Montag, September 30

Immer mehr Stunden im Windkanal, Tests mit lebensgrossen Puppen, Tricks im legalen Graubereich: Zeitfahrer betreiben ein nie da gewesenes Wettrüsten. Vor den WM 2024 in Zürich wird deutlich: Der Sport ist ein anderer geworden.

Die weltbesten Radprofis hüten ihre in Rennen erreichten Wattwerte wie Staatsgeheimnisse. Niemand will gegenüber der Konkurrenz offenbaren, wie stark er tatsächlich ist.

Vor den Zeitfahr-Weltmeisterschaften 2023 erlaubte sich Geraint Thomas im Namen eines Teamkollegen eine Ausnahme. Der hochtalentierte Joshua Tarling, sagte Thomas, wolle dort während 56 Minuten durchschnittlich 455 Watt treten. Der frühere Tour-de-France-Sieger staunte über Tarlings Zielsetzung: «Ich dachte mir: ‹Jesus!›»

Tarling gewann in Glasgow Bronze. 455 Watt während 56 Minuten: Das gilt heute noch als Weltklasse. Entgegen der landläufigen Meinung stossen die heutigen Spitzenfahrer rein physisch in keine neuen Dimensionen vor. Bereits 2016 schaffte der Schweizer Fabian Cancellara bei seinem Olympiasieg in Rio durchschnittlich 440 Watt, wobei er mit 72 Minuten deutlich länger unterwegs war. Tarling und Cancellara waren zu Wettkampfzeiten praktisch gleich schwer, der eine wog 78 Kilo, der andere 80. Ihr Leistungsniveau ist vergleichbar. Und doch gibt es einen entscheidenden Unterschied: Cancellara fuhr in Rio eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 45,343 km/h. Tarling raste in Glasgow mit 51,843 km/h ins Ziel. Er musste etwas weniger Höhenmeter bewältigen, was den gewaltigen Unterschied jedoch nicht zu erklären vermag: Hügelig waren beide Kurse.

5,5 km/h Zugewinn in sieben Jahren: Der Vergleich illustriert eine technische Revolution, die Zuschauer verblüfft und Experten fasziniert. Einzelzeitfahren ist eine Traditionsdisziplin, und doch wurden Material, Kleidung und Sitzposition erst in den letzten Jahren perfektioniert. Seit Cancellaras Rücktritt ist der Sport ein anderer geworden.

Stefan Küng sagt: «Für mich ist das eine Hassliebe»

Auch Stefan Küng, der an diesem Sonntag an den Weltmeisterschaften in Zürich um eine Medaille kämpft, optimiert seine Aerodynamik mit stetig wachsendem Aufwand. Seit 2024 fährt der Schweizer auf einer Spezialanfertigung des Herstellers Wilier. Sechsmal waren deren Ingenieure in den Wintermonaten mit Küngs «Supersonica» im Windkanal von Silverstone. Insgesamt 80 Stunden lang wurde das Velo wieder und wieder mit Konkurrenzmodellen verglichen. Weil Küng nicht dabei sein konnte, wurde er durch eine lebensgrosse, 45 Kilo schwere Puppe mit pedalierenden Beinen vertreten.

«Es ist krass, was heutzutage investiert werden muss», sagt der 30-Jährige. «Für mich ist das eine Hassliebe. Einerseits ist es spannend, akribisch zu tüfteln. Andererseits fängt man jedes Jahr wieder von vorne an.»

Die Experten von Wilier leisteten beim «Projekt Cronokung» Fleissarbeit, doch auf sie alleine verliess sich Küng nicht. Zu seinen engsten Vertrauten gehört der Mechaniker Jurgen Landrie, der ihm 2019 vom Team BMC zur Equipe FDJ folgte, wo das Duo mit dem Trainer Julien Pinot einen weiteren Bruder im Geiste fand. Auch der Verband Swiss Cycling forschte an Küngs Helmen, Schuhen und Trikots. Alles verbunden mit der Hoffnung, dass der Fahrer an diesem Sonntag in Zürich mit den Besten mithält – sogar mit Remco Evenepoel, dem Weltmeister und Olympiasieger.

Warum der nur 1,71 Meter grosse Belgier im Zeitfahren schwer erreichbare Massstäbe setzt, können wenige Menschen so gut erklären wie Jean-Paul Ballard. Der Luftfahrtingenieur beschäftigte sich einst mit der Aerodynamik von Formel-1-Autos. Jetzt unterstützt er mit seiner Firma Swiss Side Triathleten und Radprofis.

