Samstag, Oktober 5

Ein Schweizer Filmteam beobachtet über Jahre hinweg den Alltag auf der Mittelmeerinsel. Mittendrin bricht der Vulkan gewaltig aus. Und das Leben? Es geht weiter.

Auf den Schultern eines rauchenden, rumpelnden, mitunter feuerspeienden Riesen lebt die Bevölkerung der Mittelmeerinsel Stromboli. Der gleichnamige Vulkan, einer der aktivsten der Welt, gehört zu ihrem Inselleben wie das Wetter und die Jahreszeiten.

Man muss erlebt haben, wie sie über ihn sprechen, wenn er wieder einmal gar stark rumort und spuckt: wie über einen etwas kauzig gewordenen alten Onkel, der halt ab und zu seine Ausbrüche hat. Der Iddu, wie sie ihn nennen, ist unverrückbarer Teil der Faszination dieses sizilianischen Eilands mit zehn Kilometern Umfang. Es lockt weder mit endlosen Sandstränden noch mit vielfältigem Entertainment und ist doch ein Magnet für Schaulustige.

Der grosse Ausbruch

Den zum Teil kargen Alltag der knapp 500 Einwohner von Stromboli haben die Berner Filmemacherin Miriam Ernst und ihr Lebenspartner, der italienische Kameramann Stefano Bertacchini, über die vergangenen sieben Jahre hinweg erkundet. Ihre Dokumentation «Iddu – Inselgeschichten» ist ein Porträt eines wunderlichen Fleckens Erde, aber glücklicherweise kein touristischer Werbespot. Der Film führt durch den ganzen Jahreskreis, begonnen mit der Weihnachtszeit: Die zahlenden Gäste sind längst abgezogen, die Boote liegen an Land, verpackt wie Mumien.

Das Eiland, ausgesetzt den Elementen Wasser, Feuer, Erde und Wind, scheint zu schlafen. Spätestens im Hochsommer wird eine Flut es wecken. Gemeint ist der Strom von Zehntausenden Touristen, die Tag für Tag von Schiffen ausgespuckt werden, meist höchstens bis am Abend bleiben und bestenfalls ein paar Euro liegenlassen. So mancher sieht die einfallenden Tagesbesucher als die eigentliche Naturplage. Der Inselarzt verhängt die vernichtende Diagnose «völlig untauglich» für das Inselleben.

Und dann legt der Vulkan sein Veto gegen die Vermarktung ein. So jedenfalls interpretieren einige Einheimische seinen Ausbruch zwei Jahre nach Drehbeginn. Die dystopisch anmutenden Bilder der gewaltigsten Eruption seit Jahrzehnten gehen 2019 um die Welt. Nach dem Lavaregen verschwinden die Vögel für Tage, das Zirpen der Grillen verstummt, die Gäste bleiben für längere Zeit aus. Das Naturereignis wird für die touristische Ausrichtung der Insel zur Zäsur.

Auch das Geschäft von Manuel Oliva bricht vorübergehend ein: Der feinsinnige Sohn eines strombolianischen Fischers und Kochs und einer hergezogenen Baslerin kehrte nach dem Studium auf dem Festland zurück, um hier seinen Traumberuf als Vulkanführer auszuüben. Er will das weiter tun, sucht nun aber auch andere Perspektiven für die Insel. Symbolhaft dafür steht, dass er mit anderen Olivenbäume pflanzt, schliesslich war in früheren Jahrhunderten jede Ecke der Insel kultiviert. Doch das Rad der Zeit lässt sich schwerlich zurückdrehen, bei aller Kritik am Overtourism.

