Sonntag, Oktober 6

Die Verhaftung des Telegram-Chefs Pawel Durow hat den Messenger-Dienst ins Rampenlicht gerückt. Über die Firma, die dahintersteht, ist wenig bekannt – genau wie über die Finanzen.

Es ist noch nicht allzu lange her, da warf Pawel Durow das Geld aus dem Fenster. 2012 lebte der Telegram-Gründer in seiner Heimat Russland und leitete das erfolgreiche soziale Netzwerk VKontake. Eines Tages faltete er gemeinsam mit seinem Vize Ilja Perekopski 5000 Rubel-Noten (umgerechnet 155 Dollar) zu Papierfliegern und liess diese aus seinem Bürofenster auf die Strassen von Sankt Petersburg gleiten. Dort prügelten sich Passanten um die Geldscheine, Durow sah vom sechsten Stock aus zu.

Der Papierflieger, das Logo des Messenger-Dienstes Telegram, soll an diese Aktion erinnern. Und natürlich an die Idee der Freiheit, die der Dienst laut Durow verkörpert: Freiheit von Zensur, Freiheit von Eingriffen in die Privatsphäre, Freiheit von staatlichen Aufsichtsbehörden.

Für Durow selbst endete die Freiheit am vergangenen Wochenende jäh: Bei seiner Landung in Paris wurde er von den französischen Behörden festgenommen. Sie werfen ihm vor, auf seiner Plattform nicht genug gegen Drogenhandel, Terrorismusförderung und Gewalt gegen Minderjährige unternommen zu haben. Die Verhaftung wirft ein Schlaglicht auf ein Unternehmen, das im Verborgenen agiert. Durow und seine Mitstreiter verschleiern ihre Aktivitäten hinter einem Netz von Tarnfirmen.

Schwierige Suche nach einem Firmensitz

Schon die Entstehungsgeschichte von Telegram ist die einer Flucht vor Einmischung. 2013 wurde die App von Durow und seinem Bruder Nikolai entwickelt. Gemeinsam hatten sie bereits im Jahr 2006 VKontakte gegründet. 2014 verkauften sie ihre Anteile an dem sozialen Netzwerk mit der Begründung, der russische Staat habe zu viel Einfluss erhalten. Damit es Telegram nicht genauso ergehen würde, verliessen die Brüder Russland.

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Die Suche nach einem geeigneten Unternehmenssitz erwies sich als schwierig. Die geplante Niederlassung in Berlin scheiterte laut Angaben Durows daran, Aufenthaltsgenehmigungen für alle Mitarbeiter zu erhalten.

Weiter ging es nach London, bis im Jahr 2019 war die Telegram Messenger LLP unter der Londoner Adresse eines Unternehmens registriert, das seinen Hauptsitz auf den Seychellen hat. Auch in Singapur machten Durow und die Entwickler Station. Heute ist Telegram als Unternehmen auf den Britischen Jungferninseln und in Dubai gelistet, in Dubai soll sich der Hauptsitz befinden.

Ein Netz aus Scheinfirmen

Das Emirat ist für Durow aus steuerlichen Gründen interessant, mit einem geschätzten Vermögen von mehr als 15 Milliarden Dollar gilt er als reichster Bewohner. Die Wahl des Unternehmenssitzes dürfte aber auch damit zu tun haben, dass die Behörden in Dubai sich deutlich weniger für die Abläufe bei Telegram interessieren als die europäischen.

Ob Durow und die Telegram-Entwickler sich tatsächlich dauerhaft in Dubai aufhalten, ist unklar. Laut diversen Medienberichten ist am offiziellen Telegram-Sitz nie jemand anzutreffen, Durow selbst bezeichnet sich als digitalen Nomaden.

Wie viele Mitarbeiter Telegram genau hat, ist nicht bekannt, Schätzungen gehen davon aus, dass es um die 50 sind. Fest steht, dass Pawel Durow die volle Kontrolle über das Unternehmen hat. Somit bestimmt auch er, welche Informationen an die Öffentlichkeit gelangen. Telegrams Datencenter befinden sich auf der ganzen Welt verteilt und sind in ein komplexes Netz aus Briefkastenfirmen eingebettet. Laut Firmenangaben hat das den Zweck, die Daten, die nicht Ende-zu-Ende verschlüsselt sind, besser zu schützen.