Ballards Expertise ist begehrt, er ist auf Expansionskurs. Ende 2026 möchte er mit Swiss Side einen eigenen Windkanal in Biel eröffnen. Derzeit betreibt die Firma in ihren Büros in Thalwil am Zürichsee ein holzverkleidetes Provisorium. Dort herrscht auch sonst ein schöpferisches Chaos. Auf dem Boden befindet sich eine Puppe mit den Massen des längst zurückgetretenen Triathleten Jan van Berkel, auf einem Regal ein optimierter Einteiler der Radfahrerin Marlen Reusser, an der Wand eine olympische Goldmedaille des Rollstuhlathleten Marcel Hug aus Tokio. Und überall Pappkartons mit modernsten Laufrädern.

Wer mit Ballard spricht, spürt seine Passion, die ihn zu ruhelosem Einsatz animiert. «Mich treibt an, immerzu und überall das Bestmögliche herauszuholen», sagt er. «Ich bin ein Mensch der Effizienz.» Langfristig will er mit seinen Innovationen nicht nur Spitzensportlern helfen, sondern die Mobilität im Alltag verbessern.

Doch zunächst zurück zu Evenepoel, dem Phänomen des Zeitfahrens. Rennentscheidend sei im Zeitfahren, wie kompakt sich Fahrer auf dem Velo positionieren könnten, ohne dabei signifikant an physischer Leistung einzubüssen, erklärt Ballard. Er hat festgestellt, dass der Belgier die Kunst, sich klein zu machen, dabei aber kaum weniger hart in die Pedale zu treten, so gut beherrscht wie wohl kein Zweiter.

Generell gilt: Fahrer müssen den Spalt zwischen Stirn und Händen minimieren, damit sich die zwischen die Arme strömende Luftmenge verringert. Die Luft wird stattdessen um den Körper gelenkt, was den Widerstand erheblich reduziert. Jeder Zeitfahrer versucht mehr oder weniger aggressiv, kompakt zu sitzen – in vielen Fällen sinken dabei jedoch die beim Pedalieren erreichten Wattwerte.

Ballard staunt darüber, dass die Sitzposition vieler Radprofis bis vor kurzem immer noch weit vom Optimum entfernt war. Er habe in manchen Fällen durch Änderungen im Cockpit, womit er Rahmen und Lenker meint, Zugewinne von 20 Watt erzielt. Jetzt rüsten auch andere auf. «Dass die Fahrer seit 2016 deutlich schneller wurden, dürfte zu 90 Prozent an technischen Optimierungen liegen», sagt Ballard.

Als vorteilhaft gilt eine flache Rückenhaltung, wie sie beispielsweise Marlen Reusser beherrscht. Ein stark gekrümmter Rücken führt laut Ballard zu einem aerodynamischen Nachteil von bis zu 20 Watt. Doch nicht jeder kann den Rücken auf dem Velo durchdrücken wie Reusser, die Flexibilität der Wirbelsäule ist sehr individuell.

Andere Optimierungen sind einfacher umsetzbar: Massgeschneiderte Anzüge ermöglichen den Fahrern laut Ballard Gewinne bis zu 20 Watt, ideale Schuhe bis zu 4 Watt, optimierte Aerosocken bis zu 9 Watt, Laufräder mit ausgetüftelter Felgenform bis zu 5 Watt (siehe Infografik).

Gelegentlich kommt es beim Wettrüsten zu spektakulären Flops. Als solcher könnte ein Zeitfahrhelm des Erfolgsteams Visma in die Geschichte eingehen, der bei seinem erstmaligen Einsatz im März im Netz Spott auslöste. Die ovale Form des Helms sollte den Luftwiderstand reduzieren. Es dauerte nicht lange, bis Ballard auf informellen Wegen ein Exemplar in die Hände bekam und im Windkanal untersuchte. «Der Helm ist interessanterweise keine Revolution», sagt er. «Für manche funktioniert er, für andere nicht.» Visma hat bis jetzt eine vergleichsweise schwache Saison hinter sich.

Erfolgversprechender sind Tricks im legalen Graubereich. Der Weltverband UCI schreibt den Fahrern vor, wie hoch sie ihre Hände maximal platzieren dürfen. Bei Fahrern mit einer Körpergrösse über 1,90 Meter beträgt der erlaubte Höhenunterschied zwischen den Aero-Griffen und der Auflage der Oberarme 14 Zentimeter. Viele Fahrer positionieren ihre Hände während der Fahrt jedoch leicht oberhalb der Griffe, um den Abstand zur Stirn weiter zu minimieren, sie greifen quasi ins Leere. So erreichen sie eine noch flachere Position.

