Dienstag, Oktober 8

Nach der Zerstörung aller Brücken sitzen die russischen Einheiten südlich des Flusses Seim in der Falle. Geht der ukrainische Plan auf, könnte sich das eroberte Gebiet in der Provinz Kursk bald verdoppeln.

Die ukrainische Offensive in der russischen Provinz Kursk hat sich in den letzten Tagen zwar verlangsamt, aber dies bedeutet nicht, dass sich die Kämpfe abgeschwächt haben. Weiterhin liegt die Initiative in der Hand der ukrainischen Truppen; sie greifen an mehreren Frontabschnitten an, um das in den vergangenen zwei Wochen handstreichartig besetzte Gebiet auszudehnen. Dabei haben sie wichtige Voraussetzungen geschaffen, um in nächster Zeit nochmals grössere Gebietsgewinne zu erzielen.

Die militärischen Karten bringen diese Entwicklungen nur teilweise zum Ausdruck. Die Analysegruppe Deep State Map schätzt die ukrainisch kontrollierte Zone inzwischen auf 830 Quadratkilometer. Nur ein kleiner Teil davon ist seit Ende letzter Woche hinzugekommen. Die ukrainische Militärführung nennt anderthalb Mal so hohe Zahlen, rechnet aber grosszügig auch Gebiete ein, die weiterhin umkämpft sind.

Auf der untenstehenden Karte sind die relativ bescheidenen Gebietsgewinne der letzten Tage hellblau eingezeichnet, der raschere Vormarsch zu Beginn der Offensive in dunkleren Blautönen.

Bedeutsam ist die Eroberung des Dorfs Martynowka im Osten, weil die Ukrainer damit ihre lange Zeit prekäre Stellung im nahen Bezirkshauptort Sudscha absichern konnten. Bei den Kämpfen um Martynowka und einige Kilometer nordwestlich davon in Malaja Loknja wurden nach Angaben russischer Militärberichterstatter Einheiten der russischen Armee umzingelt. Ein Soldat berichtete via Telegram, dass er 19 Marineinfanteristen, einschliesslich eines verletzten Offiziers, aus der Gefahrenzone gebracht habe und dabei verwundet worden sei. Das Ausmass der Kämpfe ist jedoch nur bruchstückhaft erkennbar. Aus einem Video geht hervor, dass die Ukrainer mit ihren Panzerfahrzeugen den Gegner in Malaja Loknja heftig unter Beschuss nahmen.

Die Ukrainer erleiden aber auch selber erhebliche Verluste. Aufgrund von Bildmaterial ist die Zerstörung von 4 Kampfpanzern, 10 Schützenpanzern und 18 Mannschaftswagen im Laufe der zweiwöchigen Offensive nachweisbar.

Alle Strassenverbindungen unterbrochen

Aufhorchen lassen die Entwicklungen im Westen des Vormarschgebiets – dort droht den Russen eine Einkesselung in noch viel grösserem Ausmass. In einem gut zehn Kilometer breiten Streifen zwischen der ukrainisch-russischen Staatsgrenze und dem Fluss Seim könnte die Lage der Truppen Moskaus bald einmal unhaltbar werden. Den Ukrainern ist es gelungen, sämtliche Strassenverbindungen in das Gebiet zu unterbrechen. Sie haben bis zum Montag mit Artillerieangriffen alle drei Brücken über den Seim zerstört.

Es bleibt ein Waldweg vom Bezirkshauptort Korenewo in das betreffende Gebiet, aber ein zuverlässiger Nachschub scheint kaum noch möglich. Die Ukrainer sind in den letzten Tagen an den Rand von Korenewo vorgerückt und dringen von Osten her in den isolierten Gebietsstreifen. Auch westlich davon haben sie ein Stück bereits besetzt.

Mehrere Anläufe der Russen, Pontonbrücken über den Fluss Seim zu legen, wurden nach kurzer Zeit durch Folgeangriffe zunichtegemacht. Das folgende Video zeigt solche ukrainischen Attacken: einerseits mit Artillerie-Streumunition, anderseits mit Kamikazedrohnen auf die am Bau von Behelfsbrücken beteiligten Fahrzeuge und Pontoniere:

Über die Kampfkraft der zunehmend eingekesselten Russen ist nur wenig bekannt. Es soll sich um bis zu dreitausend Mann handeln, vermutlich zum grössten Teil Rekruten und andere kampfunerprobte Truppen. Ihnen bleibt, falls der Plan der Ukrainer aufgeht und keine Verstärkung eintrifft, nur ein hastiger Rückzug über den Fluss Seim – sofern ihnen dies erlaubt wird.

