Bundeskanzler Olaf Scholz lehnt die Lieferung des Taurus an die Ukraine ab, weil Deutschland dadurch zur Kriegspartei würde. Völkerrechtlich ist diese Argumentation jedoch nicht stichhaltig. Die Debatte darüber ist eine politische, keine juristische.
Das abgehörte Gespräch hochrangiger Offiziere der deutschen Luftwaffe ist ein gefundenes Fressen für die russische Propaganda. In dem Mitschnitt diskutieren die Offiziere über Wege, wie die deutschen Taurus-Marschflugkörper in der Ukraine eingesetzt werden könnten – auch gegen sehr konkrete Ziele wie die Krim-Brücke über die Meerenge von Kertsch. Kreml-Vertreter sehen darin einen Beleg dafür, dass Deutschland Angriffe auf «russisches» Territorium plane und damit viel stärker in den Krieg involviert sei, als es offiziell behaupte.
Für die russische Desinformation spielt dabei keine Rolle, dass Bundeskanzler Olaf Scholz die Lieferung des Taurus an Kiew just mit dem Argument ausgeschlossen hatte, Deutschland könnte Kriegspartei werden. Doch auch Vertreter des ganz linken und ganz rechten politischen Spektrums in Deutschland behaupten, das Leak enthülle rechtswidrige Angriffspläne gegen Russland.
Wenn hohe deutsche Offiziere die Sprengung von Infrastruktur eines Landes planen, mit dem wir nicht im Krieg sind, ist das ein klarer Verstoß gg. Art. 26 (1) GG, der die Vorbereitung eines Angriffskrieges verbietet. Zudem unterläuft das Verhalten der #Bundeswehr-Offiziere den…
— Björn Höcke (@BjoernHoecke) March 1, 2024
Diese Darstellung entspricht den von den Offizieren besprochenen Szenarien jedoch nicht. Sie diskutieren vielmehr darüber, unter welchen Voraussetzungen der Taurus von den Ukrainern selbst eingesetzt werden könnte und so Deutschland eben nicht in den Konflikt hineingezogen würde – eine Debatte, die bereits seit Wochen öffentlich geführt wird.
Nur wer direkt in Kampfhandlungen eingreift, ist Kriegspartei
Der Kanzler erklärt jeweils, die Lieferung des komplexen Waffensystems erfordere den Einsatz von Bundeswehrsoldaten, möglicherweise sogar in der Ukraine selbst. Zur Untermauerung plauderte er kürzlich aus, dass Grossbritannien den Ukrainern vor Ort beim Einsatz eigener und französischer Marschflugkörper helfe. Gleichzeitig betonte Scholz, die Nato sei keine Kriegspartei, und dabei müsse es bleiben.
Unabhängig von der holprigen Argumentation stellt sich die Frage, ab wann ein unterstützender Staat so weit in einen Krieg involviert ist, dass er Partei wird. Während bis zum Zweiten Weltkrieg noch förmliche Kriegserklärungen üblich waren, gibt es dafür heute keine klaren rechtlichen Regeln.
Der Völkerrechtler Alexander Wentker, der am Max-Planck-Institut in Heidelberg forscht und in Oxford zum Thema Parteistatus in bewaffneten Konflikten promoviert hat, nennt aber zwei erforderliche Kriterien: Zum einen müsse ein direkter Bezug zu Kampfhandlungen gegeben sein, die dem Gegner einen unmittelbaren militärischen Schaden zufügen. Zum anderen müsse eine enge Koordinierung mit den Militäroperationen des unterstützten Staates vorliegen, erklärt Wentker im Gespräch.
Diese Unmittelbarkeit und die Koordinierung fehlen, wenn es allein um die Lieferung von Waffen geht. Auch die Schulung von ukrainischen Soldaten an den westlichen Systemen reicht dafür nicht aus, egal ob sie auf ausländischem oder ukrainischem Staatsgebiet erfolgt. Dass Amerikaner und Briten vor Ort Ukrainer an ihren Waffen ausbilden, was auch die abgehörten deutschen Offiziere erwähnen, macht die USA und Grossbritannien also nicht zur Kriegspartei.
Von Gegnern einer militärischen Unterstützung der Ukraine wird dazu indes oft ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages vom März 2022 zitiert. Darin heisst es, dass Deutschland durch die Lieferung auch von offensiven Waffen nicht Konfliktpartei werde. Aber man «würde den gesicherten Bereich der Nichtkriegsführung verlassen», wenn auch «die Einweisung der Konfliktpartei bzw. Ausbildung an solchen Waffen zur Rede stünde».
