Sonntag, September 29

Nach dem Tod des Hizbullah-Führers trauern dessen Anhänger in den Strassen der libanesischen Hauptstadt. Andere Einwohner hoffen auf eine Ende des Krieges. Aber Israels Bombardierungen gehen weiter. Ein Streifzug durch eine Stadt unter Schock.

Der Kampf wäre noch lange nicht vorbei, sagt ein Mann namens Hussein. Der Familienvater ist mit seiner Frau und seinen Kindern mitten in der Nacht aus der Beiruter Schiiten-Vorstadt Dahiyeh vor den israelischen Bomben ins Zentrum der libanesischen Hauptstadt geflohen. Jetzt sitzt er vor dem schicken Jachthafen in Zeytuna Bay, umringt von weiteren Flüchtlingen, und will es einfach nicht wahrhaben.

Vielleicht seien das alles Gerüchte, ruft er. «Der Sayed lebt. Wir werden es machen wie 2006 und die Israeli zurückschlagen.» Doch es hilft nichts. Der Sayed – wie Hassan Nasrallah, der allmächtige Hizbullah-Chef, von seinen Anhängern stets genannt wurde – ist tot. Er starb am Freitag bei einem gewaltigen israelischen Luftangriff auf einen Bunker im von der Schiitenmiliz beherrschten Viertel von Beirut. Dabei war offenbar auch eine unbekannte Anzahl an Zivilisten getötet worden.

Frauen weinen, Männer rennen brüllend durch die Strassen

Die ganze Nacht über war unklar gewesen, ob Nasrallah – der für einen Teil der libanesischen Gesellschaft als Verkörperung des Kampfes gegen Israel gilt – noch am Leben ist oder nicht. Doch am Samstagnachmittag steht fest: Der mythenumwobene Chef des Hizbullah ist tot. Sofort brechen manche der zahlreichen schiitischen Flüchtlinge in den Strassen von Beirut in lautes Schreien und Wehklagen aus.

Frauen weinen händeringend, Männer rennen brüllend durch die Strassen. Andere sinken bloss in sich zusammen, den Blick ins Nichts gerichtet. Nasrallah war für seine zumeist schiitischen Anhänger mehr als nur ein Führer. Er war ihr Leitstern, ihre Sonne, ihr Blut und ihre Seele – wie ihn das zahlreiche Publikum bei seinen öffentlich übertragenen Reden manchmal zu nennen pflegte. Dass er nun nicht mehr unter den Lebenden ist, übersteigt ihr Fassungsvermögen.

Am Tag nach dem Tod des mächtigsten Mannes Libanons changiert die Stimmung in der Hauptstadt Beirut irgendwo zwischen Wahnsinn, Panik, Trauer, Schock, Realitätsverweigerung und totalem Chaos. Viele Libanesen hatten fast ihr ganzes Leben im Schatten Nasrallahs verbracht. Sein Tod erscheint ihnen daher fast surreal. Überall in der Stadt haben in der Nacht aufgrund der israelischen Luftangriffe auf die Wohngebiete der Schiiten zudem Tausende im Freien campiert. Ganze Familien sitzen auf der Corniche, der Uferpromenade, wo sonst braungebrannte Jogger entlang rennen und faltige Männer stoisch fischen.

Über der Stadt liegt eine extreme Anspannung

In Hamra, dem alten Zentrum Westbeiruts, sitzen derweil ein paar Männer in einem Café. Einer von ihnen weint. Das sei das Ende der Welt, sagt er über den Tod Nasrallahs. «Sie haben den Sayed getötet, genauso wie sie Hussein getötet haben», fügt er an und verweist auf den ersten Märtyrer des schiitischen Islams, der im Jahr 680 in der Schlacht von Kerbala ums Leben gekommen ist. Dann kommt der Cafébesitzer hinzu, ein massiger Mann in schwarzem T-Shirt. «Der Sayed ist tot, das war’s, Ende, fertig», schnaubt er. «Und jetzt verschwindest du am besten und gehst nach Hause. Es wird bald Ärger geben.»

Tatsächlich liegt über der Stadt eine extreme Anspannung. Entlang der Ost-West-Achse, die Beirut etwas südlich der Innenstadt durchzieht, fahren Schützenpanzer und Jeeps der libanesischen Armee auf. Normalerweise bleiben die Soldaten im Kriegsfall in den Kasernen, um nicht selbst Ziel der israelischen Angriffe zu werden. Aber nach dem Tod Nasrallahs, der jahrzehntelang scheinbar allmächtig über Libanon gethront hatte, geht nun die Furcht um, das gespaltene, multikonfessionelle Land versinke im Chaos.

Überall verbarrikadieren deshalb Ladenbesitzer ihre Geschäfte, selbst die stets umtriebigen Geldwechsler, die zu jeder Uhrzeit ihre Dienste anbieten, haben geschlossen. Die Angst vor Unruhen ist nicht unbegründet – denn längst nicht alle betrauern den Tod Nasrallahs. Im Sunnitenviertel Tarik al Jadida, wo das Leben ganz normal weitergeht, zuckt Choror Jafaati mit den Schultern: «Es ist mir völlig egal, dass er tot ist. Ganz im Gegenteil, es ist gut. Er hat uns das alles ja eingebrockt.»

«Für Gaza sollen jetzt andere sterben»

Seit er denken könne, herrsche in Libanon immer wieder Krieg, sagt der Taxifahrer. «Ich habe mein Haus verkauft, um meinen Sohn an die Universität zu schicken. Er ist Ingenieur – aber Arbeit findet er hier keine.» Er habe die Nase voll. «Wir wollen so leben wie die Leute in den Golfstaaten. Für Gaza sollen jetzt andere sterben. Es reicht.» Ähnlich denken auch viele Christen. Jetzt beginne ein neues Libanon, sagt ein Ex-Soldat im Viertel Ashrafieh in Ostbeirut. «Ich respektiere Nasrallah. Aber das ist das Ende des Hizbullah. Jetzt soll die Armee übernehmen und den Krieg beenden.»

Doch davon ist Beirut weit entfernt. Dahiye, das vom Hizbullah beherrschte Viertel im tiefen Süden Beiruts, war die ganze Nacht hindurch bombardiert worden und ist auch jetzt wieder Ziel von Angriffen. Die Schnellstrasse, die es durchquert, ist leer. In den verlassen scheinenden Gassen wehen Wimpel mit den Porträts der jüngsten Märtyrer im Wind. Angeblich sollen Hizbullah-Leute inzwischen von Haus zu Haus gegangen sein und die Bewohner aufgefordert haben, das Viertel zu verlassen.

Am frühen Abend hört man über Beirut mit einem Mal das Knattern von Schnellfeuerwaffen. Erst ist unklar, was vorgefallen ist. Dann geht plötzlich das Gerücht um, der Hizbullah-Fernsehkanal al-Manar habe versehentlich eine alte Nasrallah-Rede ausgestrahlt. Einige seiner Anhänger hätten daraufhin fälschlicherweise geglaubt, ihr Anführer wäre doch noch am Leben – und vor Freude in die Luft geschossen.

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