Sonntag, Januar 19

Menschen fühlen sich gut, wenn sie handeln. Diese Tendenz beeinflusst unser Verhalten bei Problemen – oft zum Schlechten. Wer lernt, Herausforderungen auch einmal mit Nichtstun zu begegnen, führt ein besseres Leben.

Wie oft haben Sie schon eine Website aktualisiert, weil sie nicht rasch genug geladen hat? Und wie oft haben Sie ein Update Ihres Computers oder Smartphones abgebrochen und das Gerät neu gestartet, weil Sie glaubten, es gehe dann schneller? Der Vorgang dauert dadurch länger, und vermutlich wissen Sie das auch. Aber der Drang, bei einem Problem unbedingt handeln zu müssen, ist so festgeschrieben in unserer Intuition, dass wir es kaum aushalten, erst einmal . . . – nichts zu tun.

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«Action-Bias» nennen Psychologen diese kognitive Verzerrung, die unsere Gesellschaft durchdringt. Der Action-Bias beeinflusst unter anderem, wie wir unsere Kinder erziehen und ob es uns gelingt, uns nach einem Streit wieder zu versöhnen. Aber auch, welche Politiker wir wählen und ob unsere medizinische Versorgung sicher ist.

Der englische Philosoph Bertrand Russell kritisierte bereits 1971 in seinem «Lob des Müssiggangs», sehr viel Unheil in der Welt entstehe aus dem Glauben an den überragenden Wert des Tuns an sich. Studien zum Action-Bias belegen: Das stimmt. Unser Drang zur Tat ist so mächtig, dass wir selbst dann handeln, wenn Aktionismus uns schadet.

In Kleinigkeiten zeigt sich der Action-Bias jeden Tag. Egal, ob wir im Stau stecken und uns eine schnellere Route wünschen, im Aufzug immer wieder auf die Tür-schliessen-Taste drücken oder beim Anstehen die Warteschlange wechseln: Wir wollen unsere Situation beeinflussen, also handeln wir. In Wahrheit gaukeln wir uns selbst Kontrolle vor: Tür-schliessen-Tasten in Aufzügen haben meist eine Drei-Sekunden-Sperre, wer wegen Stau von der Autobahn abfährt, braucht tendenziell länger bis zum Ziel, und bei Warteschlangen wären wir häufig schneller, wenn wir dort blieben, wo wir stehen.

Wer passiv bleibt, macht sich schuldig

Für den Einfluss des Action-Bias auf unser Leben gibt es zwei wesentliche Ursachen. Nach den Regeln der Evolutionsbiologie war es jahrtausendelang sinnvoll, auf neue Situationen schnell zu reagieren, indem man etwas tut: Wenn ein Tiger vor Ihnen steht, überlegen Sie nicht lange, ob er zahm ist, sondern Sie rennen.

Der andere Grund ist die kulturelle Prägung. In unserer Gesellschaft ist Handeln seit langem mehr wert als Nichtstun, das zeigen Sprichwörter wie «Wer etwas tut, hat es wenigstens versucht. Wer nichts tut, hat schon verloren» oder «Taten statt Worte sprechen lassen». Und auch heute werben erfolgreiche Menschen für mehr Tatkraft. So schrieb die Schweizer Verlegerin Ellen Ringier in einem Gastbeitrag für die Zeitschrift «CEO», sie habe als junge Frau beinahe den Glaubenssatz des französischen Philosophen Descartes verinnerlicht: «Cogito, ergo sum»; ich denke, also bin ich. In ihrem Text appelliert sie, besser sei: «Machen, handeln, tätig sein. Ich handle, also bin ich!» Bewusst oder nicht, folgt sie dem Leitspruch des Engländers Gilbert Ryle, der schon vor Jahrzehnten formulierte: «I act, therefore I am.»

Der positive Wert einer Handlung ist in unserer Gesellschaft so tief verwurzelt, dass Studien belegen: Wer handelt, wird weniger streng beurteilt als Leute, die keinen Tatendrang zeigen – selbst dann, wenn die Tat nichts bringt. Wer passiv bleibt, macht sich schuldig.

Das führt zu Problemen. Eine sinnvolle Tat ist ein Werkzeug, und wie jedes Werkzeug braucht sie die Frage nach dem Wofür: Nur wer zuerst darüber reflektiert, welche Handlung einem Ziel am besten dient, wird später das Richtige tun, um es zu erreichen. Der Raum für Reflexion aber öffnet sich nur in der Ruhe des Nichtstuns. Eine Gesellschaft, die das Handeln zum Gebot jeder Stunde erklärt, verschliesst diesen Raum. Das hat Konsequenzen.

Sogar sinnloses Handeln bewerten wir positiv

Je häufiger jemand die Erfahrung macht, dass Untätigkeit sozial bestraft wird, desto eher wird er dazu neigen, sich sogar dann tatkräftig zu zeigen, wenn Aktionismus eine schlechte Wahl ist. Die Person handelt um der Handlung willen.

Diese Dynamik zeigt sich unter anderem in Klassenräumen. Wenn eine Lehrkraft eine Frage stellt, melden sich Schüler oft auch dann, wenn sie keine durchdachte Antwort auf die Frage haben. Wenn es darum geht, gut dazustehen, reicht es häufig aus, Fleiss nur darzustellen.

Gleiches gilt in der Politik. Um hervorzustechen, bevorzugen Politiker zuweilen Initiativen, die sich gut präsentieren lassen, gegenüber solchen, die etwas bewirken. Föhren etwa wachsen vergleichsweise schnell. Ein Politiker, der einen Wald nach Befall durch den Borkenkäfer mit Föhren aufforsten lässt, wird daher als Macher gesehen und wertgeschätzt. Föhren aber werden durch den Klimawandel hierzulande nur noch schwer auch nachhaltig gedeihen.

