Mittwoch, Januar 8

Der Journalistenthriller «September 5» von Tim Fehlbaum wird als Mitfavorit bei den Oscars gehandelt.

Terror braucht Publikum. Früher verschaffte vor allem das Fernsehen dem Attentäter die gewünschte Aufmerksamkeit. Schrecklichstes Sende-Highlight war der 11. September 2001: der Einsturz der Twin Towers, live und auf allen Kanälen. Heute, im Zeitalter der sozialen Netzwerke, ist der Terrorist noch eine sadistische Schraubendrehung weiter.

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Die Hamas-Mörder vom 7. Oktober 2023, die ihr Massaker durch den eigenen Blickwinkel festhielten, veranschaulichten, dass der Verwertungslogik von Gewalt keine Grenzen gesetzt sind. Es zeigt sich die Kulmination einer Entwicklung, die schon ein gutes Vierteljahrhundert vor dem 11. September 2001 ihren Anfang genommen hat. Am 5. September 1972, um genau zu sein: An diesem Tag ging der Terror erstmals auf Sendung.

Der Attentäter mit der Sturmhaube

Die erste Live-Übertragung von Terrorismus begann frühmorgens. Es war gegen vier Uhr dreissig, als palästinensische Terroristen in die Unterkunft der israelischen Olympiadelegation in München stürmten. Wenig später sendete der amerikanische TV-Sender ABC bereits Bilder von der Geiselnahme, schleuste Reporter ins olympische Dorf.

In Millionen amerikanische Wohnzimmer wurde das Attentat übertragen. Die Aufnahme von dem palästinensischen Terroristen mit der Sturmhaube, der vom Balkon der Israeli schaute, ging um die Welt.

Ein ausgezeichneter Spielfilm, «September 5», erzählt nun, was sich in diesen Stunden in der ABC-Sendezentrale in München ereignete. Wie gingen die amerikanischen Journalisten vor? Aber auch: Was ging in ihnen vor?

Tim Fehlbaum, aus Basel, beweist sich nach den Science-Fiction-Filmen «Hell» und «Tides» mit diesem nervenzerreissenden Kammerspiel im Kommandoraum. Fehlbaums erste Filme suchten die Weite. Wie gut er sein Metier beherrscht, zeigt der 42-Jährige nun aber auf kleinstem Raum. Die Kamera kommt nur selten nach draussen, das ist der Clou. Durch die Verengung der Perspektive rollt der Film das Olympia-Attentat über die Bande eines atemlosen Journalistenthrillers auf.

«Es geht nicht um Politik»

Geoffrey Mason (John Magaro), ein junger, unerfahrener Produzent, hat Frühschicht an diesem 10. Wettkampftag. Die alte Garde gönnt sich eine Pause. Roone Arledge (Peter Sarsgaard), der Sportchef, will erst am späteren Vormittag geweckt werden. Vorher steht nichts Wichtiges an. Nur Volleyball, dann Fussball, DDR gegen Mexiko. Einzig ein Boxkampf später am Tag verspricht Zuschaltquoten: «Amerikas weisse Hoffnung» Duane Bobick tritt gegen den Kubaner Teófilo Stevenson an.

«America versus Kuba», freut sich Arledge auf die pikante Affiche. «Willst du wirklich Politik reinbringen?», fragt der Tagesleiter im Senderaum. Daraufhin fällt der Schlüsselsatz des Films. «Es geht nicht um Politik», sagt der Sportchef, «es geht um Emotionen.»

Diesem Mantra bleibt sich der Mann auch dann treu, als unweit Schüsse fallen. Die Nachricht von einer Geiselnahme geht über den Äther des bayrischen Radios. Geoffrey Mason, der eifrige Jungproduzent, schaltet schnell: Wieso nicht eine der schweren Studiokameras nach draussen auf den Hügel rollen? Von da aus liessen sich live Bilder vom olympischen Dorf senden.

