Sonntag, Oktober 6

Die Bühne als diplomatische Vertretung: Das ist das Szenario eines dokumentarischen Stücks über Taiwan, das am Theaterspektakel gezeigt wird. Zuvor haben Dramaturgin und Darsteller im Gespräch erklärt, weshalb sie sich nie einig sind über die Identität ihres Landes.

Auf dem Tisch liegt Gebäck; grosse, braune Ringe in einer offenen Klarsichtfolie. Noch vor Beginn unseres Gesprächs in einem Proberaum der Roten Fabrik hat David Wu die Packung taiwanischer Cookies aufgerissen. Der untersetzte Mann mit wachem Blick, der einem sogleich seine Visitenkarte entgegengestreckt hat, war während 37 Jahren als Botschafter Taiwans tätig – eines Landes, das so gut wie nirgendwo als unabhängiger Staat anerkannt wird. Er weiss, wie man eine entspannte Atmosphäre schafft.

Das Süssgebäck aber wird nicht angerührt. Zu sehr sind alle am Tisch auf Fragen konzentriert, die sich um «Dies ist keine Botschaft (Made in Taiwan)» drehen. Die Theaterproduktion, die in einer fiktiven taiwanischen Botschaft spielt, hat der Schweizer Theatermacher Stefan Kaegi (Rimini Protokoll) mit der Dramaturgin Szu-Ni Wen für drei Personen konzipiert: David Wu, die Vibrafonistin Debby Wang und Chiayo Kuo, die eine NGO für digitale Diplomatie leitet, spielen sich selbst in diesem dokumentarischen Stück. Nach mehreren Stationen in Europa und Taiwan wird es jetzt auch am Zürcher Theaterspektakel gezeigt.

Verschiedene Blickwinkel

Das taiwanische Ensemble hat sich in einem Raum der Roten Fabrik eingefunden, wo später der Text repetiert werden soll. Vor der Probe aber versuchen alle gemeinsam, ihre Anliegen zu erklären. Das ist nicht ganz unproblematisch. Denn Kaegi und Wen lassen auf der Bühne absichtlich Menschen gegensätzlicher Ansichten über ihr Land reden. Die Produktion basiert auf Interviews mit den drei Protagonisten; sie entwickelt sich aus der kontrapunktischen Verflechtung persönlicher Aussagen. Wenn Wu «x» sagt, sagen die andern meist «y».

Kein Wunder also, herrscht zuweilen auch Uneinigkeit am Tisch. Es scheint der taiwanischen Delegation bisweilen fast etwas peinlich – vor allem bei politischen Themen. In Taiwan, so ist zu vernehmen, würden Gespräche über Politik in der Regel nur mit Gleichgesinnten geführt, um Streit und Hitzigkeit zu vermeiden. «Sprechen Sie denn gerne mit Leuten, die politisch anders denken?», fragt Debby Wang. Und leicht erstaunt schüttelt sie den Kopf, wenn man versucht, Kontroverse und Kompromiss als probate demokratische Verfahren zu legitimieren.

Die drei Frauen und der eine Mann bleiben vorsichtig, sie fallen sich nie ins Wort; spontanen Widerspruch gibt es kaum. Und wenn nun die Frage gestellt wird, was dem Schweizer Publikum nahegebracht werde in «Dies ist keine Botschaft», lassen die Kolleginnen David Wu erst einmal freien Lauf.

«Wir klären das Publikum über die seltsame Situation in Taiwan auf», sagt er; es gehe dabei um die Geschichte. Und nun spricht der pensionierte Diplomat vom Ende der japanischen Besetzung von 1945, er erwähnt Chiang Kai-shek, der sich 1949 nach verlorenem Bürgerkrieg mit seiner Partei Kuomintang nach Taiwan zurückgezogen habe, und rühmt die Entwicklung des Landes, das mit seinen 23 Millionen Einwohnern heute zu den einundzwanzig bedeutendsten Volkswirtschaften gehöre. «Weshalb aber werden wir nicht als Staat anerkannt? Weil das heutige China nicht will, dass wir als Staat anerkannt werden!»

