Sonntag, Oktober 6

Die Schriftstellerin Yevgenia Belorusets schreibt über den Kriegsalltag in der Ukraine, wo Männer immer öfter gegen ihren Willen in die Armee eingezogen werden. Es zeigt sich, wie die Demokratie im Zeichen der militärischen Abwehr unter Druck gerät.

Grigori

Als im Mai das neue Mobilisierungsgesetz mit neuen Meldepflichten und verschärften Strafen für die Verweigerung des Dienstes in Kraft trat, fuhr ich im Zug durch Polen in Richtung Kiew. Ein Soldat sass mir gegenüber. Er war 58 Jahre alt, kam zurück von einer Behandlung in Deutschland und sprach begeistert über die deutsche Medizin. Sein Name ist Grigori, er stammt aus der Region Schitomir und war vor dem Krieg im Agrargeschäft tätig.

Jetzt versucht er, sein Unternehmen wieder aufzubauen. Er glaubt, dass Militärdienst und Arbeit vereinbar sind. Schnell wurde klar, dass Grigori Schwierigkeiten beim Gehen hat. Er bewegte sich langsam durchs Abteil, als ob er jeden Moment stürzen könnte, er atmete schwer und rang nach Luft. Auch fiel es ihm nicht leicht, die Arme zu heben. Aber wenn er sprach, schien er voller Kraft. In seiner Stimme klang Freude, immer wieder machte er Witze, und er war überzeugt, alle Herausforderungen meistern zu können.

«Viele schmieren, um aus der Armee ausgemustert zu werden. Ich habe gezahlt, um wieder hineinzukommen. Ich gehe zurück, um wieder zu dienen.» «Sie werden wieder dienen?» Ich konnte kaum glauben, dass ein Mann, der nur mit einer kleinen Reisetasche reiste, weil ein Koffer zu schwer für ihn war, zurück zur Armee wollte.

«Mit den Beziehungen, die ich habe, wird alles wie am Schnürchen laufen. In der Einheit wartet man schon auf mich. Keine Sorge, ich werde an einem ruhigen Posten sitzen, ich bekomme einen passenden Job!» Er nannte die Nummer seines Bataillons, die ich nicht erwähnen sollte.

Er bat mich auch, unser Gespräch nicht aufzunehmen. «Ich werde zu viel reden, und dann werde ich nirgendwo wieder dienen können. Dabei habe ich eine Verantwortung, Familie, Kinder. Aber ich kann Ihnen eine Menge erzählen! Acht Verletzungen habe ich gehabt! Ich habe überall gedient, in der Region Kiew, in Charkiw, in Saporischja, bei Cherson, überall! Und überall wurde ich verwundet. Kurze Rehabilitation und zurück an die Front! Aber wer mich vor Kriegsende vom Dienst abberufen will, ist bei mir an den Falschen geraten!»

Die ganze Reise über erzählte er mir Geschichten von der Front. Einige habe ich mir gemerkt. Er ist übergewichtig. Einmal, nach einem Beschuss, blieb er in einem Schützengraben stecken. Es brauchte einige Soldaten, um ihn herauszuziehen. Seine Schutzweste behinderte ihn. Fünf Männer zogen ihn schliesslich heraus.

Die Szene beschrieb er in schillernden Farben. Das Spektakel erinnerte an ein Kindermärchen, in dem mehrere Figuren sich um die Bäuche fassen, um gemeinsam eine gigantische Steckrübe aus dem Boden zu ziehen. Die Männer tranken den ganzen Abend auf Grigoris Wohl. Erst am nächsten Tag zeigte sich, dass er Kontusionen hatte. Seitdem wollte er keine Schutzweste mehr tragen.

Immer, wenn seine Gruppe zum Kampfeinsatz ausrückte, glaubte Grigori zu wissen, wer sterben würde. Er ist überzeugt, sich nie geirrt zu haben. Einmal wurde er selbst am Bein getroffen, seine Hauptschlagader platzte. Da er kein Verbandszeug zur Hand hatte, nähte er sein Bein mit einem Eisendraht zu. Er durchbohrte Haut und Fleisch an der empfindlichsten Stelle, an der Innenseite des Oberschenkels. Im Krankenhaus bewunderten ihn die Ärzte. Ohne diesen Eingriff hätten sie ihm das Bein amputieren müssen.

Während der vier Stunden unseres Gesprächs zeigte mir Grigori auch seinen Schwerbehindertenausweis. Nach einer Wirbelsäulenverletzung hatte er von Grund auf neu sprechen und gehen lernen müssen. Sein Sehvermögen hat er noch immer nicht ganz wiedererlangt. Er wurde in die dritte Invaliditätsgruppe eingestuft, seine Rente beträgt bloss 2500 Hrywna, 60 Euro im Monat. Da er Jura studiert hatte, fragte ich, warum er diese offenkundige Ungerechtigkeit nicht anfechte.

