Donnerstag, November 28

Am Schlusstag der Rad-Weltmeisterschaften kommt in Zürich doch noch Volksfeststimmung auf. Der dreifache Tour-de-France-Sieger bringt mit einer 100-Kilometer-Attacke Gewissheiten ins Wanken.

Bis zuletzt diskutierten die Experten, ob es angemessen sei, Tadej Pogacar mit Eddy Merckx zu vergleichen. In der Geschichte des Radsports feierte kein Zweiter so viele grosse Siege wie der heute 79-jährige Belgier. Gleichsetzungen mit Merckx verboten sich bisher.

Doch während Pogacars mirakulös-dominanter Fahrt durch die Strassen von Zürich und Umgebung, wo am letzten Tag dieser Weltmeisterschaften doch noch Volksfeststimmung aufkam, entstand ein neuer Eindruck. Es wirkte am Sonntag, als müsse die Frage ab sofort eher lauten, ob es noch angemessen sei, Merckx mit Pogacar zu vergleichen.

Dreimal hatte der Altmeister das begehrte Regenbogentrikot gewonnen, aber immer erst in letzter Sekunde. 1967 setzte sich Merckx im Sprint einer Fünfergruppe durch, 1971 schlug er auf der Zielgeraden Felice Gimondi, 1974 rang er gleichermassen knapp Raymond Poulidor nieder. Jedes Mal hätte es auch anders enden können.

Pogacar dagegen fuhr seinen grössten Konkurrenten auf und davon, als die Zürichbergstrasse zum viertletzten Mal zu erklimmen war, mehr als 100 Kilometer vor dem Ziel. In den folgenden zweieinhalb Stunden liess er sie aussehen wie Schulbuben, die verzweifelt einem losfahrenden Bus hinterherrennen, ohne jede Chance auf Erfolg.

Als Favorit derart früh anzugreifen, ist eine Provokation, weil es die eigenen Chancen in aller Regel minimiert. Pogacar selbst sagte später, das Ganze sei keineswegs geplant gewesen, sondern einfach so passiert: «Es war eine dumme Attacke.»

Dass der Slowene rasch eine frühe Fluchtgruppe ein- und überholte, zu welcher der Schweizer Silvan Dillier gehörte, überraschte niemanden. Sein Vorsprung betrug anschliessend nie mehr als eine Minute. Nach geltender Lesart ist das zu wenig, um eine derart lange Solofahrt als Sieger zu beenden. Und doch schien der Ausgang des Rennens nie fraglich. Bereits 40 Kilometer vor dem Ziel erlaubte sich Pogacar einen Scherz mit seinem Sportdirektor Uros Murn, als dieser im Auto neben ihm herfuhr.

In perfider Präzision treibt Pogacar seine Gegner zur Weissglut

Es wirkte, als dosiere der dreifache Tour-de-France-Sieger das Tempo in perfider Präzision genau so, um seine Gegner möglichst wirkungsvoll zur Weissglut zu treiben. Denn diese glaubten irrtümlicherweise bis zuletzt an ihre Chancen. Der Vorjahressieger Mathieu van der Poel sagte im Ziel: «Ich hätte nicht gedacht, dass er durchkommt, aber er hat uns alle eines Besseren belehrt.» Immer wieder forcierte der Niederländer in wildem Aktionismus das Tempo, einmal fuhr er dabei auf einem Gehweg gefährlich nahe an einem Zuschauer vorbei, aber es half alles nichts.

Remco Evenepoel, der belgische Olympiasieger, zeigte noch mehr Nerven. Er herrschte andere Fahrer an, mehr Führungsarbeit zu leisten, und verwarf die Arme wegen eines Motorrads, das sich etwas nahe vor einem Rivalen befand. Auch er verpuffte wertvolle Energie.