Die Idee ist gut, aber der Chef hat für den Nachwuchsproduzenten noch die entscheidende Lektion auf Lager: «Es bringt nichts, das Gebäude zu filmen, wenn der Zuschauer nichts über die Leute im Gebäude weiss.»

Mason soll persönliche Informationen zu den Geiseln zusammentragen. Emotionen müssen rein, sagt der abgebrühte Arledge. Weil nämlich erst ein aufgewühlter Zuschauer ein aufmerksamer Zuschauer ist. Oder anders, kritischer gesagt: Ein Stück weit wurde an diesem 5. September der Sensationsjournalismus geboren.

Die emotionale Herangehensweise hatte auch damit zu tun, dass die amerikanischen Fernsehmacher in München keine politischen Korrespondenten waren. Sondern Leute vom Sport. Sie verstanden sich darauf, Geschichten von Gewinnern und Verlieren zu erzählen. Vor allem Roone Arledge war darin ein Meister.

Beste Sicht auf das Geschehen

Arledge galt seinerzeit als der Mann, der die Sportberichterstattung revolutionierte. Vor ihm galt die Devise, dass die Person im Stadion den besten Blick haben sollte. Der Zuschauer zu Hause hatte den weniger guten Platz, das war die unausgesprochene Abmachung zwischen Live-Veranstaltern und Sendern. Denn die Veranstalter hatten Angst, keine Tickets mehr zu verkaufen. Für Roone Arledge war dagegen klar, dass das Publikum zu Hause den besten Platz haben musste.

Als er sich dann bei der Olympiade in München statt mit einem Boxkampf plötzlich mit einer Geiselnahme konfrontiert sah, besann er sich darauf: Der Fernsehzuschauer sollte die beste Sicht darauf haben. Je näher dran, desto besser.

Für medienethische Fragen sah sich Arledge weniger zuständig. «Wir folgen der Story, egal, wohin sie uns führt», sagt er im Film. «Und was, wenn jemand vor der Kamera erschossen wird?», fragt ein Kollege. Er macht den entscheidenden Punkt: Falls die Terroristen beschliessen, jemanden am Live-Fernsehen hinzurichten, «wessen Story erzählen wir da?»

Gewalt garantiert Einschaltquoten. «If it bleeds, it leads», lautet die alte News-Weisheit. Folge der Blutspur. Wo’s langgeht, sagt indes der Terrorist. Er bekommt die Sendezeit, die er sich wünscht. Terrorismus und Medien finden intuitiv ins Geschäft.

Macht sich der Journalist unweigerlich zum Erfüllungsgehilfen des Terroristen? Aber was wäre die Alternative? Fehlbaum lässt seine Protagonisten mit der Frage ringen. Die Sache ist eine der Moral. Mehr als um die Politik geht es um die Emotionen: Darin geht der Filmemacher mit seinem Protagonisten einig.

Minenfeld Palästina

Der Schweizer Regisseur reiht sich nicht ein in die Riege der unzähligen selbsterklärten Nahostexperten, die sich in letzter Zeit in der Kulturwelt versammelten. Fehlbaum weiss natürlich auch um das Minenfeld des Palästinakonflikts. Und selbst ohne sich in dessen Niederungen zu begeben, scheint der Film für manche Leute Provokation genug.

Denn dass «September 5» beim Festival in Toronto abgelehnt wurde, nachdem der Film in Venedig Premiere gefeiert hatte, dürfte ein politischer Entscheid gewesen sein. Den kanadischen Festivalmachern stand der Sinn womöglich nicht nach einer Geschichte mit palästinensischen Terroristen und israelischen Geiseln. Mit propalästinensischen Stoffen punktet es sich eher.

Jedenfalls ist «September 5» kein Film über den Nahostkonflikt. Im Zentrum stehen die Nachrichtenleute, nicht die Geiseln. «News, not jews.» Darauf angesprochen, sagt Tim Fehlbaum: «Die politische Ausgangslage innerhalb unserer Erzählperspektive in all ihrer Komplexität zu erfassen, schien mir unmöglich.» Und als Filmemacher fühle er sich ohnehin dem Blickwinkel auf die Nachrichtenmacher näher.