Die Frage empörte ihn. «Alle werden in die dritte Gruppe eingeteilt! Sie verstehen gar nichts!» Er sah mich gekränkt an. Erst nach einer Weile sprach er weiter. Tatsächlich helfe er als Jurist immer wieder Soldaten, die gegen das eine oder andere neue Armeegesetz eine Beschwerde einreichen wollten.

Während der Zugfahrt kümmerte sich Grigori um die Fahrgäste um uns herum. Einer Frau versuchte er beim Kauf einer Fahrkarte für den nächsten Zug zu helfen, er freundete sich mit zwei Polen an, die ein Geschäftstreffen planten. Und einer älteren Frau organisierte er Hilfe beim Verstauen ihrer Koffer. «An der Front verabschiedet man sich sofort von Egoismus, nur so kann man überleben», sagte er später. «Egoisten sterben schnell, eine Woche, und sie sind weg. Danach erinnert sich fast niemand mehr an sie, man hatte keine Zeit, sie kennenzulernen.»

Ich versuchte, mir egoistische, schnell sterbende, namenlose Menschen vorzustellen.

Grigori hat eine Frau und Kinder. Doch solange der Krieg dauert, kann er nicht mit ihnen zusammenleben. Die Familie kam ihn auch nicht abholen am Bahnhof. «Ich brauche niemanden jetzt. Die Hauptsache für mich ist, zur Einheit zu gelangen. Dort werden meine Leute mich durch alle Kommissionen tragen. Und dann wieder an die Front.»

Irgendwann fragte ich Grigori, was er vom neuen Mobilisierungsgesetz und der Tatsache halte, dass in der Ukraine unterdessen Männer auf der Strasse festgenommen und zum Militärdienst zwangsverpflichtet werden. Er verfiel noch einmal in Wut: «Ich hasse dieses Gesetz. Es bringt nichts. Es raubt den Leuten die Motivation! Mein Sohn ist dreissig. Ich möchte, dass er auf sich achtgibt. Ich habe vorgesorgt, dass er die Ukraine jederzeit verlassen kann und nicht zurückkommen muss. Sobald er dazu bereit ist. Als ich die Dokumente für seine Ausreise aufgesetzt hatte, ist mir ein Stein vom Herzen gefallen. Ich aber werde bis zum Ende dieses verdammten Krieges kämpfen.»

In einem Lebensmittelladen in Kiew

Eine Ladenbesitzerin steht an der Theke. Die Verkäufer sind gutgelaunt, freuen sich, dass sie da ist. Sie wirkt glücklich und erzählt mir von neuen ukrainischen Reinigungsprodukten: «Wir unterstützen unsere Produktion, so gut wir können.» Dann fragt sie mich, worüber ich schreibe. Nachdem ich es erklärt habe, fährt sie fort: «Mein Mann ist in der Armee. Er könnte jetzt nichts anderes tun, und ich könnte auch nicht anders. Ich mache mir Sorgen um ihn, aber es ist gut, dass er jetzt in der Region Kiew ist. Werden Sie über die Männer schreiben, die seit dem ersten Tag an der Front dienen und bereit sind, nicht demobilisiert zu werden? Das sind Menschen, die alles haben – Familien, aber auch Arbeit.»

Ich versuche zu erklären: «Ich würde gerne über diejenigen schreiben, die nicht an die Front wollen». Sie lächelt breit. Sie zeigt auf die beiden Männer hinter dem Tresen: «Da stehen sie! Man dürfte sie auch gar nicht an die Front lassen! Sie haben Angst. Sie könnten dort gar nichts tun. Wir wissen doch, dass nicht alle Frauen Kinder gebären und grossziehen können. Also können auch nicht alle Männer in den Krieg ziehen. Diese hier jedenfalls nicht. Ich würde selbst alles dafür tun, dass sie nicht einrücken müssen.»

Die Verkäufer stehen neben uns und sagen kein Wort. «Ihr könntet da nicht hingehen, nicht wahr?», fragt die Verkäuferin. Die Männer schweigen. Ich fange an, etwas gegen den Vergleich mit Frauen, die keine Kinder bekommen können, einzuwenden. Alles in mir protestiert gegen diesen Vergleich, aber ich finde die richtigen Worte nicht. Die Ladenbesitzerin sagt versöhnlich: «Irgendwie muss man es sich ja erklären, wenn die Leute nicht hingehen können.»

Warum kommt es ihr nicht in den Sinn, dass auch von Frauen erwartet werden könnte, an die Front zu gehen? Und dass es für viele Männer genügt, ihren Kindern gute Väter zu sein? Zwischen Männern und Frauen wird so eine undurchdringliche Mauer errichtet.

Wolken und Regen

Eine Freundin schickt mir ein Video einer älteren Frau, die vor den Türen eines Rekrutierungszentrums schreit: «Lasst ihn gehen! Mein Sohn hat Krebs!» Auf Tiktok sind jetzt zahllose Videos von Männern zu sehen, die auf der Strasse angehalten, aus Autos gezerrt und vehement, manchmal auch mit Gewalt, in Kleinbusse gesteckt werden. Es gibt ein Wort für solche Operationen: «Bussifizierung». Das Wort klingt kindisch und lässt das Geschehen weniger befremdlich und beängstigend erscheinen.