Nur der Mann an der Spitze blieb stets souverän. Pogacar war am Tag, an dem er vermeintliche Gewissheiten des Sports ins Wanken brachte, nur einmal auf fremde Hilfe angewiesen. Seine Partnerin Urska Zigart musste ihn im Teamhotel wecken, nachdem er seinen Wecker abgestellt hatte und nochmals eingeschlafen war. Zu seiner Entschuldigung brachte er später vor: «Wir mussten früh raus, und ich bin kein Frühaufsteher.»

Er wirkt wie ein Lausbub, wenn ihm wieder einmal die Haare aus dem Helm herausstehen, weil er sich nicht kämmen mag. Aber Pogacar ist auch zu einer Persönlichkeit gereift, welche die richtigen Worte findet, wenn es die Lage erfordert. An der Pressekonferenz nach dem Rennen sprach der Slowene den Angehörigen der tödlich verunglückten Schweizerin Muriel Furrer sein Beileid aus. Für sie sei der Verlust am härtesten, sagte er. Aber er mache jeden im Radsport betroffen. «In den letzten Jahren ist es gefährlicher geworden», sagte er. «Wir müssen aufeinander achtgeben.»

Es hatte auch diesmal in seinem Umfeld nicht an Störfeuern gefehlt. Ein vermeintlicher Insider, der während der Tour de France mit Behauptungen über Zwistigkeiten im Team UAE für Aufmerksamkeit gesorgt hatte, meldete sich erneut zu Wort. Diesmal streute er über soziale Netzwerke das Gerücht, der slowenische Landsmann Primoz Roglic wolle sich nicht unterordnen und werde Pogacar im Rennen das Leben schwermachen.

Was sich als falsch erwies: Roglic forcierte unmittelbar vor Pogacars Attacke das Tempo, was für diesen günstig war, und fuhr später glücklich lächelnd über die Ziellinie am Sechseläutenplatz.

So spontan der Zeitpunkt der Attacke gewesen sein mag, so generalstabsmässig war der Parforce-Ritt vorbereitet worden. Alle wesentlichen Protagonisten der Equipe UAE reisten an. Nach einer Pressekonferenz der Slowenen mischte sich der Teamchef Mauro Gianetti unter die Journalisten und liess sie wissen, Pogacar denke seit Dezember an diese Weltmeisterschaften. Obwohl eigentlich der Landesverband in der Verantwortung stand, war sogar ein Koch vom Team UAE präsent.

Hirschi beweist, dass er zu den Weltbesten gehört

Der Schweizer Marc Hirschi machte in dem 273,9 Kilometer langen Rennen das Beste aus seinen Möglichkeiten. Er hielt sich stets in der Gruppe der Favoriten auf, seine Positionierungen wirkten clever. Dass er in der Schlussrunde zweimal attackierte, war richtig, denn angesichts der Präsenz Van der Poels durfte er nicht davon ausgehen, einen Sprint um die verbleibenden Medaillen zu gewinnen.

Der Schweizer konnte sich am Zürichberg und auf der Alten Landstrasse nicht weit genug von den verbliebenen Gegnern lösen. Und doch stellte er an diesem Sonntag unter Beweis, dass er zu den Weltbesten gehört. Der Tagessechste sagte: «Die Teamunterstützung hätte nicht besser sein können.» Sein Auftritt bildete für den leidgeprüften Gastgeberverband einen versöhnlichen Abschluss des Grossanlasses.

WM-Strassenrennen. Männer (273,3 km): 1. Tadej Pogacar (SLO) 6:27:30 Stunden. 2. Ben O’Connor (AUS) 0:34 Sekunden zurück. 3. Mathieu Van Der Poel (NED) 0:58. 4. Toms Skujins (LAT). 5. Remco Evenepoel (BEL). 6. Marc Hirschi (SUI), alle gleiche Zeit. – 37. Stefan Küng (SUI) 7:01. – Aufgabe: u. a. Silvan Dillier (SUI), Johan Jacobs (SUI), Fabian Lienhard (SUI), Mauro Schmid (SUI). – 201 gestartet, 81 klassiert.

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