Freitag, März 21

Gaëtan Bally / Keystone

An den ersten Zürcher Raves trieben einen die harten, wiederkehrenden Beats in einen Rausch. Später kam mit dem Kommerz auch der Kater.

Die kurze Schrecksekunde, wenn der Schlag der Musik aussetzt und man kurz hineinstürzt in die Stille und den Stillstand, um sogleich wieder vom neu einsetzenden Wummern, von heidnisch-kreischenden Tonschlaufen hinaufgerissen zu werden, mitten in die Menge – diese Schrecksekunde ist das Herz des Techno, der kurze Moment der Panik, wo in der jähen Stille der Tod droht, bevor man wieder geborgen ist im Klub der Lebenden.

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Die frühen und frühesten Nächte von House und Techno in den Zürcher Klubs am Rand des Stadtbewusstseins Ende der 1980er Jahre waren eine Grenzerfahrung. In ihnen geschah etwas, das die Vernunft überstieg und sie aussetzen liess im Moment der Ekstase, in dem man aus seinem Ich hinaustritt in eine fremde Welt des Ungehörten. Damals dachte man: Gott ist ein DJ. DJ Dionysos.

Musik ohne jede Sinngebung

Und schon versank man in den Kellern der Klubs, die nicht zufällig «Katakombe» oder «Labyrinth» hiessen, sackte zwischen zwei Zackenlinien aus grellen Tönen noch tiefer hinab, hinab in den Untergrund des Unbewussten, bevor man vom nächsten Beat wieder hochgezogen, hochgeschleudert wurde.

Und man meinte dann, man könne sich mit Flügeln über sich selbst erheben, an die Decke fliegen, sich dort verbrennen im Licht des Lasers, um als Asche niederzuschweben und sich neu zu erheben. Das eigene Ich in ewiger Wiederkehr. Und ewig war auch meine Suche nach diesem Ich unter dem doppelgesichtigen Blick von Dionysos, dem Gott des «Musikorgiasmus» (Nietzsche) und der panischen Stille.

Yello hatte bereits 1980 das Motto von Techno skandiert: «standingatthemachineeverydayforallmylife». Ende des Jahrzehntes liess sich das düstere Echo davon vernehmen. Garage hiess der Sound und, wenn ich mich recht erinnere, auch der Klub draussen in einer trostlosen Industrielandschaft, die später zur Investitionswiese für Kulturevents wurde. Dunkel und düster dämmerte in jenen Nächten Dionysos als Gott einer neuen Zeit heran. Es dröhnte der Drumbeat, und es war, als würden in Zürichs Industriegelände die Schatten der Detroiter Fabrikruinen in Klangwolken über die Wände wandern.

Techno entwickelte einen nihilistischen Sog. Schluss mit Disco und Glamour. Eine Musik ohne jede Sinngebung, reine Affirmation einer in der Leere stampfenden Maschine – «standingatthemachine». Wobei auch die Freizeit zur sinnentleerten Arbeit wurde. Aber das merkte man damals noch nicht, denn es gab nur das Ja zum Jetzt.

Ruinen-Melancholie

Die wenigen Freundinnen, die ich damals in einen Klub verführen konnte, waren verstört und abgestossen. Die Partys waren ihnen zu dark. Zu viel Ruinen-Melancholie. Vielleicht fehlte ihnen einfach noch jener Stoff, der damals Liebespille hiess. So nannten jedenfalls zwei Jungs jene Pillen, die sie eines Abends mit zwei Mädchen eingeworfen hatten, um dann an der Bar zu lamentieren, weil die beiden Mädchen nicht mit ihnen flirteten, sondern ganz hinten im leeren Klub auf der Treppe küssend ineinander versanken, eng zungenumschlungen in der Ecke beim Notausgang.

So begann das Partyleben in der süssen Unschuld von Missverständnissen. Und vorerst mit wenig Menschen. Wenn ich an diese Nächte zurückdenke, verstehe ich die Idealisierung von Techno. Rave versprach Freiräume. Die Utopie von anderen Räumen, in denen man sich frei bewegen kann. Und anders denken darf. Oder auch: gar nicht denken!

