Der neue Machthaber in Damaskus ist zwar ein ehemaliger Gotteskrieger. Nun redet er von Demokratie und von friedlichem Zusammenleben. Dafür gebührt ihm erst einmal Respekt. Die Syrer hätten es verdient, dass er sich daran hält.
Der Allmächtige hat all seinen Kindern «Liebe deinen Nächsten» verschrieben. In Nahost ist er mit dem Gebot nicht weit gekommen. Wo die grossen Zivilisationen heranwuchsen, blieb der Frieden nur eine Atempause zwischen zwei Kriegen. Eine Shortlist der Eroberer: Assyrer, Akkader und Ägypter, Babylonier und Byzantiner, Hellenen und Römer, Kreuzritter und Muslime.
Im jüngsten Akt focht Israel gegen Hamas, Hizbullah und Huthi. In der Kulisse die üblichen Verdächtigen USA und Russland, Iran und Türkei. Die Kleinen agieren, die Grossen munitionieren. Nahost, so Israels einstiger Armeechef Moshe Dayan, ist der «Elefantenpfad der Geschichte».
Also verflucht forever? Pünktlich zur Adventszeit enthüllt das älteste Schlachtfeld der Welt plötzlich Wundersames. Erstens wurde in Syrien der Massenmörder Bashar al-Asad verjagt. Er hat eine halbe Million seiner Untertanen auf dem Gewissen, dazu Millionen von Flüchtlingen. Nach fünfzig Jahren der Glücksfall: das abrupte Ende der Asad-Dynastie.
Dass solche Übeltäter zwischen Mittelmeer und Hindukusch das Geschehen bestimmen, ist nicht neu. Vertraut ist auch das Muster: Der eine Tyrann fällt, der nächste kommt. Nun ein zweites Weihnachtswunder: der Sieg der Asad-Bezwinger. Der Triumph der Islamisten-Allianz Hayat Tahrir al-Sham (HTS), etwa «Ausschuss zur Befreiung der Levante», scheint fürs Erste die Kette der austauschbaren Schurken zu brechen.
Geschwächte Nachbarn
Ausgerechnet die HTS? Der westliche Mensch denkt bei «islamistisch» sogleich an Gewalt und Blutrünstigkeit im Namen Allahs, an Knechtschaft in wechselndem Gewand. Zudem hat der HTS-Chef Ahmed al-Sharaa keinen anheimelnden Lebenslauf. Er war einst Getreuer der Terrortruppe al-Kaida, die rings um die Welt Mordorgien entfachte und ein neues Kalifat errichten wollte.
Nun aber feiert CNN Sharaas Wandlung vom «radikalen Jihadisten zum Blazer-Träger». Er redet nicht vom Gottesstaat, sondern von Demokratie, dem friedlichen Zusammenleben der Ethnien und Sekten. «Wir müssen realistisch denken», beteuert er und streckt seine Hand zum Westen aus. So viel Konzilianz war noch nie ein Markenzeichen der Gotteskrieger.
Die dritte Frohbotschaft: Die Akteure in der Nachbarschaft, die sich in Syrien festgesetzt haben, sind geschwächt und ernüchtert. Russland hat mit Asad seinen Hauptverbündeten in der Region verloren und zieht schon einmal Raketen, Schiffe und Fluggerät ab – die werden in der Ukraine gebraucht. Die Israeli haben Irans Handlanger Hamas und Hizbullah dezimiert, die iranische Flugabwehr zerschlagen und Atomanlagen zerstört. Ohne Israels erfolgreiche Offensive gegen Iran und seine Heloten wäre Asad noch heute an der Macht. Die HTS-Islamisten schulden dem jüdischen Staat ein «shukran» – ein Dankeschön.
Mithin dreimal Morgenröte im Morgenland. Aber die Erfahrung gebietet Skepsis. Noch ist jeder arabische Frühling wie der von 2010/11 rasch der Vereisung gewichen. So auch dreissig Jahre zuvor, als in Teheran der Kollaps des Schah-Regimes bejubelt wurde, ehe der totalitäre Gottesstaat folgte. Im Vergleich zum «Höchsten Führer» Ayatollah Khomeiny war Reza Pahlevi geradezu ein Freiheitsapostel. Heute ist Iran eine erbarmungslose Klerikaldiktatur, die daheim das Volk und draussen die Nachbarschaft quält.
