Samstag, Oktober 5

Die Aufarbeitung von «Dieselgate», einem der grössten Wirtschaftsskandale Deutschlands, nähert sich dem grossen Finale.

Martin Winterkorn galt als Manager, der sich auch für die Details interessiert. Auf Branchenmessen lief der frühere Chef des Volkswagen-Konzerns beispielsweise gerne mit seiner Entourage die Stände ab und inspizierte genau die Spaltmasse der eigenen Autos und der Fahrzeuge der Konkurrenz. Hat dieser Mann wirklich nichts von einem der grössten Wirtschaftsskandale der deutschen Nachkriegsgeschichte mitbekommen? Ab dem heutigen Dienstag muss sich Winterkorn vor dem Landgericht Braunschweig für seine Rolle in der Dieselaffäre verantworten – neun Jahre nachdem «Dieselgate» ruchbar wurde.

Abschalteinrichtung in Motorsteuerung

Ursprünglich hätte das Verfahren gegen den heute 77-Jährigen und vier weitere Angeklagte im September 2021 beginnen sollen. Aufgrund seines Gesundheitszustandes und mehrerer Hüftoperationen wurde der Prozess gegen Winterkorn zum Unmut vieler Beteiligter jedoch vom Verfahren gegen die weiteren Angeklagten abgetrennt. Die Verhandlung gegen die vier anderen Manager läuft immer noch, Sitzungstermine sind bis kommenden Januar angesetzt.

Im Prozess gegen Winterkorn vor der 16. Strafkammer sind inzwischen Vorwürfe aus drei unterschiedlichen Anklagen zusammengefasst worden, die alle im Zusammenhang mit der mutmasslichen Verwendung einer Abschalteinrichtung in der Motorsteuerungssoftware in Fahrzeugen des Konzerns stehen.

Die Hauptanklage lautet gewerbsmässiger Betrug. Volkswagen hatte in Millionen von Fahrzeugen verschiedener Marken eine Elektronik eingebaut, die erkennen konnte, ob sich ein Fahrzeug auf einem Prüfstand befindet. In diesem Fall sorgte die Motorsteuerung dafür, dass die vorgeschriebenen Abgaswerte eingehalten wurden. Im normalen Fahrbetrieb lag der Stickoxidausstoss hingegen sehr viel höher.

Mit diesem Trick wollten die Ingenieure eine zusätzliche Abgasreinigung vermeiden, für die ein weiterer Tank mit der dazu nötigen Adblue-Flüssigkeit nötig gewesen wäre. Anders war es den Technikern nicht gelungen, die strengen Abgasvorschriften vor allem im amerikanischen Gliedstaat Kalifornien einzuhalten.

Durch die Abschalteinrichtung haben die Käufer laut Staatsanwaltschaft einen Vermögensschaden erlitten, zusammengefasst über mehrere 100 Millionen Euro. Betroffen gewesen seien etwa 9 Millionen Fahrzeuge, die in Europa und den Vereinigten Staaten von Amerika verkauft worden seien. Winterkorn wird jedoch keine Beteiligung an der Tat für den gesamten betreffenden Zeitraum von 2006 bis 2015 vorgeworfen, so dass sich der Tatverdacht auf eine geringere Fahrzeugmenge und niedrigere Schadensumme bezieht.

Betrug, Falschaussage und Marktmanipulation

Darüber hinaus wirft die Staatsanwaltschaft Berlin dem früheren VW-Chef vor, am 19. Januar 2017 vor einem Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages uneidlich falsch ausgesagt zu haben, dass er erst im September 2015 von den Manipulationen Kenntnis erhalten habe. Tatsächlich soll er laut Anklage bereits zu einem früheren Zeitpunkt im Jahr 2015 darüber informiert worden sein.

Der dritte Vorwurf, diesmal wiederum von der Staatsanwaltschaft Braunschweig, lautet auf Marktmanipulation. Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass «Wiko», wie Winterkorn bei VW genannt wurde, bereits im Frühjahr 2015 von den Manipulationen erfahren hat. Öffentlich gemacht wurde die Software-Manipulation in den Dieselfahrzeugen aber erst am 18. September 2015 von amerikanischen Behörden. Eine aufgrund der hohen finanziellen und rechtlichen Risiken laut Wertpapierhandelsgesetz nötige Ad-hoc-Mitteilung erfolgte erst am 22. September 2015 – und damit aus Sicht der Strafverfolger viel zu spät.

Die Strafverfahren mit dem identischen Vorwurf gegen den Aufsichtsratsvorsitzenden Hans Dieter Pötsch und den inzwischen ehemaligen Vorstandsvorsitzenden Herbert Diess waren im Mai 2020 gegen Zahlung einer Geldauflage an die Staatskasse eingestellt worden. Der Dieselskandal hat den Volkswagen-Konzern bisher rund 32 Milliarden Euro gekostet.

Martin Winterkorn streitet die Vorwürfe rund um die Abschalteinrichtung ab. Er habe diese Funktion weder gefordert noch gefördert oder ihren Einsatz auch nur geduldet, sagte er im Februar in Braunschweig vor Gericht. Zu diesem Zeitpunkt war er erstmals seit langem wieder in Erscheinung getreten, als er in einem Musterverfahren von Kapitalanlegern gegen die Volkswagen AG und deren Grossaktionär Porsche SE vor Gericht aussagen musste. Sollte das stimmen, wäre auch er ein Opfer des Skandals, denn er verlor 2015 seine Stelle als Konzernchef und muss seitdem mit der Stigmatisierung als Täter leben.

Von Bogenhausen nach Braunschweig

Bisher wurde in Deutschland noch kein absoluter Topmanager des VW-Konzerns für den millionenfachen Betrug bei der Abgasreinigung verurteilt. Das Spitzenpersonal machte meist geltend, nichts von den Manipulationen gewusst zu haben, die in der Motorenentwicklung ausgeheckt worden seien.

Im Juni 2023 wurde mit Rupert Stadler zwar der langjährige Konzernchef der VW-Tochter Audi wegen Betrugs durch Unterlassen zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und neun Monaten auf Bewährung und einer Geldauflage von 1,1 Millionen Euro verurteilt. Audi gilt als Keimzelle des Dieselskandals. Dem Urteil war eine Verständigung zwischen Gericht, Staatsanwaltschaft und Angeklagten vorangegangen. Dann legten Stadler und die Mitangeklagten allerdings überraschend doch Revision ein.

Winterkorn lebte in den vergangenen Jahren dem Vernehmen nach zurückgezogen in seiner Münchener Villa im edlen Stadtteil Bogenhausen. In den kommenden Monaten wird ihn sein Weg regelmässig in den Gerichtssaal am Landgericht Braunschweig führen.

Dort sind derzeit knapp 90 Verhandlungstage bis September 2025 angesetzt – dann jährt sich der Ausbruch des Dieselskandals zum zehnten Mal. Ob der betagte Manager dem Prozess mittelfristig gesundheitlich gewachsen ist, bleibt abzuwarten. Manche Beobachter fürchten, es könne zu einem sogenannten Einstellungsurteil aufgrund des Gesundheitszustandes von Winterkorn kommen, mit dem er dann einer Freiheitsstrafe wohl entgehen würde.

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