Die letzten Zuckungen von 1968

Solche Freiräume hatte die Jugend von Zürich 1968 im Globuskrawall und dann 1980 vor dem Opernhaus gefordert, bevor sie in die illegalen Bars abwanderte und dann mit der Street Parade Anfang 1990er Jahre wieder auf die Strasse drängte. «Subito», die Parole der 1980er «Bewegig», kehrte zurück – als Hier-und-heute-Heilsversprechen von Ecstasy.

Die Street Parade, am Anfang eine niedliche Demo mit ein paar hundert Freundinnen und Freunden, noch recht verloren auf der Quaibrücke, war die letzte hedonistische Nachzuckung eines unterdessen völlig entpolitisierten 68. Aber sie wirkte doch sehr jung, sexy und lustig. Jedenfalls fand man das, wenn einen Urs Fischer danach ins «Kaufleuten» schleuste, wo er als Türsteher arbeitete, bevor er als Künstler die Welt eroberte. An der Bar gab es «free drinks».

Heute Nacht oder nie! Das ist das beherrschende Gefühl an den Partys der neunziger Jahre. Die Glieder lösen sich im Stroboskop, längen sich in den wandernden Strahlen des Lasers. Das Subjekt löst sich auf, es wird ganz Soundwelle, in der das Ich untergeht und mit den Objekten verschmilzt. Alles wird eins, und die eintönige Musik lässt einen eintauchen in die ewige Wiederkehr des Gleichen.

Das ganze Leben ist eingeteilt wie unser Körper in Arme, Beine und Fingerglieder. Die Stunden der Arbeit, das Warten am Zoll, der Taktfahrplan in die Stadt – alle Stunden des Tages zerstückelt von der instrumentellen Vernunft, diesem alles zergliedernden Monster. Wenn sich nun die Glieder im Taumel des Tanzes verselbständigten, so die damalige Sehnsucht, würde man sich vielleicht endlich auch dem Realitätsprinzip des Lebens entwinden.

Ja, so tanzend, unter wenigen Menschen, fühlte man sich als Avantgarde, als Vorhut und Verzückungsspitze, die sich in eine kommende Zukunft bohrte, in der alles anders werden würde und man alles, was man wollte, haben könnte: Heute Nacht oder nie! Und lieber nie, wenn nicht heute Nacht. Das Leben als reine Gegenwart, entkoppelt von der Vergangenheit. Neu und ungehört, die wenigen Linien der Melodie verloren sich an den Wänden wie die Lichtspuren eines Leuchtturms, dessen Strahlen das Nichts der Zukunft abtasteten. S. O. S. Zurück blinkte bald: L. S. D.

Nietzsches Traum

Ach, von einer solchen Auflösung träumte auch er, Nietzsche, der junge Professor, der sich nicht einspannen lassen wollte in den Betrieb der Rationalität an der Universität in Basel. Lieber wollte er sich unmöglich machen. Bei potenziellen Brauteltern in braven Basler Stuben erschien er mit geöffnetem Sonnenschirm, um rasch wieder verjagt zu werden, bevor er abends die Fensterläden schloss, um mit Studenten im Dunkel den Duft von Flakons zu erschnuppern, in denen Parfums lagen und eine kleine Vergiftung mit Parisin versprachen.

So träumte Nietzsche sich zurück ins antike Griechenland, als aus der Ferne von Ägypten oder Asien das ganz Andere herandämmerte und den schäumenden Wellen entstieg als Versprechen auf eine Welt voll Freiheit: Dionysos. Der Gott des Weins entstieg dem Wasser, umschäumt von seiner eigenen Lust. Er stapfte an Land, und jedem Schritt auf dem Sand entstieg eine Ein-Tages-Rebe, aufschiessend und aufblühend im Nu des Jetzt, eine Rebe, die sich an sich selbst berauscht, sofort reifend und Wein verströmend.

So kündete sich Dionysos an und klopfte an die Stadtmauern von Theben, um eingelassen zu werden in das eng umschlossene Reich der apollinischen Vernunft. Theseus, der Herrscher der Stadt, wies den Gott der Fremde und der Barbarei ab. Der aber lockte die wilden Weiber in die wilden Wälder, wo sie sich im Rausch der Reben in wütende Wölfinnen wandelten, um auf einer Lichtung zuletzt auch ihn zu zerfetzen: Theseus, der sie vom Wipfel eines Baumes ausspionieren wollte.

