebenso wie Armbänder zum Tauschen.

Seit einem Jahr tourt die amerikanische Pop-Sängerin um die Welt. Und wo sie nicht ist, finden Partys in ihrem Namen statt. So auch in der «Wunderbox». Sobald Taylor Swifts Musik spielt, sind sie zu Hause: die Swifties. Swift gilt diesen Fans als Vorbild, als beste Freundin, manche nennen sie «unsere Mutter». Das DJ-Pult wird zur Kanzel, aus den Boxen klingt Pop-Song für Pop-Song Taylor Swifts Predigt durch den Raum. Die Swifties beten jedes Wort mit. Das hier ist ihr Gottesdienst.

«Es ist eine Katharsis», sagt eine Frau. So laut sie kann, singt, ja schreit sie die Texte mit. Manchmal hinaus in den Klub, dann wieder in ein Smartphone. Das Gerät legen die Swifties auf den Boden, dann stehen sie in einem Ring drum herum und singen sich die Seele aus dem Leib, hinein in die kleine Kamera. Das Gefühl dieser Nacht muss noch lange nachklingen. Mindestens bis zum nächsten Dienstag, wenn Taylor Swift für zwei Konzerte nach Zürich kommt.

Mehr als nur ein Fan

Spanien, Sommer, Sonne, ein Jahr zuvor. Sina ist in den Ferien, als der Vorverkauf für die Europatour von Taylor Swift startet. Mit 25 Accounts, sieben Geräten und der Hilfe ihrer Eltern und Geschwister kommt Sina an Tickets für fünf Konzerte: zweimal Wien, Gelsenkirchen und, natürlich, zweimal Zürich.

Dass sich die Familienferien um Taylor Swift drehen werden, war von Anfang an klar. Denn: «Wer an Sina denkt, denkt auch an Taylor und umgekehrt», sagt sie. Seit sie elf Jahre alt war, ist Sina ein Fan. «Zu hundertdreizehn Prozent. Dreizehn ist Taylors Lieblingszahl.»

Sina, Mitte zwanzig, hat sich bereit erklärt, über ihr Fantum zu sprechen. Doch ihren richtigen Namen, wo sie wohnt und was sie arbeitet, will sie nicht teilen. Sie ist stolz darauf, ein Swiftie zu sein. Aber sie sagt auch: «Mir ist bewusst, dass ich in einer Bubble lebe. Ich weiss, dass es noch ein anderes Leben gibt. Ich kann auch normal sein.»

Im Moment zu leben, reicht den Swifties nicht – sie filmen den Augenblick, um ihn später wiedererleben zu können.

Sina hat einen Job, sie tanzt Ballett und wird diesen Herbst ein Studium beginnen. Nicht alle ihre Freunde interessieren sich für Taylor Swift. Aber in Sinas Welt ist sie das Zentrum.

Ein Leben für Taylor

Ihr Wecker: Taylors Stimme. Die Poster an der Wand: Taylors Gesicht. Die Nachrichten auf ihrem Handy: immer Taylor. Von ihr erzählt Sina den Kollegen bei der Arbeit und den Freundinnen im Ballett.

Seit Januar verbringt Sina jeden Sonntag zu Hause und arbeitet an den Outfits, die sie an Swifts Konzerten tragen will. Hommagen sollen es werden an verschiedene Kostüme, die ihr Idol einst getragen hat. Das Material kauft sie in Fachgeschäften, die Ideen entstehen in Sinas Kopf. An der Nähmaschine finden sie zu ihrer finalen Form. Für ihre Accounts in den sozialen Netzwerken filmt Sina ihre Kreationen, eine Jacke mit zehntausend einzeln aufgeklebten Steinchen beispielsweise. Auch sonst teilt sie alles zu Swift.

«It’s like going to church», sagt Celestine Tan (links). Er hat die Taylor-Swift-Party an der Langstrasse bereits zum zweiten Mal organisiert.

