Sonntag, November 17

Temu verkauft Billigware und begeistert damit die Konsumenten. Der Erfolg kommt aber nicht allein von günstigen Preisen. Die Geschichte eines unheimlichen Aufstiegs.

Fünfzig Haargummis für 87 Rappen, den Plastikweihnachtsbaum für 6 Franken 99, eine Matratze für 66 Franken 14. Temu bietet alles zu Preisen, die schwer zu glauben sind. Kaum hat man die App geöffnet, gibt es Rabatte zu holen, dazu die Aufforderung: «Beeil dich! Begrenzter Vorrat! Dein Favorit ist fast ausverkauft!» Der Versand aus China? Kostenlos. Die Rücksendungen? Ebenfalls.

Willkommen in der Welt von Temu, dem jüngsten Liebling der Schnäppchenjäger. «Shop like a billionaire» lautet der Slogan der Plattform. Das Gefühl, sich alles leisten zu können, weil die Preise so niedrig sind, dass man nicht einmal mehr darauf achten muss – das ist das Versprechen von Temu.

Temu ist nach dem Billigmodebasar Shein die zweite App aus China, die den Onlinehandel – man darf es ruhig so sagen – revolutioniert. Man kann darüber den Kopf schütteln. Wieder ein Unternehmen, das No-Name-Produkte anbietet, sie in viel Plastik verpackt und um die halbe Welt verschickt? Nein, danke. Doch Temu trifft einen Nerv.

In Europa gibt es die App seit eineinhalb Jahren, und bereits gibt jeder dritte Schweizer und jeder vierte Deutsche an, sie schon einmal genutzt zu haben. Die Unternehmensberatung Carpathia schätzt, dass Temu allein in der Schweiz im Jahr 2024 einen Umsatz von 650 bis 750 Millionen Franken erzielen wird. In Zeiten von sinkender Kaufkraft und wachsender Digitalisierung bietet die Plattform das, wonach viele Konsumenten suchen.

Doch Temu hat auch eine dunkle Seite. Von willkürlichen Rabatten ist die Rede, von Tricksereien bei Zoll und Steuern und von manipulativen Designs, die Kunden zum Kauf verleiten sollen. Wirtschaftsverbände fordern eine Regulierung der Plattform, und in der EU läuft ein Verfahren wegen des Verdachts auf unlauteren Wettbewerb. Nicht wenige wünschten, sie könnten Temu verbieten, einfach abschalten.

So einfach ist es aber nicht. Temus Erfolg gründet nicht allein auf fragwürdigen Verkaufsstrategien und dem Ausnutzen regulatorischer Schlupflöcher. Das Geschäftsmodell mag kontrovers sein, doch es ist auch eine echte Innovation. Das sind die Gründe:

Billig, billiger, Temu

Temu bietet Preise an, mit denen selbst andere Billighändler wie Aliexpress nicht mithalten können. Ein Grund dafür sind die extrem kurzen Lieferketten. Im traditionellen Handel wird ein Produkt von einer Fabrik produziert, durchläuft mehrere Zwischenhändler und gelangt schliesslich zum Verkäufer.

Nicht so bei Temu: Die Plattform sammelt zuerst die Bestellungen und übermittelt sie gebündelt an die Produktionsstätten in China. Die Fabriken produzieren also nur, wenn eine konkrete Nachfrage besteht. Diese Just-in-Time-Produktion gibt es zwar schon länger. Neu ist, dass Temu das Prinzip auf den einzelnen Kunden herunterbricht.

Noch ist es so, dass Temu die Produkte sortiert und verpackt und sie danach per Flugzeug in die Welt verschickt. Seit einigen Monaten können aber auch Händler mit eigenen Lagern – auch solche aus dem Ausland – ihre Produkte auf Temu verkaufen. In diesen Fällen sind sie selbst für die Logistik und den Versand verantwortlich.

Temu sieht sich in all dem als Marktplatz ähnlich wie Amazon, Zalando oder Ricardo – mit einem entscheidenden Unterschied: Auf echten Marktplätzen legen die Händler ihre Verkaufspreise selbst fest. Nicht so bei Temu. Hier bestimmt die Plattform die Produktpreise und wählt in einem Bieterverfahren den günstigsten Lieferanten aus. Die Hersteller akzeptieren die mitunter extrem niedrigen Preise, in der Hoffnung, die geringen Margen mit grossen Mengen kompensieren zu können.