Vom Zerfetztwerden als Aufhebung des Ichs träumte Nietzsche, und vom lustvollen Schrei der Natur beim Auflösen, beim «Zerreissen des principio individuationis», wenn das «un-trennbare» «In-dividuum» eben doch aufgetrennt wird, zerstückelt und zurücksinkt in den Schoss der Natur voll «Urwiderspruch und Urschmerz, samt der Urlust». Die Schallwellen dieses Schreis sehnte Nietzsche herbei und hörte sie aus dem Werk von Wagners «Wille, Weh und Wahn» heraus.

So widmete er ihm die Schrift «Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik». Als er dann aber endlich in Bayreuth war unter all den Nationalisten mit den Namen «Nohl, Pohl und Kohl», deren Köpfe man «in Spiritus setzen» sollte, damit die Nachwelt einst den Homo bayreutiensis studieren könne mit seinem Rassenwahn, da textete er zurück: «Bayreuth?, bereits bereut.»

Versunken im Kommerz

Wagners Musik hielt nicht das Versprechen, das sie gegeben hatte. Und genauso hielten für mich House und Techno das Versprechen nicht. Während Wagner dem Katholizismus zu Kreuze kroch, kniete Techno vor dem Markt des Mainstreams, und auf MTV zuckten 1992 die schlanken Körper vor Raketen zu «Rhythm Is a Dancer». Schon hörte man das in Provinzdiscos auf Sardinien, und schon versandete der dionysische Schritt an der Beach.

Rave hatte mir keine Erlösung gebracht. Und doch erlebte ich die Entgrenzung der ersten Nächte später noch einmal. Nicht mehr im Klub, sondern in der freien Natur während einer Street Parade, vor deren Kommerz ich kopfüber in den See sprang. Dort schwamm ich, umbrandet vom Lallall des Techno, löste mich langsam auf im See mitsamt meiner Seele. Ich lag in der Fruchtblase des Wassers zwischen Klangwellen, während sich die Parade dröhnend über die Quaibrücke schob und sich mit ihr die Klangkulisse verschob, vorbei an den Bürogebäuden.

Man sah das Massen-Ich von weitem – «jene plötzlich anschwellende Flut des Dionysischen nimmt dann die einzelnen kleinen Wellenberge der Individuen auf ihren Rücken – höher und höher, weiter und weiter» (Nietzsche). Die Parade erinnerte an die dionysischen Festzüge. Oder an die Veitstänze aus dem Mittelalter, als die Menschen, sich selbst peitschend, durch die Gassen zogen, wie Nietzsche schildert. Und da jählings stellte sich das Paradox ein, das er einmal mit der Wendung umrissen hat: «Oh todtenstiller Lärm!»

Dionysos ist ein doppelgesichtiger Gott, der Gott des Rausches, aber auch des Raschelns. Im Herbst zieht er sich unter dem Laub zu den Toten zurück. In die Stille. Er hat die lärmende Lust aus den Reben gesogen. Nun sinkt er zurück ins Unbewusste und überwintert unter dem Efeu. Darin liegt die tiefere Weisheit des dionysischen Ja zum Leben, denn es ist auch ein Ja zum Tod, zur endgültigen Auflösung.

Ego-Trip in der Masse

Jahr für Jahr stand ich an der Bar vor dem Utoquai, wo sich die Street Parade jeweils um 14 Uhr in Bewegung setzte, und drehte rosa Zuckerwatte für rotglühende Augen. Die Watte zauberte für mich Wolken von Wünschen in die Luft. Jede war anders geformt. Doch umzuckt von Wespen, die süchtig nach Zucker waren wie die Menschen nach Pillen, sah ich die Wolken ohne jede Poesie verschwinden in den Mündern der Masse, wichtig war nur ihr Zuckerwert. Der Moloch schluckt alles: Auch «Bella ciao» als hämmernde Hymne für Menschen, die siegen und die Hand wie eine Faust hochschnellen lassen, jedes Ich ein Körper gewordenes Ausrufezeichen, das sich selbst feiert – und nicht die Solidarität mit den Partisanen.

Da musste ich wiederum an eine bekannte Passage von Nietzsche denken: «Wir haben das Glück erfunden – sagen die letzten Menschen und blinzeln. Ein wenig Gift ab und zu: das macht angenehme Träume. Und viel Gift zuletzt, zu einem angenehmen Sterben. Man arbeitet noch, denn Arbeit ist Unterhaltung. Aber man sorgt, dass die Unterhaltung nicht angreife. Jeder ist gleich: wer anders fühlt, geht freiwillig in’s Irrenhaus. Man hat sein Lüstchen für den Tag und sein Lüstchen für die Nacht: aber man ehrt die Gesundheit. Wir haben das Glück erfunden – sagen die letzten Menschen und blinzeln.»

