Sonntag, September 29

Iran beobachtet geschockt den Zerfall seiner jahrzehntelang aufgebauten «Achse des Widerstands» – und Israel feiert einen bedeutenden Sieg. Libanon wiederum steht vor dunklen Stunden. Doch noch ist der Hizbullah nicht besiegt.

Stundenlang hatten Bergungsmannschaften unter den riesigen Trümmern in der Beiruter Schiitenvorstadt Dahiye gesucht. Am Sonntagmittag war es dann so weit. Man habe den Leichnam von Hassan Nasrallah geborgen, vermeldeten libanesische Medien. Er sei – trotz der Urgewalt der israelischen Bomben, die seinen Kommandobunker zerschmettert hatten – wundersamerweise sogar identifizierbar.

Abgesehen von der angeblichen äusseren Unversehrtheit seines toten Führers ist vom Hizbullah nach den Ereignissen der letzten Woche nicht viel intakt geblieben. Innerhalb weniger Tage hat Israels Armee der mächtigen, von Iran unterstützten Schiitenmiliz mehrere vernichtende Schläge verabreicht. Erst liessen die Israeli die Kommunikationsgeräte des Hizbullah hochgehen und löschten seine Militärführung aus.

Dann überzogen sie die Stammlande der Miliz mit Luftangriffen. Am Freitagabend folgte schliesslich der härteste Schlag. Mit mehreren bunkerbrechenden Bomben tötete die israelische Armee Hassan Nasrallah, den militärischen, spirituellen und politischen Kopf der Truppe. Israel stürzt den Hizbullah damit in eine gewaltige Krise – und dessen iranische Sponsoren gleich mit.

Noch sind die Auswirkungen dieses blutigen Wochenendes nicht absehbar. Dennoch ist davon auszugehen, dass der Nahe Osten danach nicht mehr derselbe sein wird. Denn die von Teheran angeführte sogenannte «Achse des Widerstands» wurde nicht nur eines ihrer wichtigsten Führer beraubt. Mit dem Hizbullah ist auch ihr Kronjuwel schwer angeschlagen.

In Israel vergleichen manche den Erfolg schon mit 1967

In Israel ist man sich der Dimension des Erfolgs bewusst. Am späten Samstagabend sprach Ministerpräsident Benjamin Netanyahu von bedeutsamen Tagen, die Israel nun durchlebe. «Wir befinden uns an einem Moment, der als ein historischer Wendepunkt angesehen werden wird.»

Iran müsse nun seine gesamte Position im Nahen Osten neu evaluieren, sagt Eldad Shavit von der Tel Aviver Denkfabrik Institute for National Security Studies im Gespräch. «Die Hamas ist sehr schwach, aber noch nicht zerstört und der Hizbullah wird eine sehr viel schwächere Organisation sein.» Die Huthi und die proiranischen Milizen im Irak könnten Israel zwar mit vereinzelten Raketen beschiessen, würden allerdings die strategische Position Irans nicht signifikant verändern.

Die gegenwärtige Situation sei vergleichbar mit Israels überwältigenden Sieg im Sechstagekrieg 1967, glaubt der Iran-Experte Shavit. «In meiner gesamten Karriere im israelischen Sicherheitsapparat war ich der Überzeugung, dass der Hizbullah unser stärkster und gefährlichster Feind ist – und jetzt sehen wir in nur wenigen Tagen den Kollaps dieser Organisation.» Ob Israel die Schiitenmiliz nun komplett zerstören will und dafür Bodentruppen nach Südlibanon schickt, bleibt bisher unklar.

Israelische Politiker und Militärs betonen seit Tagen ihre Bereitschaft, auch diesen Schritt zu gehen. «Es wird sehr schwierig sein, ohne eine Bodenoperation die Kurzstreckenraketen in der Nähe der nördlichen Grenze zu zerstören», sagt Shavit. Doch sollte es in naher Zukunft eine politische Lösung geben, in deren Rahmen die Waffen von der Grenzregion abgezogen würden, könne Israel damit leben, keine Soldaten nach Libanon zu schicken.

Aus Teheran kommt bisher wenig bis nichts

Für Iran hingegen ist Israels laufender Blitzfeldzug ein strategisches Desaster. Teheran hatte den Hizbullah nicht zuletzt deshalb mit viel Geld und schweren Raketen ausgerüstet, um an den Ufern des Mittelmeers über eine effektive Abschreckungswaffe gegen seinen Erzfeind zu verfügen. Stattdessen muss es nun untätig mit ansehen, wie Israel ihren Verbündeten beinahe widerstandslos demontiert.

Anstatt ihren Kampfgenossen zur Hilfe zu kommen, haben die Iraner die Hizbullah-Kader zuletzt offenbar immer wieder davon abgehalten, auf ihr Arsenal von weitreichenden Raketen zurückzugreifen. Auf den Tod Nasrallahs reagierten die Machthaber in Teheran schmallippig. Ausser den üblichen Verwünschungen gegen Israel und vagen Vergeltungsdrohungen kam aus der selbsterklärten Hauptstadt des Widerstands bisher wenig bis nichts.

Offenbar scheint Iran auch jetzt nicht an einem grossen Krieg interessiert. Ob das angesichts der derzeitigen Rückschläge so bleibt, ist ungewiss. Allerdings ist fraglich, ob Israels Feinde derzeit zu grossen, koordinierten Gegenangriffen fähig sind. Am Wochenende gelang es den Israeli sogar, den iranischen Flugverkehr nach Beirut zu unterbinden.

In Libanon haben die schweren Rückschläge des Hizbullah Schockwellen ausgelöst. In dem kleinen Land ist die Miliz die beinahe alles beherrschende Macht. Der Tod Nasrallahs bedeutet deshalb eine Zeitenwende. Doch in Beirut gibt es weit und breit niemanden, der das Vakuum füllen könnte: die provisorisch amtende Regierung ist handlungsunfähig und die übrigen Politiker trauen sich angesichts der volatilen Situation bisher nicht aus der Deckung.

Der Hizbullah wird wohl trotzdem weiterkämpfen

Der Hizbullah mag zwar seine Führung verloren haben. Grosse Teile seines Raketenarsenals und die Mehrheit seiner entschlossenen Kämpfer existieren aber weiterhin – genauso wie seine in der schiitischen Gemeinschaft tief verankerte Ideologie. Die Miliz muss nun erst den Verlust ihres Führer verdauen und einen neuen Generalsekretär wählen. Als Favorit gilt der Nasrallah-Cousin Hachem Saffiedine – ein gewiefter Organisator und enger Vertrauter Irans.

Der Hizbullah dürfte daher trotz allem weiterkämpfen – und sei es nur, um die gewaltige Demütigung auszugleichen, die ihm Israels Armee und die tödliche Fehlkalkulation der eigenen Führung eingebrockt hat. Schon jetzt sind in Libanon Hunderttausende auf der Flucht, ganze Dörfer und Städte entvölkert sowie Hunderte bei israelischen Bombenangriffen getötet worden. Der traumatisierten Zivilbevölkerung des wirtschaftlich kaputten Landes stehen deshalb dunkle Stunden bevor.

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