Sinas grösste Schätze aber sind ihre selbstgebastelten Sammelalben. Darin notiert sie Ereignisse aus ihrem Fanleben; als sie Taylor Swift erstmals live sah, bedeutungsvolle Textzeilen aus Swifts Werken und das eine Mal, als Taylors Management einen Post von Sina mit einem Herzchen versah. Die Tagebücher zeigen ein grosses kreatives Talent, mit dem es Sina in manchen Berufen weit schaffen könnte. Aber das interessiert sie kaum. Sina will zu Taylor.

In einem der Alben hat sie zwei Seiten leer gelassen, bewusst aufgespart. Sina sagt: «Links kommt ein Bild von mir und Taylor, rechts ihr Autogramm.» Der Plan ist bis anhin nicht mehr als ein Traum. Während Sina in Swift ihre beste Freundin sieht, weiss diese nicht einmal, dass es Sina gibt. Die Lücke im Buch ist auch eine Leerstelle in Sinas Leben.

Frauen in der Mädchenwelt

Auch Elvis Presley, die Beatles und Michael Jackson hatten Fans, aber die Swifties gelten als eine der grössten, loyalsten und fanatischsten Gemeinschaften der jüngeren Zeit. Nur Taylor Swift hat aus sämtlichen Ausdrucksformen einer analogen und digitalen Welt ein einziges, lukratives Ökosystem geschaffen.

Swifties hören die Songs ihres Idols auf Spotify und kaufen dennoch all seine Platten. Sie schreiben Tagebücher, sammeln Sticker und kehren damit als Frauen in eine scheinbar sorglose Mädchenwelt zurück, die ihnen Schutzraum und Sehnsuchtsort ist.

Dass die Fans in ihrer Gemeinschaft grosse Macht entwickeln – die Taylor Swift gezielt für sich zu nutzen weiss –, zeigt dieses Beispiel: Bereits vor dem offiziellen Erscheinungstermin des neusten Albums wurde ein Link zu allen Songs auf Twitter veröffentlicht. Statt sich die langersehnten Tracks anzuhören, sorgten die Swifties dafür, dass die Links wieder verschwanden. Sie wussten: Ihr Idol wäre enttäuscht von ihnen, wenn sie die Songs jetzt schon hörten. Das wäre geschummelt, und geschummelt wird im Taylorverse, der Fanwelt von Taylor Swift, nicht.

In dieser Welt regieren die Kraft der Nettigkeit und das Zelebrieren von Durchschnittlichkeit. Dazu die Verbindung von Mädchenhaftigkeit mit Feminismus, Kreativität mit Konsum und Individualität mit Masse. Fans sagen, bei einigen Liedern hätten sie das Gefühl, Swift habe die Zeilen nur für sie geschrieben, so passgenau fügten sie sich in das eigene Erleben. Paradoxerweise ist es dieses Gefühl, eine einzigartige Verbindung zu und ein besonderes Verständnis für ihr Idol zu haben, das Millionen verbindet.

Der Traum vom Märchenprinzen etwa und der Kampf gegen das Patriarchat gehen bei Taylor Swift Hand in Hand.

In ihrem Universum ist Taylor Swift gleichzeitig der hellste Stern und eben doch nur das: ein Stern in einer Galaxie von vielen. Die meisten sagen: «Taylor ist meine beste Freundin.» Der Balanceakt des Heldentums gelingt Swift perfekt. Stark ist sie und talentiert, schön und kämpferisch. Doch sosehr sie von ihren Fans in den Himmel gehoben wird – sie scheint stets mit beiden Füssen auf dem Boden zu bleiben. Eine unter vielen. Eine, die weiss, wie es sich anfühlt, wenn das Herz bricht. Eine, die Unsicherheiten und das Gefühl, nicht zu genügen, selbst erlebt hat.

Damit gelingt es ihr, eine riesige Zielgruppe abzuholen und dieser den Eindruck zu vermitteln, gemeinsam etwas zu schaffen. Bei den Swifties finden auch jene Anschluss, die sonst nirgends dazugehören. Niemand wird bewertet, keiner wird abgewiesen – solange die gemeinsame Bewunderung für Taylor Swift nicht in Bedrängnis gerät.