Schlachtfelder allenthalben
Der Arabische Frühling war ein 1001-Nacht-Märchen ohne Happy End. In Syrien starben die Freiheitsträume im Giftgas des Regimes und im Bombenhagel der Russen. Der ägyptische Lenz war anfänglich eine Sternstunde. Der Dauerherrscher Hosni Mubarak landete im Gefängnis, es folgten die ersten freien Wahlen, dann putschte das Militär. Dessen Anführer hiess Abdelfatah al-Sisi. Er gibt noch heute den Pharao in Generalsuniform.
Nebenan, in Tunesien, brach die Jasminrevolution aus. Und heute? Tunesien ist eine Demokratie, faktisch aber ein Einmannregime. Das Parlament hat der Präsident zum Beratungsgremium degradiert. In Libyen half der Westen mit Bomben nach. Mehr als den Tod des Diktators Ghadhafi haben die nicht gebracht. Nach einem mörderischen Bürgerkrieg ist Libyen aufgeteilt zwischen zwei Warlords.
In Jemen kämpfen und morden zwei verfeindete Armeen. In Afghanistan regieren erneut die Taliban. Alistair Burt, von 2010 bis 2013 für die britische Nahostpolitik zuständig, resümiert: «Wir kennen die Vergangenheit. Wir wollen immer das Beste, müssen uns aber auf Schlimmeres gefasst machen.» Der Rückblick auf die berauschenden Frühlingstage bestätigt den Pessimismus.
Das Dauerdrama von Gewalt und Unterdrückung hat eine innere und eine äussere Dimension. Innerhalb gilt die «Kissinger-Regel». Nixons Aussenminister lästerte: Jenseits der drei echten Nationalstaaten Ägypten, Iran und Israel seien die anderen Länder «Stämme mit Nationalflaggen», willkürliche Konstrukte, die nach 1919 aus der Erbmasse des Osmanischen Reiches hervorgegangen sind. Es sind Kunstgebilde mit verfeindeten Religionen, Sekten und Ethnien: Sunniten, Schiiten, Alawiten, Christen, Drusen, Kurden, Türken.
Das Staatsvolk ist keines, sondern ein Amalgam von Ambitionen und Ängsten. Ein nationales Wir-Gefühl hat sich kaum ausgebildet. Jenseits der superreichen Golfstaaten fehlt zudem jener Wohlstand, der wie in Saudiarabien die Verdrossenen ruhigstellt.
Folglich kommt die Macht aus den Gewehrläufen, die noch ein jedes Mal die Freiheit erstickt haben – ob in der Hand von Regimen oder siegreichen Rebellen. Wer wie jetzt die HTS in Syrien die Waffen hat, wird sie nicht hergeben. Die Sieger reden zwar von gleichen Rechten für alle und beteuern Respekt für jeglichen Glauben. Freie Wahlen werden kommen, aber wie der Messias nicht so schnell – vielleicht in einem Jahr. Aber vorweg müsse ein starker Staat her, der Chaos in Ordnung verwandle. Wahlen können warten.
Die Revolution frisst ihre Kinder
Den guten Willen der neuen Machthaber gilt es zu respektieren. Zumal sie lauter freundliche Signale aussenden. So pragmatisch wie der HTS-Chef Sharaa hat noch kein Triumphator in der muslimischen Welt geredet. Zugleich sagt ein Untergebener: «Das Hauptziel ist die Sicherheit.» Richtig, ohne Sicherheit blüht weder die Demokratie noch die Freiheit. Doch nicht nur im gepeinigten Orient warnt die Geschichte: Wer gewaltsam die Macht erobert, will sie behalten, ja mehren. Wozu habe man denn sein Leben riskiert?
Das ist die Tragödie jeglicher Revolution. Die Gewinner, so die Rechtfertigung, dienten doch der höheren Gerechtigkeit, der wahren Tugend. Doch sei das Volk verführbar und wankelmütig: Es gehorche seinen schnöden, selbstsüchtigen Interessen. In Frankreich begann Robespierre 1789 als lupenreiner Liberaler, als Apostel unveräusserlicher Rechte; sodann entfachten die Jakobiner den «Terreur» – angeblich, um die Republik zu retten. Ebenso die Bolschewiken, die den Demokraten Alexander Kerenski wegputschten und damit den Weg für Lenin und Stalin frei machten. In Iran verhiess Khomeiny den Himmel auf Erden. Es kam die totalitäre Hölle – wie rings um die Welt, wo der Befreier stets zum Willkürherrscher mutiert.