Keine Geschichtsstunde

Szu-Ni Wen möchte nun aber keinen falschen Eindruck aufkommen lassen: «Unser Theater ist keine blosse Geschichtsstunde», protestiert lachend die erfahrene Dramaturgin, der man die Rolle einer strengen, aber geduldigen Lehrerin durchaus zutrauen würde. Es gehe weniger um allgemeine Geschichte als vielmehr um persönliche Geschichten.

Tatsächlich ist auf der Bühne auch von alltäglichen Erfahrungen und familiären Prägungen die Rede. Debby Wang etwa spricht über den Bubble-Tea, mit dem ihre Familie Handel treibt. David Wu lässt das Publikum wissen, dass er im Alter von 46 Jahren entdeckt habe, dass er von einer reichen Familie adoptiert worden sei; seine leiblichen Eltern waren Bauern. Und Chiayo Kuo erzählt von ihrem Grossvater, der im Dienste der japanischen Besetzer stand.

Chiayo Kuo spricht auch jetzt von japanischen Einflüssen. Sie sei überzeugt, dass man es auch der Besetzungsmacht zu verdanken gehabt habe, dass Taiwan technologisch früh eine Vorreiterrolle habe spielen können. David Wu jedoch will das nicht gelten lassen: Die Japaner hätten gar nichts Gutes gebracht, verkündet er bestimmt, aber freundlich.

Chiayo Kuo und David Wu sind stets gegenteiliger Auffassung. Zum Beispiel, was die Zukunft Taiwans betrifft. Im Sinne der Kuomintang, deren Mitglied er ist, sieht sich David Wu als Vertreter der Republik China, für die Chiang Kai-shek im Krieg gegen die kommunistische Volksrepublik China kämpfte. Sein politischer Traum sei bis heute die Wiedervereinigung beider Teile; freilich unter der Ägide der Republik China. Die junge Chiayo Kuo hingegen sieht nicht ein, weshalb das Land, das seit Jahrzehnten in Unabhängigkeit funktioniert, irgendwann einem anderen Staat einverleibt werden sollte.

Der Gegensatz ist symptomatisch für eine «Krise der Identität», finden alle. «Für Europäer scheint es einfach», sagt die schlagfertige Jazzmusikerin Debby Wang, Taiwaner seien für Europäer einfach Leute aus Taiwan – irgendwelche Asiaten halt. «Wir aber fragen uns, wer mit der Bezeichnung Taiwaner jeweils gemeint ist: die Indigenen? Die Hakka? Die Nachkommen der japanischen Besetzer? Oder die Vertreter der Republik China?»

Herkunft und Identität, das sei für ihn tatsächlich ein Problem, gesteht David Wu. Er fühle sich einerseits als Bürger der Republik China und andrerseits doch auch einfach als Taiwaner. Ist die nationale Identität für alle ein Problem? Ist es vielleicht diese Unsicherheit, die sie eint? «Uns eint nur die Gewissheit, dass wir uns keine Vereinigung mit dem heutigen kommunistischen China vorstellen können», sagt Chiayo Kuo.

Geopolitischer Albdruck

Wie gross ist in Taiwan denn die Angst vor einer chinesischen Besetzung? Für die drei Frauen ist das eine typische Westler-Frage. Taiwan sei ein eigenständiges Land. Im Westen meine man immer, die Taiwaner dächten nur an China. Dabei habe man sich an die Bedrohung gewöhnt, man versuche, das Thema zu verdrängen. Der Angriff Russlands auf die Ukraine scheint die Angst allerdings zurückgebracht zu haben. Szu-Ni Wen jedenfalls sagt, sie habe die Gefahr eines Krieges lange ignoriert. Die Geschehnisse in der Ukraine seien für sie eine Warnung.

Nach einer guten Stunde ist Schluss mit reden und Zeit für die Probe. Die Frauen und der Mann aus Taiwan verlassen den Tisch. Zurück bleiben nur ein Journalist und die unberührten Cookies. Sie sind lecker und butterweich, aber sehr bröselig. Wenn die Ringe zwischen den Fingern fast zerfallen, gemahnt das an brüchige Identitäten.

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