Dramaturgisch ist das ein riskantes Unterfangen, die Absturzgefahr ist offensichtlich: Der Film muss die Spannung aus der Frage ziehen, ob die Fernsehleute einen guten Job machen. Aber der gute Job verblasst im Vergleich zum Schicksal der Geiseln. Die Journalisten können niemanden retten. Sie können nicht viel mehr tun, als den besten Kamerawinkel auf das Gebäude in der Connollystrasse 31 zu bekommen, wo sich das Drama abspielt.

So geht Hollywood

Aber deswegen sind die Journalisten nicht empathielos. Fehlbaum zeigt ihre Ohnmacht. Je näher dran sie am Geschehen sind, desto näher geht es ihnen auch. Darin unterscheiden sie sich nicht von den Fernsehzuschauern. Und auch nicht vom Kinopublikum, das durch einen spannungsgeladenen Film historisch geschult wird. Es ist eine deutsche Produktion, aber man kann dennoch sagen: So geht Hollywood.

Und: Der politische Kontext wird natürlich nicht negiert. Fehlbaum lässt ihn nur sehr fein, fast unmerklich, am Rand mitschwingen. Wenn man genau hinschaut, ist Fehlbaum gar nicht so apolitisch, wie er sich gibt. So streiten sich etwa die ABC-Mitarbeiter, ob die palästinensischen Geiselnehmer als Guerillakommando zu bezeichnen seien oder als Terroristen. Der gegenwartsbezogene Subtext ist eindeutig: Wenn es gilt, Terroristen beim Namen zu nennen, wird allzu oft herumgeeiert.

Vor der Realität die Augen verschliessen: Dafür bot München 1972 überhaupt ein anschauliches Beispiel. «Heitere Spiele» hatte man versprochen. Statt Hitlers Spiele, wie sie sich 36 Jahre zuvor zugetragen hatten. Deutschland wollte sich von einer maximal pazifistischen Seite präsentieren. Die Polizei im olympischen Dorf durfte keine Waffen tragen. Sondern sie musste mit freundlichen azurblauen Uniformen alles Unheil abwenden.

«Die Welt sollte nicht noch einmal sehen, wie bewaffnete Deutsche an Zäunen patrouillieren», so sagt es im Film die deutsche Übersetzerin (Leonie Benesch) im Team der Amerikaner. Die Spiele seien eine Möglichkeit, die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Ein amerikanischer Kollege, der sich als Sohn von Holocaustüberlebenden herausstellt, schaut sie schief an.

Der Dialog verdichtet die vielseitigen Facetten der Vergangenheitsaufarbeitung. «Wir können nur nach vorne blicken und es besser machen», sagt die Deutsche als Vertreterin der Nachkriegsgeneration. «Yeah, right», schnauft der Amerikaner: «Sind deine Eltern noch am Leben? Lass mich raten, die haben auch von nichts gewusst?» Die Übersetzerin schaut ihn erschrocken an: «Aber ich bin nicht sie.»

Der Oscar-Kandidat

Ein Dialog, der nur zu perfekt sitzt. Es ist nicht der einzige. Fehlbaum und der Co-Autor Moritz Binder erzählen beeindruckend effizient. Nichts wird ausbuchstabiert, dennoch ist alles gesagt. Die Inszenierung, der Schnitt auch: lehrbuchmässig getaktet. Dazu gibt es kantige Charaktere, starke Schauspieler wie Peter Sarsgaard. «September 5» ist ein bravourös umgesetzter Thriller vom amerikanischen Schlag.

Bald wird sich Tim Fehlbaum in Hollywood die Stoffe aussuchen können. Noch selten kam aus der Schweiz ein Regisseur, dem man die Weltkarriere so zugetraut hat wie ihm. Für die tonangebende Zeitschrift «Hollywood Reporter», die mit ihren Prognosen oft richtig liegt, ist «September 5» ein führender Oscar-Anwärter.

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