Gemäss dem im Mai in Kraft getretenen neuen Mobilisierungsgesetz kann ein Mann, der einer Vorladung nicht Folge leistet oder sich innerhalb von sechzig Tagen nach Inkrafttreten des Gesetzes beim Militärkommissariat nicht online registrieren lässt, unter Zwang dem Militärkommissariat zugeführt werden.

Alle Männer müssen nun jederzeit ihre Militärdokumente bei sich tragen und diese auf Verlangen der Polizei vorzeigen. Polizeibeamte und Vertreter der Militärkommissionen patrouillieren an U-Bahn-Ausgängen, an Haltestellen und in der Nähe von Einkaufszentren.

Viele neue Telegram-Kanäle mit Hunderttausenden von Abonnenten geben die Bewegungen dieser Behördenvertreter wieder. Einige melden sie in Form von Wetterwarnungen. Die Polizei in blauen und das Militär in grünen Uniformen werden als Wolken codiert. Kontrollaktionen und die Zustellung von Einberufungen vermeldet man als Regen oder Gewitter. Das liest sich dann so: «Neben dem Ausgang der Darnitsa-Metro schweben vier grüne und zwei blaue Wolken, die einen Typen direkt ins Auto regnen lassen. In der Nähe der U-Bahn-Station Liwobereschna beginnt ein Wolkenbruch.» Wolkenbruch: mehrere Kontrollen.

Ein anderes Video: Zwei Militärs fahren im Auto und scheinen Spass zu haben. Im Stil von Reiseleitern, die am Strand für Touristen ihre Routen anpreisen, rufen sie: «Urlaub in Liman, kommen Sie näher! Zögern Sie nicht, ein wahres Schnäppchen.» Oder: «Erholung in der Region Charkiw; Saporischja, Entspannung in der Natur!»

Als ich dieses Video sah, war ich versucht, die Arbeit an diesem Text abzubrechen. In dem zynischen Ton der Militärs hörte ich Verzweiflung und ein Gefühl von Verlassenheit heraus. Die ukrainischen Soldaten, von denen viele vor dem Krieg nichts mit dem Militär zu tun hatten, fühlen sich verraten und zum Kämpfen verdammt. Sie haben auf eine Demobilisierung gehofft. Nun warten sie auf Verstärkung.

Ich möchte mich aber nicht weiter in ein Dilemma verstricken und unvereinbaren Positionen nachgehen. Meine Aufgabe besteht darin, anhand privater Geschichten zu erzählen, wie man mit der Realität des Krieges umgeht.

Kürzlich wurde ein Bekannter von mir, ein Designer, einberufen. Seine Ehefrau erzählt, dass sie die ganze Ausrüstung selbst besorgen mussten – von den Schuhen bis zur Militäruniform. Seine Ausbildung dauerte nur einen Monat, an der Front aber wurde er bereits nach einer Woche getötet. Ein anderer Bekannter von mir, der sich vor kurzem noch die Seele aus dem Leib schrie darüber, dass von den Menschenrechten nichts mehr übrig sei in der Ukraine, sagt jetzt im Stillen zu mir: «Es herrscht Gesetzlosigkeit. Ich empfehle allen meinen Bekannten, sich zu verstecken und diese Zeit auszusitzen.»

Mir ist aufgefallen, dass das kollektive Entsetzen darüber, dass sich in der Ukraine buchstäblich jeder in einer Kampfzone wiederfinden kann, von gewissen Wörtern begleitet wird. Im Deutschen sind das zum Beispiel «ertragen» und «aushalten». Ich habe sie im Zusammenhang mit «Wir werden die Ukraine so lange unterstützen, wie die Ukrainer bereit sind, die Härten des Krieges zu ertragen» gehört. Oder: «Die Ukrainer ertragen den Krieg, sie kämpfen für ihre Freiheit.» Und noch einen Schritt weiter gehen die an mich gerichteten Worte: «Ihr sterbt für uns. Danke, dass ihr das aushaltet.»

In diesen Aussagen schwingt die Entschlossenheit mit, keine Entscheidungen zu treffen. Die Strategie besteht darin zu schauen, was als Nächstes passiert. Man unterstützt die Ukraine mit Waffen, damit sie den Angriffen standhält, nicht verliert und nicht gewinnt. Als ob man vergessen hätte, dass der Krieg selbst ein ständiges Verlieren ist. Waffen kann man immer neu produzieren. Die Menschen sind unersetzbar.

Man redet über diesen Krieg, als ob es irgendwo tatsächlich Menschen gäbe, die bereit wären, ein solch unglaubliches Mass an Gewalt und Tod zu «ertragen».

Yevgenia Belorusets, geboren 1980 in Kiew, ist eine ukrainische Schriftstellerin. Beim vorliegenden Text handelt es sich um eine überarbeitete und gekürzte Version eines Texts, der im Juni 2024 unter dem Titel «Die Einberufung» im «Berlin Review» erschienen ist.

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