Gescheiterte Krypto-Pläne

Auch über die finanzielle Situation der Firma weiss man wenig – wobei klar ist, dass der Betrieb der App einiges an Geld verschlingt. In den Anfangsjahren habe er Hunderte Millionen seines Privatvermögens in Telegram gesteckt, so Durow. Er und sein Bruder Nikolai gaben stets an, mit dem Dienst kein Geld verdienen zu wollen. Dennoch müssen sie die Kosten irgendwie hereinholen.

2017 trieben die Gebrüder darum einen Plan voran, der Telegram Einkünfte bescheren sollte, ohne mit ihrem Versprechen einer kostenlosen und werbefreien App zu brechen: Sie entwickelten eine eigene digitale Währung und ein Blockchain-System namens Telegram Open Network, kurz TON.

Zu diesem Zweck sammelten sie 1,7 Milliarden Dollar von Investoren ein. Darunter waren bekannte amerikanische Beteiligungsgesellschaften wie Kleiner Perkins, Sequoia Capital und Benchmark, aber auch russische Oligarchen und der inzwischen flüchtige ehemalige Wirecard-Chef Jan Marsalek.

Das Projekt erwies sich als Fehlschlag. Im Oktober 2019 verhängte die amerikanische Börsenaufsicht SEC einen sofortigen Verkaufsstopp für die Währungseinheiten, die sie als illegalen Börsengang durch die Hintertür wertete. Telegram musste eine Busse in Höhe von 18,5 Millionen Dollar zahlen. Unter anderem um die Schulden bei den Investoren zu begleichen, besorgte Durow sich im März 2021 auf herkömmlichem Weg neues Geld: Telegram begab Anleihen im Wert von über einer Milliarde Dollar.

Anzeigen und Abo-Angebote bringen Geld

Das Geld reichte offenbar nicht aus, um die Ausgaben zu decken. 2021 führte Telegram sogenannte gesponserte Nachrichten in grossen Chatgruppen ein, eine Art abgeschwächte Form von Anzeigen. Für professionelle Nutzer gibt es mittlerweile ein kostenpflichtiges Abo. Die Massnahmen dienen laut Firmenangaben dem Zweck, die Kosten für Betrieb, Infrastruktur und Entwickler zu tragen.

Im März dieses Jahres gab Telegram bekannt, weitere Anleihen im Wert von 330 Millionen Dollar ausgegeben zu haben. In einem Interview sagte Pawel Durow im selben Monat, man nähere sich der Profitabilität. Telegram habe 900 Millionen Nutzerinnen und Nutzer und mache durch Werbung und Premium-Abonnements «Hunderte Millionen Dollar» Umsatz. Für den Fall, dass man die Profitabilität erreicht, brachte Durow auch einen Börsengang ins Spiel – als Möglichkeit, «den Zugang zum Wert von Telegram zu demokratisieren».

Ein Börsengang im nächsten Jahr?

In einem solchen Fall wolle man in Betracht ziehen, einen gewissen Anteil an Aktien an besonders treue Nutzer auszugeben, so Durow. Ein Börsengang wäre aber auch für die momentanen Gläubiger von Telegram attraktiv. Sollte der Schritt vor März 2026 erfolgen, könnten diese ihre Anleihen mit einem gewissen Abschlag in Eigenkapital umwandeln. Die Schulden, die Telegram bei seinen Anleihegläubigern hat, belaufen sich inzwischen auf 2,3 Milliarden Dollar.

Ob es tatsächlich zu einem Börsengang kommt, ist aber unklar. Auch wenn der Schritt für Telegram aus finanzieller Sicht sinnvoll wäre – für Durow würde er bedeuten, dass er Kontrolle abgeben und mehr Informationen über Telegram offenlegen muss.

Zurzeit hat Pawel Durow allerdings ohnehin andere Sorgen als einen Börsengang. Zwar ist er in Frankreich inzwischen auf freiem Fuss, jedoch läuft ein Ermittlungsverfahren gegen ihn. Das Land darf er bis auf weiteres nicht verlassen, am Ende des Verfahrens könnte eine Anklage stehen. Dann könnte Pawel Durow gezwungen sein, mehr Transparenz walten zu lassen – und somit einen Teil seiner Freiheit aufzugeben.

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