Temu macht süchtig

Die Innovation geht jedoch über die Preispolitik hinaus. Temu definiert neu, wie wir einkaufen. Das Stichwort heisst Gamification.

Temu setzt auf Bonus- und Belohnungsprogramme, die darauf abzielen, die Kunden immer wieder in die App zu locken. Beliebt sind Minispiele. Da gibt es ein Glücksrad, an dem man drehen kann, oder ein Aquarium mit Fischen, die um Futter betteln. Je aktiver der Kunde ist, desto eher erhält er zur Belohnung: na klar, kleine Rabatte.

Shopping wird so zum Spiel und die App zum Zeitvertreib, ähnlich wie man es von sozialen Netzwerken wie Instagram und Tiktok kennt. Der Suchtfaktor: extrem hoch. Die Menschen besuchen Temu nicht unbedingt, weil sie ein bestimmtes Produkt brauchen, sondern um virtuelle Fische zu füttern oder ihre neusten Käufe in ihrem Netzwerk zu teilen. Diese Art von interaktivem und ständig vernetztem Erlebnis kommt vor allem bei den jüngeren Kunden gut an, für die solche Inhalte selbstverständlich sind. Der Schweizer Onlinehandel ist dagegen so unterhaltsam wie das Wartezimmer beim Arzt.

Ralph Hutter ist Dozent an der Hochschule für Wirtschaft in Zürich und ein Experte für Onlinehandel. Er sagt: «Die Chinesen haben es verstanden, dem Online-Shopping eine soziale Dimension zu geben.» Das Hauptziel sei es, die Konsumenten so lange wie möglich auf der Plattform zu halten. Dass sie am Ende etwas kaufen, ist nur noch eine logische Konsequenz.

Mit «China speed» in die Welt

Der dritte Grund für Temus Erfolg ist die Schnelligkeit, mit der das Unternehmen neue Märkte angeht. Beobachter sprechen vom «China speed»: Innerhalb von nur acht Monaten ist aus Temu eine weltweit operierende Plattform geworden. Ein europäisches Unternehmen hätte dafür Jahre gebraucht.

Hinter Temu steht die Muttergesellschaft PDD Holdings, der grösste Onlinehändler Chinas, der dort seit knapp zehn Jahren die Shopping-Plattform Pinduoduo betreibt. Im Januar 2022 dachte PDD erstmals öffentlich darüber nach, ins Ausland zu gehen. Im September desselben Jahres startete Temu in den USA. Im März 2023 folgte der Markteintritt in Australien und Neuseeland, einen Monat später war Temu in Europa verfügbar. Möglich macht den «China speed» auch das dort verbreitete «996»-Modell: Arbeitszeiten von neun Uhr morgens bis neun Uhr abends an sechs Tagen der Woche sind nicht ungewöhnlich.

Experten schätzen zudem, dass Temu allein vergangenes Jahr drei Milliarden Dollar für Marketing ausgegeben hat. Davon soll mehr als eine Milliarde an den Meta-Konzern geflossen sein, für Werbungen auf Plattformen wie Facebook und Instagram. Das Resultat dieser Offensive lässt sich einfach am eigenen Smartphone testen. Man braucht dafür nur nach einem Produkt zu googeln. Temus Angebot steht meistens an erster Stelle.

Innert kürzester Zeit hat sich Temu so zu einem der wichtigsten E-Commerce-Händler entwickelt. In der Schweiz liegt die Plattform nach Digitec Galaxus und Zalando auf dem dritten Platz der beliebtesten Marktplätze, wie eine Studie der Hochschule für Wirtschaft Zürich und der Post zeigt. Der Dozent Ralph Hutter sagt: «Das ist krass, man kann es nicht anders formulieren. Temu hat sich den Markteintritt mit enormen Investitionen erkauft.»

Temu kennt die Schlupflöcher

Doch Temus Erfolg kommt nicht allein von billigen Preisen, lustigen Spielen und einem gigantischen Werbebudget. Das Unternehmen geht bewusst an die Grenzen des Legalen – und aus Sicht mancher darüber hinaus.

Die EU-Kommission wirft Temu vor, die Kunden zu schnellen Kaufentscheidungen zu drängen. Die Plattform zeige Produkte als «nur noch wenige Male verfügbar» oder «in Kürze ausverkauft» an, selbst wenn das nicht stimme. Anfang November leitete die Kommission deshalb ein Verfahren gegen Temu im Rahmen der Digital Services Act ein, eines Gesetzes, das die Aktivitäten von Anbietern digitaler Dienste innerhalb der EU regeln will. Auch gegen andere Plattformen wie Tiktok, Meta und den Temu-Konkurrenten Aliexpress laufen Ermittlungen.