Die Geschichte kennt keine eisernen Gesetze. Die syrischen Rebellen könnten verwirklichen, was sie versprechen. Doch sind sie nicht allein in der Arena. Ihr Schicksal wird nicht zu Hause entschieden, sondern im Spiel der Mächte ringsum.
Die HTS hat nur den Krieg gewonnen, nicht das Gewaltmonopol. Das zeigt der Blick auf die Landkarte. Das Bündnis regiert bloss den Westen von Aleppo bis Damaskus. An der Nordgrenze zur Türkei dominiert die Syrische Nationalarmee als Rivale der HTS und Instrument Ankaras im Kampf gegen die Kurden. Von Amerika ausgerüstet, haben die Kurden einen Proto-Staat mitsamt Armee im Nordosten aufgebaut. Im Süden herrscht eine moderate säkulare Allianz, die von den USA munitioniert wird. Letztere haben einen Stützpunkt im Süden, die Russen zwei am Mittelmeer. Mit anderen Worten: Syrien ist kein Nationalstaat, sondern ein Exerzierplatz der Kräfte, die sich gegenseitig belauern.
Der Elefant im Raum ist Iran, der sich unter dem willfährigen Asad eine Landbrücke zum Mittelmeer verschafft hat. Über diese gelangten Unmassen von Waffen nach Libanon, wo der Hizbullah den Krieg gegen Israel entfesselte, um zusammen mit der Hamas den verhassten Judenstaat in die Zange zu nehmen. Ein Fehlkalkül.
Nun hat Jerusalem die libanesische «Partei Gottes» dezimiert und Iran erniedrigt. Der will Rache, wird also keinesfalls Syrien loslassen. Teheran wird das neue Regime in Damaskus unterminieren, falls die HTS die Brücke sperrt oder gar einen Westkurs einschlägt. Im schlimmsten Fall wird der türkische Neoimperialist Erdogan in den kurdischen De-facto-Staat eindringen, womöglich auch das Gebiet annektieren.
Die Verantwortung der Mächtigen
Die HTS, die im Blitzkrieg Damaskus eingenommen hat, erinnert an das alte Schiller-Wort: «Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbar nicht gefällt.» Es regiert das kalte Interesse im Inneren wie im Äusseren. Die Kleinen und die Grossen sehen Syrien als Beute, nicht als Leuchtturm der Hoffnung. Freuen wir uns dennoch über den Sturz Asads, geben wir dem HTS-Chef Ahmed al-Sharaa den verdienten Vertrauensvorschuss.
Doch Sharaa hat einen Staat geerbt, der keiner ist, sondern ein hochlabiles Gebilde, ein Spielball der Mächtigen diesseits und jenseits der Grenzen. Er hat an die 25 000 Mann unter seinem Kommando, doch gehören ihm nur Städte wie Aleppo und Damaskus; die anderen vier Fünftel des Landes sind Konkursmasse.
In einer Gegend, wo Waffen die härteste Währung sind, hat Israel fast alle Waffen des Regimes zerschlagen; die HTS hat nicht das Zeug für eine anhaltende Kriegführung. Wer soll dem Bündnis helfen? Doch nicht Berlin, London oder Paris. Hoffentlich wird Donald Trump nicht so verantwortungslos handeln, wie er redet, gar Amerikas tausend Soldaten aus Syrien abziehen.
Ist das dreifache Weihnachtswunder aufgebraucht? Vielleicht hat der Allmächtige noch ein paar Mirakel in Reserve. Verdient hätten es die geschundenen Syrer. Vielleicht beschämt der liebe Gott den Literaturnobelpreisträger V. S. Naipaul, der im Arabischen Frühling höhnte: «Es sind Araber. Es wird nicht funktionieren.» Nur wegen der Araber?
Wenn es abermals schiefgeht, muss die Schuld auf viele Schultern verteilt werden. Mittragen müsste die Last Amerika, der Westen insgesamt, Russland, Iran und die Türkei. Für Weihnachten 2025 ein gewagter Wunsch: eine Damaskus-Konferenz wie der Wiener Kongress von 1815, wo die Grossen ein Regelwerk für Europa entwarfen. Der Frieden zwischen den etablierten Grossmächten hielt immerhin hundert Jahre lang.
Josef Joffe ist Distinguished Fellow in Stanford und lehrt internationale und Sicherheits-Politik.