Die Verklärung von Tatendrang als etwas immer Gutes fördert Handlungen ohne Sinn. Vielleicht hilft es, sich an eine Grundformel der Physik zu erinnern: Leistung ist Arbeit durch Zeit. Wenn ich viel Zeit in Handlungen investiere, die kaum dabei helfen, eine Herausforderung zu lösen, sinkt die erbrachte Leistung.

Manchmal löst nur Nichtstun ein Problem

Tatendrang wird zudem fast immer zum Problem, wenn er von Angst getrieben wird. Ängste vor Niederlagen, Verlust und Zurückweisung wirken auf den Action-Bias wie Benzin auf Flammen. Wer aus Angst handelt, überhastet die Dinge.

Das gilt besonders im Bemühen um einen Menschen, den man liebt. Im Streit sagt man Dinge, die man nicht so meint. Wenn das Bedauern kommt, wollen wir deshalb handeln – uns aussprechen, wiedergutmachen, reparieren. Am liebsten sofort. Wenn wir aber emotional aufgeladen sind, ist in unserem Gehirn die Amygdala aktiv. Sie schickt dem Rest des Körpers das Signal: «Flucht oder Kampf!»; das ist kein Leitspruch für Versöhnung. Wer dem Drang zu handeln nachgibt und zu schnell auf eine Aussprache drängt, wird das bereuen.

Nach einem Streit erst einmal nichts zu tun, ist hart, gerade wenn man das eigene Tun bereut. Daher reden wir uns oft ein, wir seien schon bereit für ein Gespräch. Wie Angst animiert auch Selbstüberschätzung zu einer Handlung, bei der aus guter Absicht oft Schlimmes folgt.

Geben wir uns und dem anderen Zeit, gehen wir in der Natur spazieren und tun sonst erst einmal nichts, hilft das der Amygdala, sich zu beruhigen. Zeit heilt zwar nicht alle Wunden, aber keine Wunde heilt ohne Zeit. Oft ist das Beste, was man tun kann, nichts zu tun.

Auch in der Kindererziehung wird der Wert des Nichtstuns unterschätzt. Wenn ein Kind quengelt oder schreit, weil es an einem Puzzle oder einem Spiel scheitert, reagieren viele Eltern und wollen helfen. Nur klafft gerade während des Aufwachsens zwischen gut gemeint und gut gemacht eine Kluft. Da sein, Aufmerksamkeit schenken ist wichtig. Aber: nicht eingreifen. Kinder erfahren ihre Selbstwirksamkeit besonders intensiv, wenn sie Probleme lösen – auch einmal ganz allein. Die Erfahrung, es geschafft zu haben, erweckt ein Selbstbewusstsein, das zum Urvertrauen heranwachsen kann.

Wem hingegen immer geholfen wird, wer nie scheitern darf und nur selten erfährt, dass ihm etwas allein gelingt, den plagen später Selbstzweifel. Und der akzeptiert die eigenen Grenzen, lange bevor er sie tatsächlich erreicht. Dabei ist der Gedanke ja gut, einem Kind zu zeigen: Wir sind da, du musst Schwierigkeiten nicht allein lösen. Wer aber zu oft hört «Du musst nicht», versteht irgendwann «Du kannst nicht».

Um das Richtige zu tun, braucht es Abstand

Der Drang, anderen durch eigenes Tun zu helfen, hat neben der Erziehung auch in der Medizin Konsequenzen. Die Mehrzahl der Ärzte will für ihre Patienten sofort etwas tun. Mit dem hippokratischen Eid haben Mediziner geschworen, den Kranken zu helfen und sie vor Schaden zu bewahren. Wie soll das damit zusammenpassen, auch einmal nichts zu tun? Die Patienten finden Aktionismus meist gut. Sie fühlen sich ernst genommen, wenn ein Arzt ihnen Blut abnimmt, ein Rezept verschreibt oder gar zu einem Eingriff rät. Allerdings wird etwa jeder siebte Patient vorschnell und daher falsch behandelt, jeder zehnte auf eine Weise, die ihm schadet.

Tendenz ist: Im Zweifel wird operiert, auch wenn eine weniger intensive Behandlung möglich wäre. Zudem werden Antibiotika häufiger verschrieben, als sie sollten. Die Weltgesundheitsorganisation appelliert: «Ein übermässiger Gebrauch von Antibiotika führt dazu, dass sie in Zukunft nicht mehr wirken!» Auch medizinische Fachgesellschaften warnen vor der wachsenden Zahl von Resistenzen. Weil die Entwicklung neuer Medikamente schwierig sei, beobachte man zunehmend Versorgungsengpässe.

Ärzte begegnen im Alltag einzelnen Menschen, das grosse Ganze bleibt weit weg. Und so verführt der Action-Bias sie zu einem Handeln, das wirkt, als würde ein Tischler auf Kratzer im Parkett starren und dabei nicht bemerken, dass die Deckenbalken schon knarzen und splittern.

Natürlich besitzt auch der Drang, zu handeln, seinen Wert. Menschen bereuen es genauso oft, nicht gehandelt zu haben, wie sie sich über ihr Fehlverhalten ärgern. Unterlassene Hilfeleistung steht mit Grund unter Strafe. Und Erfindergeist entsteht oft genug aus Tatendrang statt aus viel Grübelei. Dennoch ist es gut, erst einmal innezuhalten, durchzuatmen und – nichts zu tun. Schon Aristoteles mahnte sinngemäss in seiner «Nikomachischen Ethik»: Wer auf richtige Weise handeln will, braucht zuvor Raum zum Denken.

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