Ein Sprecher von Temu sagt dazu: «Wir nehmen unsere Verpflichtungen im Rahmen der Digital Services Act sehr ernst.» Man wolle «vollumfänglich» mit den Regulierungsbehörden zusammenarbeiten, um «einen sicheren und vertrauenswürdigen Marktplatz» zu schaffen. Man sei davon überzeugt, dass der Plattform «eine solche Überprüfung langfristig zugutekommt».

Der Widerstand wächst auch in der Schweiz. Anfang September lud das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) mehrere Temu-Vertreter zu einem Gespräch. Auslöser war eine Beschwerde des Detailhandelsverbands vom Frühling. Diese Woche hat er nachgelegt: In einem Brief fordert er den Bundesrat auf, Temu offiziell abzumahnen.

Die Händler wollen, dass sich Temu an die gleichen Vorgaben halten muss wie sie. Etwa beim Produktsicherheitsgesetz: Dieses regelt zum Beispiel, ob und welche Weichmacher in Spielwaren sein dürfen. Temu halte sich nicht daran, so der Vorwurf. In der App gebe es teilweise giftige und gefährliche Produkte zu kaufen. Der «Kassensturz» hat deshalb zehn Plastikprodukte von Temu auf gefährliche Inhaltsstoffe getestet. Fünf davon enthielten Weichmacher.

Noch so ein Ärgernis sind die mutmasslichen Zoll- und Steuertricks, die Temu anwendet. Sie sind ein zentraler Faktor dafür, dass viele Produkte so günstig sind: In der Schweiz ist auf Importwaren aus Drittstaaten bis zu einem Warenwert von 62 Franken keine Mehrwertsteuer fällig, in der EU liegt die Zollfreigrenze bei 150 Euro. Kritiker werfen Temu vor, die Lieferungen absichtlich so klein zu halten, dass sie unter diesen Grenzen bleiben.

Zudem gibt es Berichte von Fällen, in denen Temu den Warenwert auf den Paketen falsch angegeben hat. Auch das ist ein Weg, um Zölle und Steuern zu umgehen. Ob es mit Absicht geschehen ist? Das bleibt unklar.

Der nächste China-Schocker steht bereit

Innovation und Spiele auf der einen Seite, Reizüberflutung und Schummeleien auf der anderen: Temu ist Genie und Wahnsinn in einem. Das macht den Umgang mit der Plattform so kompliziert.

Das Unternehmen geht neue Märkte nach dem Prinzip des Einfach-mal-Machens an. Gibt es dann Probleme, zeigt man sich kooperativ. Ein Unternehmenssprecher von Temu schreibt: «Wir sind eine sehr junge Plattform. Wir lernen ständig dazu und passen uns den lokalen Bedürfnissen auf den verschiedenen Märkten an.»

Temu spielt damit auf Zeit. Bis sich die EU und die Schweiz auf einen Umgang mit der Plattform geeinigt haben, vergehen Monate, wenn nicht Jahre. Bis dann hat sich Temu seinen Platz in der Einkaufsstrasse des Internets längst gesichert.

Für die Mitstreiter wird es unangenehm. David Morant vom Beratungsunternehmen Carpathia schätzt, dass den Schweizer Händlern wegen Temu Einnahmen in der Höhe von mehr als zwei Milliarden Franken entgehen. «Der Markt für Händler mit Produkten, die identisch sind mit jenen, die Temu anbietet, wird mittelfristig verschwinden», sagt Morant. Eine Studie der Fachhochschule Nordwestschweiz fand heraus: Zwei von fünf Schweizer Onlinehändlern mussten ihre Preise bereits nach unten anpassen, um gegen Temu konkurrenzfähig zu bleiben.

Und dann ist da ja nicht nur Temu. In China steht bereits die nächste Neuheit bereit. Tiktok, das soziale Netzwerk der Generation Z, hat sich dort unter dem Namen Douyin zu einer Verkaufsplattform entwickelt. Händler, Marken und Influencer bieten Produkte in Videos und Live-Feeds an.

Es ist eine Neuauflage des aus dem Fernsehen berühmten Teleshoppings. In Asien spielt der Tiktok-Shop bereits Milliarden von Dollar ein. Noch dieses Jahr soll er auch in Europa starten.

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