Der Krater als Entertainer

Die Massen werden zurückkehren – und mit ihnen die Betrachtung des Vulkans als Show. Diese beklagt besonders wortgewaltig Andrea Fabbricini, der heimliche Star dieses Films. Dem gebürtigen Neapolitaner gehört das Gasthaus Barbablu, vor zehn Jahren noch Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens und heute ein verträumter Platz. Für die meisten Touristen, so sagt er, sei Stromboli nur einer von zahllosen Orten, die sie auf ihren Reisen mit erschütternder Ignoranz abklapperten. «Warum kommen all diese Menschen und suchen die Sensation von etwas, das so sensationell ist, dass es zum Horror wird, wenn es sich zeigt?», lautet seine hintersinnige Frage.

Vulkanologen versuchen, die Voraussagen für die Ausbrüche zu optimieren, doch Garantien gibt es keine. So steht Stromboli auch für das Unvermögen des Menschen, die Natur zu domestizieren, und seine verzweifelten Versuche, ihre Launen zu prognostizieren. Die Bewohner aber wissen: In jeder Grossstadt lauern tausend Gefahren. Sie beobachten den Vulkan mit einer Mischung aus Gelassenheit und Anteilnahme. Sie leiden unter einem ausgeprägten Stockholm-Syndrom: Sie identifizieren sich mit ihm.

Schon immer war Stromboli gleichzeitig Ziel der Sehnsucht wie auch deren Ausgangspunkt. Der grosse Ausbruch 1930, der fast nur verbrannte Erde hinterliess, zog eine Auswanderungswelle nach sich. Sie führte viele nach Australien, wo der Fischer Gaetano Cincotta später seine Familie zurückliess, wie er in einer herzzerreissenden Szene berichtet.

Gaetano zählt zu den bekanntesten Originalen auf der Insel, sein zerzauster Charakterkopf taucht auch in einer der stärksten Szenen auf: Ein Helfer entwirrt mit ihm geduldig ein gelbes Fischernetz und stimmt dabei eine Art Rosenkranzgebet an.

Nicht nur hier finden die Bilder zu starker poetischer Kraft. Traumartig fängt die Kamera die Melancholie dieses im liparischen Archipel gelegenen Inselchens ein, das auch ein Ort der Abschiede ist. Sie durchziehen ihn wie ein roter Faden, und es fliessen Tränen bei den Erzählungen der Figuren vor der Kamera, die auch zu einer Feier der Oral History werden. Hin und wieder allerdings kippt das Bemühen, dem Untertitel («Inselgeschichten») gerecht zu werden, in etwas gar forciertes Storytelling – etwa beim jungen Paar, dessen Liebe an der unterschiedlichen Bindung zur Insel zu scheitern droht.

Letzte Ruhe mit Meersicht

Ein Dreivierteljahrhundert ist es her, dass hier die aufsehenerregende Affäre zwischen zwei Ortsfremden entflammte: Roberto Rossellini und Ingrid Bergman, als sie zusammen den Spielfilm «Stromboli – Terra di Dio» drehten. Die Schauspielerin gab eine litauische Zuzügerin, welche die unwirtliche Seite des Eilands zu spüren bekommt, und bis heute ist ihr Geist präsent: Die berühmteste Bar der Insel heisst «Ritrovo Ingrid», auch ein Schauplatz dieser Dokumentation, die auf der Piazza San Vincenzo beginnt. Hier treffen sich Menschen und noch lieber streunende Katzen zwischen der besagten Bar und der Kirche.

Die religiösen Traditionen schwingen mit auf dieser Reise durchs Jahr, sie endet am Tag der Toten auf dem Friedhof, der die Fäden der Geschichten zusammenführt. Vorne bietet der Schauplatz traumhafte Meersicht, im Rücken räuchelt der Vulkan. Auch der Lebensmittelhändler Pierpaolo tritt hier noch einmal auf. Sein Gesicht ist jedem vertraut, der auch nur kurze Zeit auf der Insel verbringt. Wenige Wochen vor der Premiere des Films wird er mit nur fünfzig Jahren aus dem Leben gerissen. Er findet hier wie Tausende Insulaner vor ihm seine letzte Ruhe, auf der Schulter des Vulkans.

«Iddu – Inselgeschichten». Im Kino.

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