So wie Zarathustra sich 1883 fühlte, fühlte ich mich dort unter Menschen, die das Glück fanden und in die Sonne blinzelten. Wir hatten es damals noch gesucht, bei House und Techno im Underground der «Katakomben» oder später mit Jungle im Klub Kurz, den es eben auch nur kurz gab. Ach, die wunderbaren Synkopen, in denen ich mich verlieren konnte, wobei niemand merkte, ob man im Takt tanzte oder nicht. Überhaupt die Synkope und das Aussetzen des Beats – der Absturz in die Stille des ausbleibenden Bumbums: Kurz ist man orientierungslos und auf sich allein gestellt, bevor man vom Rhythmus wieder eingefangen und in die Höhe gepeitscht wird.

Nietzsche konnte seine Glieder erst in Turin lösen, der ersten Stadt, in der «ich möglich bin», unter Arkaden im Schatten wandelnd, Grissini und Tortellini essend, so hörte er bei sich gleich um die Ecke auf der Strasse die alles erlösende Musik von Bizet: «Carmen». Und da waren sie: die «Töchter der Wüste», die auf einem Bein direkt in Nietzsches Rachen tanzten, und schon ging er hinaus, im Schlafrock, tanzte und tippte den Menschen auf die Schultern und fragte sie: «Siamo contenti?, son dio.»

Nietzsche fiel einem Pferd um den Hals, bevor er nach Basel verfrachtet wurde, in die Irrenhäuser, und im Zug durch den Gotthard hindurch, jenen Tunnel, der mit einer Milliarde Dynamitstangen in den Berg gesprengt worden war und Nietzsche zum Satz inspiriert hatte: «Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit.» Nun löschte man seine Zündschnur in der Klinik, und seine letzten Sätze im Irrenhaus waren: «Ich bebe Pferde, ich bebe Pferde.»

Keine Liebe für immer

2024 sitze auch ich im Zug vom Filmfestival Locarno zurück nach Zürich, am Freitag vor der Street Parade. Voll ist es, heiss und hitzig. Viel Erwartung liegt in der Luft, die Wünsche tragen die Raver als Tattoos am Arm und auf dem Nacken, am Arm eine Tasche mit dem Motto «LOVE RULES FOR EVER», das hinter der hübschen Schminke eigentlich heisst: «MONEY RULES FOR EVER.» Bald würde ich sie wieder sehen, all die jungen Menschen. Wie vor einem Jahr, als ich, umwummert vom Lärm, am Lindenhof auf der Terrasse stand und sechs Stunden lang hinunterschaute aus der Vogelperspektive, hinunter auf die Menschen, die zu früh eine Pille eingeworfen hatten.

Einer stand eine Stunde lang, eine geschlagene Stunde, neben der Haustür, zuerst dachte ich: Was sucht er hier? Aber er suchte nichts, er wartete nur, starr wie eine Säule, bis er dann wieder tastend einen ersten Schritt ging, am Brunnen vorbei, in den sich nun immer mehr Leiber stürzten, sich in ihn entleerten durch alle Mündungen des Körpers, während unten, beim kleinen Becken für Hunde, andere bereits das Wasser tranken und all das, was mit dem Wasser aus dem oberen Becken strömte. Aufgelöst im Abfall für alle.

Wieder werde ich auf der Terrasse stehen, wissend, dass ich kein Gott bin und dass es keinen DJ gibt, der mich nochmals zu Dionysos macht, in der Garage tanzend wie damals, hoffnungsfroh und ruinendüster, ein Einzelner unter wenigen, staunend über den schön tanzenden Tänzer. Ja, ich weiss heute, dass ich kein Gott bin, nicht mal ein DJ – und vielleicht werde ich auch nur noch entgeistert vor mich hin stammeln: Ich bebe, ich bebe.

Das Landesmuseum in Zürich zeigt derzeit die Ausstellung «Techno», sie dauert bis am 17. August 2025. Im Basler Christoph-Merian-Verlag ist ein Katalogband zur Ausstellung erschienen.

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