Es wäre aber falsch und gegen den Konsens der Völkerrechtslehre, daraus zu schliessen, die Wissenschafter des Bundestages gingen in einem solchen Fall davon aus, Deutschland wäre Kriegspartei. Vielmehr beginnt mit der Ausbildung ein Graubereich. In einem späteren Gutachten vom Juni letzten Jahres schreibt der Wissenschaftliche Dienst selbst von einer «verzerrten medialen Debatte» über die genannte Passage.
Entscheidend sei der unmittelbare Bezug zu Kampfhandlungen, sagt Wentker. Selbst der Einsatz europäischer Bodentruppen in der Ukraine, den der französische Präsident Emmanuel Macron kürzlich erwog, macht weder die jeweiligen Länder noch die Nato zwingend zur Kriegspartei. Wichtig sei, was deren Aufgabe wäre, nicht der Ort ihrer Stationierung, sagt der Völkerrechtler. Allerdings wächst im Kriegsgebiet die Gefahr, dass die Soldaten Ziel eines Angriffs werden – und so unfreiwillig in direkte Kampfhandlungen verwickelt werden.
Heikler ist die Zielsteuerung von Waffensystemen, die laut Scholz bei den Briten und Franzosen ein Ausmass habe, wie «das in Deutschland nicht gemacht werden» könne. Ein Sprecher des britischen Premierministers Rishi Sunak erwiderte darauf, die britischen Storm-Shadow-Marschflugkörper würden durch die Ukraine eingesetzt und der Prozess der Zielauswahl sei Sache der ukrainischen Streitkräfte. Das britische Personal im Land sichere die diplomatischen Einrichtungen und unterstütze die Ukrainer etwa durch medizinische Ausbildung. Das mache Grossbritannien noch nicht zur Kriegspartei.
Laut Alexander Wentker ist die Kernfrage, ob unterstützende Kräfte aus dem Westen die Zieldaten für konkrete Schläge selbst eingeben. Dieser Schritt sei als Teil der Militäroperation zu werten, die blosse Ausbildung diesbezüglich aber nicht – selbst wenn klar ist, wie die Ukrainer die vermittelten Fähigkeiten nutzen. Solange die operationelle Entscheidung bei der Ukraine liege, handle es sich nicht um eine Beteiligung am Konflikt.
Die USA halfen angeblich, Generäle zu eliminieren
Mutmasslich weit gehen die USA, die in Echtzeit Geheimdienstinformationen mit Kiew teilen und auch genaue Daten über russische Positionen liefern sollen. Das ermöglichte der Ukraine laut Medienberichten unter anderem die Eliminierung russischer Generäle oder das regelmässige Versenken von Schiffen der Schwarzmeerflotte. Wenn solche Ziele im Rahmen von konkreten Militäroperationen abgestimmt werden, komme man in den Bereich, Konfliktpartei zu sein, sagt Wentker.
Laut Experten und auch den abgehörten Luftwaffenoffizieren wäre die Lieferung des Taurus aber durchaus möglich, ohne diesen Status zu erreichen – selbst wenn deutsche Soldaten in die Ukraine geschickt würden, was Scholz kategorisch ausschliesst. Es brauche nicht zwingend deutsche Soldaten, Techniker der Bundeswehr oder Geodaten aus Deutschland für die Steuerung, sagte Frank Sauer von der Universität der Bundeswehr dem ZDF.
Ohnehin ist der Wille, nicht Kriegspartei zu werden, eine politische Grenze und keine juristische. Die Ukraine übt das in der Uno-Charta verankerte Recht zur Selbstverteidigung gegen den bewaffneten Angriff Russlands aus, das ausdrücklich auch kollektiv erfolgen darf. Jedes Land darf Kiew unterstützen, ohne selbst gegen das Gewaltverbot zu verstossen. Auch militärische Ziele in Russland dürften dabei ins Visier genommen werden.
Deutschland könnte also aktiv an der Seite der Ukraine in den Krieg eingreifen, ohne das Völkerrecht zu verletzen. Die juristische Folge wäre lediglich, dass das Kriegsrecht damit zur Anwendung käme und die betreffenden Soldaten als Kombattanten legitime Ziele für russische Truppen würden. Es berechtigte Moskau aber keineswegs zu einem Angriff auf Deutschland. «In der politischen Debatte wird der Begriff Kriegspartei oft in einer Weise verwendet, die suggeriert, dass eine rechtliche Grenze überschritten wird. Tatsächlich handelt es sich aber um eine politische», sagt Alexander Wentker.