Sonntag, April 20

Seit Ende März nehmen die Angriffe auf das wirtschaftliche und militärische Zentrum der Ostukraine stark zu. Medien und Experten spekulieren über die Möglichkeit eines erneuten Sturms – dafür müsste Russland aber Ressourcen in neuen Dimensionen einsetzen.

Zwei Gleitbomben haben am Dienstagnachmittag im Zentrum von Charkiw eingeschlagen. Laut vorläufigen Angaben gab es drei Verwundete. Für die Menschen in der ostukrainischen Metropole gehören solche Attacken zum traurigen Alltag: In den zwei Wochen davor wurden mehrere Personen getötet und Dutzende von Häusern zerstört. Die umgerüsteten Fliegerbomben können ganze Strassenzeilen dem Erdboden gleichmachen.

Die neue Angriffswelle gegen Charkiw hat Ende März begonnen und ist die heftigste seit Beginn der Invasion, als Russland die Stadt erfolglos zu stürmen versuchte. Zwar finden die schwersten Kämpfe weiter südlich statt, bei Kupjansk und im Donbass. Doch nun deutet immer mehr darauf hin, dass Putins Generäle ihre Energie auf die zweitgrösste Stadt der Ukraine fokussieren wollen.

Tausende von Bomben aus sowjetischen Arsenalen

Ruhe herrschte in Charkiw nach der ukrainischen Gegenoffensive 2022 nur vorübergehend. Rasch griffen die Russen wieder an, aus der Distanz, mit Marschflugkörpern und Kamikaze-Drohnen. Schliesslich erweiterten sie ihr begrenztes Arsenal an Distanzwaffen mit umgerüsteten Fliegerbomben. Davon verfügen sie aus Sowjetzeiten über riesige Bestände. Seit Anfang 2024 feuerten sie laut ukrainischen Angaben über 3500 von ihnen ab.

Zu Beginn der Invasion wurden die zwischen 500 Kilogramm und 1,5 Tonnen schweren Sprengkörper direkt aus Flugzeugen abgeworfen, auch über Charkiw. Doch wegen der ukrainischen Luftverteidigung trauen sich diese nur selten in unmittelbare Frontnähe. Um das Problem zu umgehen, rüsteten die Russen ihre Bomben mit Flügeln und einem System zur Satellitennavigation aus. Von Jagdbombern abgeschossen, gleiten sie bis zu 40 Kilometer weit, bevor sie ihr Ziel treffen. Anfang März tauchte eine etwas leichtere Weiterentwicklung auf, die laut Experten über eine Reichweite von bis zu 90 Kilometern verfügen könnte.

Für die Ukraine stellt der massenhafte Einsatz dieser tödlichen Waffen ein Dilemma dar. Sie spielten bei der Eroberung der Stadt Awdijiwka eine entscheidende Rolle. Um die Flugzeuge ins Visier zu nehmen, die sie abschiessen, müsste Kiew seine moderne Luftverteidigung in Frontnähe aufstellen. Dort ist sie aber deutlich verwundbarer. Im März zerstörten die Russen im Donbass zwei Patriot-Werfer.

Um Charkiw besser zu schützen, fordert Selenski nun neue moderne Systeme aus dem Westen. Da die Stadt aber lediglich 30 Kilometer von der russischen Grenze entfernt ist, stellt sich ein ähnliches Problem wie im Donbass: «Wir können schon Patriots in der Zone um Charkiw aufstellen, aber dann könnten sie in zwei Tagen zerstört sein», glaubt der ukrainische Militärexperte Wiktor Kewljuk.

Charkiw als Preis für den Kreml?

Charkiws Bedeutung als Zentrum der zivilen und militärischen Industrie und Logistik für die Ostukraine ist dabei kaum zu überschätzen, was die Stadt zu einem logischen Ziel macht. Laut Andri Sawtschuk, einem Analysten des Think-Tanks Opora, soll die Ukraine durch Angriffe auf die Infrastruktur entvölkert und entmutigt werden.

Ende März verübten die Russen einen fatalen Angriff auf Kraftwerke und Unterwerke im ganzen Land. So berichtet der grösste Energieproduzent, er habe 80 Prozent seiner Produktion verloren. Charkiw wurde besonders hart getroffen und war zeitweise fast ganz von der Versorgung abgeschnitten. Diese ist nicht voll wiederhergestellt.

Die Angriffe auf die Stromnetze tangieren auch die ukrainische Armee, da etwa deren digitales Führungssystem auf eine konstante Versorgung angewiesen ist. Die Frage, die sich die Führung in Kiew deshalb stellt, ist, ob Russland «nur» die Bevölkerung terrorisieren will oder mit seinen massiven Angriffen auf Charkiw eine neue Offensive vorbereitet.

Hinweise darauf gibt es, wobei unklar ist, ob diese gezielt als Teil einer Desinformationskampagne gestreut werden. So erklärte eine angeblich Putin nahestehende Person dem unabhängigen Portal Medusa, der Präsident wolle Charkiw einnehmen, um so eine Pufferzone zur Grenzregion zu schaffen. Dies wäre ein symbolträchtiger Sieg, nach dem der Kreml die Intensität des Krieges herunterfahren würde. Eine Quelle aus ukrainischen Sicherheitskreisen sagte gegenüber dem «Economist», Russland bilde dafür 120 000 neue Soldaten in Sibirien aus.

Schwer realisierbare Umzingelung

Selbst wenn Putin dieses Ziel formuliert hätte, bleibt höchst fraglich, wie realistisch es ist. Seine Truppen brauchten fast zehn Monate für die Eroberung von Bachmut und vier Monate für Awdijiwka. Mehrere zehntausend Mann wurden getötet. Die beiden Orte hatten vor dem Krieg 70 000 und 30 000 Einwohner. Charkiw ist eine Millionenstadt.

Ein Sturm durch endlose Infanteriewellen und die völlige Zerstörung von Städten und Dörfern war bisher die einzige Taktik, mit der Russland erfolgreich war. Sie kommt im Falle Charkiws wohl nicht einmal für die Zyniker im Kreml infrage – und sei es nur, weil die Munition nicht ausreicht. Die Alternative wäre eine Einkesselung Charkiws. Südlich davon, in der Nähe von Kupjansk, haben die Russen laut ukrainischen Angaben 110 000 Soldaten konzentriert. Sie sind allerdings ihrem Ziel, den Fluss Oskil zu überqueren, bisher nicht wirklich näher gekommen, auch weil die Ukrainer ihre Verteidigungslinien stark ausgebaut haben.

Für eine Einkreisung Charkiws müssten die Russen laut Experten mindestens noch einmal diese Zahl von Soldaten mobilisieren oder verlegen – und auch ausrüsten. Dies halten die meisten für völlig unrealistisch, auch weil die Armee gerade in diesen Wochen bei kleineren Offensiven jeden Tag Dutzende von Fahrzeugen verliert. Für die Zivilbevölkerung in Charkiw ist das ein schwacher Trost. Der Bombenterror wird auch ohne Offensive weitergehen.

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