Die Ukrainer könnten auf diese Weise rund 600 Quadratkilometer hinzugewinnen. Das entspräche beinahe einer Verdoppelung des von ihnen kontrollierten Gebiets. Sicher ist diese Entwicklung nicht, aber zumindest arbeiten die Truppen Kiews systematisch auf einen solchen Erfolg hin. Präsident Wolodimir Selenski äussert sich zwar weiterhin nur vage über die Absichten hinter seiner Kursk-Offensive. Zwei Minimalziele hat er jedoch genannt – die Schaffung einer Pufferzone entlang der Grenze und die Gefangennahme von russischen Soldaten, die dann gegen ukrainische Kriegsgefangene ausgetauscht werden können. Beiden Zielen dient die Einkesselung dieses Grenzstreifens.

Mit der Eroberung des gesamten Gebiets südlich des Seim und seines Nebenflusses Krepna könnten die Ukrainer eine gegen Norden gut verteidigbare Zone schaffen. Gewässer, selbst seichte und schmale wie der Seim und die Krepna, haben sich im Laufe dieses Krieges für die Russen oft als schwer überwindbare Hindernisse erwiesen. Für Kiew dürfte es nun darum gehen, militärische Fakten zu schaffen, bevor Moskau weitere Verstärkungen heranführt und die ukrainische Offensive zum Stoppen bringt.

In strategischer Hinsicht hat die Ukraine mit solchen Eroberungen allerdings wenig gewonnen. Die Grenzgebiete im Raum Kursk haben keine grosse militärische Bedeutung. Ihre Besetzung ist ein Stachel in der Seite des Putin-Regimes, aber Moskau ist nicht gezwungen, vehement darauf zu reagieren. Der Kremlherr soll diese Woche den Befehl erteilt haben, die Ukrainer bis zum 1. Oktober aus der Provinz Kursk zu drängen. Falls dies misslingt, was wahrscheinlich ist, kann er die Bedeutung dieses Gebietsverlustes wie schon bisher herunterspielen. Seine Reisen von dieser Woche, nach Aserbaidschan und in den Nordkaukasus, deuten darauf hin, dass der Präsident Normalität signalisieren will.

Schwierige Lage im Donbass

Die ukrainisch besetzten Gebiete in Kursk könnten theoretisch als Faustpfand für einen territorialen Abtausch dienen, aber dafür sind sie viel zu klein. Eher hofft Kiew wohl, dass Moskau gezwungen sein könnte, Truppen vom wichtigen Frontabschnitt bei Pokrowsk im Donbass abzuziehen. Doch eine solche Verschiebung ist noch immer nicht erkennbar. Die russische Generalität handelt nicht panikartig, sondern setzt klare Prioritäten, indem sie nur weniger bedeutsame Frontabschnitte schwächt. Bei Pokrowsk bleiben die Russen im Angriff und setzen ihren langsamen, stetigen Vormarsch fort. Die Front befindet sich nur noch etwa elf Kilometer von der Stadtgrenze entfernt.

Sollte die Stadt im Herbst fallen, werden sich Selenski und sein Oberbefehlshaber Olexander Sirski unweigerlich der kritischen Frage ausgesetzt sehen, ob sie ihre Truppen am richtigen Ort eingesetzt haben. Pokrowsk ist nicht irgendeine Stadt, sondern ein strategisch bedeutender Verkehrsknotenpunkt. Mit einst 60 000 Einwohnern ist es die viertgrösste Ortschaft, die den Ukrainern im Donbass noch verbleibt. Ein gewisses Raunen in der Armee macht sich bereits jetzt bemerkbar. So erklärte ein Brigadekommandant gegenüber der «Financial Times», dass die Umlenkung wertvoller Ressourcen nach Kursk mit ein Grund für das russische Vorrücken an der Pokrowsk-Front sei. Erstmals seit der Munitionskrise wegen des amerikanischen Militärhilfe-Unterbruchs sei er nun wieder gezwungen, Munition für seine Artilleriegeschütze zu rationieren. Dies mag eine Einzelbeobachtung sein. Aber daran, dass Selenski und Sirski mit der Kursk-Offensive ein grosses Risiko eingegangen sind, besteht wenig Zweifel.

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