Unterwegs gilt es, sich so selten wie möglich aufzurichten. Die Fahrer verlassen sich auch in technischen Passagen auf die Anweisungen aus ihren Begleitfahrzeugen. Wer sich seitlich am unteren Lenker festhält, beispielsweise in einer Kurve, verbessert zwar seinen Halt und seine Orientierung. Doch der Widerstand erhöht sich so stark, dass der Fahrer 100 Watt mehr treten müsste, um das Tempo zu halten.

Küng wurde das Credo, keinesfalls den Kopf zu heben, 2023 zum Verhängnis. An den Europameisterschaften im niederländischen Emmen raste er im Blindflug in eine Bande, weil für einen Moment die Kommunikation nicht funktionierte. Blutüberströmt und mit kaputtem Helm erreichte er das Ziel. Später im Spital verschwand auf ungeklärte Weise der Ehering.

Er hat das Malheur längst abgehakt. Statt über sein Pech zu lamentieren, freute er sich im April 2024, als ein Test seiner «Supersonica» auf der Rennbahn in Grenchen vielversprechend verlief. «So ein Gefühl hatte ich noch nie auf einem Zeitfahrvelo», sagte er kurz darauf dem Magazin «Gruppetto». Mehr als ein Prozent habe er an jenem Tag durch die Optimierung seiner Position gewonnen.

Durchschnittsfahrer verbessert den Stundenweltrekord

Laien vermuten bisweilen, Zeitfahren sei pure Schinderei. Die Wahrheit lautet: Es ist eine der komplexesten Tüfteleien, die der Sport zu bieten hat. Und: An der Aerodynamik zu feilen, kann vielversprechender sein als jedes noch so harte Training.

Aus eigener Anschauung bestätigen kann das der Brite Dan Bigham, im Hauptberuf Ingenieur im Team Ineos und selbst nur ein durchschnittlicher Athlet. Er tüftelte am perfekten Set-up für den Italiener Filippo Ganna und testete dessen Material immer wieder selbst. Bigham bekam dabei ein so gutes Gefühl, dass er den Stundenweltrekord auf der Bahn, welchen Ganna zu einem späteren Zeitpunkt angreifen sollte, kurzerhand selbst brach. Ganna war schliesslich noch schneller, doch Bighams vorübergehende Bestmarke von 55,548 Kilometern war ein Triumph der Technik.

Was verblüffend tönt, lässt sich wissenschaftlich erklären. Luftwiderstand nehme im Quadrat zur Geschwindigkeit zu, erläutert Beat Müller, Performance-Chef von Swiss Cycling. Die benötigte Leistung steige aber sogar in dritter Potenz zur Geschwindigkeit. Das bedeute zusammengefasst: «Ein aerodynamisches Defizit lässt sich nicht mit Leistung kompensieren.»

Alle World-Tour-Fahrer hätten vergleichbare körperliche Voraussetzungen, sagt Müller. Die Unterschiede bei Kennwerten wie der maximalen Sauerstoffaufnahme seien marginal. Umso entscheidender seien die Aerodynamik, die Ernährung und der Umgang mit Hitze.

Die im Rennen erzielten Wattzahlen sind ein Staatsgeheimnis – und doch kursieren in der Szene Schätzwerte. Küng glaubt, dass er sich bei den Leistungswerten seit längerer Zeit auf Augenhöhe mit den Stars Evenepoel, Ganna und Tarling befinde. Was ihm zu einem Triumph an Olympischen Spielen oder Weltmeisterschaften fehlte, war dagegen womöglich ein auf sämtlichen Terrains konkurrenzfähiges Velo.

Nimmt man Küng beim Wort, hat er dieses jetzt mit seiner «Supersonica». Das Timing wäre perfekt, die globalen Titelkämpfe in der Schweizer Heimat sind eine einmalige Chance für ihn. Auf den 46,1 Kilometern von Oerlikon über Uitikon in die Zürcher Innenstadt soll sich das jahrelange Engagement auszahlen.

Ballard wiederum hat bereits neue Projekte im Auge. In nächster Zeit möchte er sich verstärkt dem Langstreckenlauf zuwenden. Ihm leuchtet nicht ein, warum aerodynamische Überlegungen etwa im Marathon bisher kaum eine Rolle spielten. Der Ingenieur sagt: «Ich sehe dort ein enormes Potenzial.»

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