Hier verbinden sich Elemente, die sich sonst widersprechen. Der Traum vom Märchenprinzen etwa und der Kampf gegen das Patriarchat. Oder die Hingabe beim Basteln von Konzertoutfits und die Bereitschaft, für Musik und Memorabilia Hunderte von Franken hinzublättern.

«Sie macht das für uns»

Sina sitzt in einem Café und trinkt frisch gepressten Orangensaft. Ihre schwarzen Cowboystiefel sind eine Reverenz an Taylor Swifts Anfänge als Country-Sängerin, ihre goldenen Ohrringe gehören zum Merchandise für das neueste Album «The Tortured Poets Department».

Dass Taylor Swift dank ihren Fans zur Milliardärin geworden ist, etwa, weil ihr Gewinn auf den Konzerttickets höher ist als bei anderen Künstlern, stört Sina nicht. Sie sagt: «Taylor kann nichts dafür, dass sie so reich ist. So ist die Welt.»

Vor einigen Jahren begann Taylor Swift damit, ihre alten Songs, deren Rechte verkauft wurden, neu aufzunehmen und als «Taylor’s Version» selbst zu vermarkten. Sina sieht dahinter kein Geschäftsmodell: «Bei ‹Taylor’s Version› geht es nicht ums Geld. Es geht darum, dass Taylor ihre Kunst wieder selbst besitzen will.» Und auch wenn Swift verschiedene Versionen des eigentlich gleichen Albums verkaufe, um höhere Gewinne zu erzielen, sagt Sina: «Sie macht das für uns, für die Fans. Weil sie weiss, wie gerne wir sammeln.»

Gesammelt werden Stickers und Kerzen, Badetücher auch. Das Herz des materiellen Fantums aber machen die selbstgemachten Freundschaftsbändchen aus. Manche fädeln die Perlen allein auf, andere treffen sich zu Bastelnachmittagen. Viele Freundschaften, die an einer Taylor-Swift-Party begonnen haben, werden bei gemeinsamen Bastelnachmittagen fortgesetzt. Und wann immer die Swifties zusammenkommen, tauschen und verschenken sie ihre Bänder.

Normalerweise ist die 13 eine Unglückszahl. Aber im Taylorverse hat sie eine ganz besondere Bedeutung: Sie ist Taylor Swifts Lieblingszahl.

Ein Handy voller Erinnerungen

«Die haben mich auch geswiftet», sagt der Türsteher vor der «Wunderbox» und hält seinen Arm hoch: Ein buntes Bändchen hängt daran. Er habe sich seit Tagen auf diesen Einsatz gefreut, sagt er. «Das ist ein sehr angenehmes Publikum, es gibt nie Ärger.» Und tatsächlich: Beim Eingang lassen die Swifties einander den Vortritt, sie machen sich Komplimente für ihre Kleidung und legen sich beim Tanzen den Arm um die Schulter.

Einen Weg durch die Menge muss sich niemand bahnen, die Swifties machen von alleine Platz. Rücksicht ist selbstverständlich, man steht im Dienst einer Gemeinschaft. Denn an der Swift-Party in Zürich verschwindet das Ich, hier zählt das Wir.

Gegen 3 Uhr nachts gehen in der «Wunderbox» die Lichter aus. Der Gottesdienst ist vorbei, und die beseelten Swifties mischen sich auf der Langstrasse mit dem gemeinen Partyvolk. Ein bisschen heiser, ein bisschen müde, aber mit einem Handy voller Erinnerungen machen sie sich in alle Richtungen auf den Heimweg.

In ihren Gruppen-Chats werden sie sich später die Videos vom Abend zuschicken, Schnipsel davon teilen sie in den sozialen Netzwerken. Spätestens am 9. Juli sehen sie sich wieder. Nicht an der Langstrasse, sondern im Zürcher Letzigrund. Und dann wird auch ihre Göttin Taylor da sein, hoch über der Masse, im Scheinwerferlicht auf der Bühne.

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