Freitag, Oktober 18

Bewaffnete haben einen Konzertsaal gestürmt und wahllos Menschen erschossen. Das Gebäude ist ausgebrannt. Mittlerweile sollen elf Tatverdächtige festgenommen worden sein. Russische Propagandisten haben einen Informationskrieg über die Hintermänner entfacht.

Der russische Präsident Putin hat sich nach dem Terrorangriff von Freitagabend am Samstag an die Nation gewandt: Alle Angreifer seien gefunden und verhaftet worden. Wer auch immer diesen Angriff in Auftrag gegeben habe, werde zur Rechenschaft gezogen. «Unsere Feinde werden uns nicht auseinanderbringen,» sagte Putin in einer Fernsehansprache. Für Sonntag setzte er einen nationalen Trauertag an.

In Moskau hatten mutmassliche Islamisten am Freitagabend den schlimmsten Terroranschlag seit über zwei Jahrzehnten verübt. Vier Männer schossen in der Crocus City Hall am Rand der Hauptstadt in die Menge. Nach Behördenangaben liegt die Zahl der Toten inzwischen bei mindestens 133. Behördennahe Quellen sprachen bereits von rund 150 Todesopfern. Unter den Toten sind mindestens drei Kinder. Mehr als 140 Personen hätten Verletzungen erlitten. Es seien nun bei der Durchsuchung des Kellers zahlreiche weitere Leichen entdeckt worden; die Suche dauere an. Die Zahlen könnten noch wachsen. Die Einwohner der Region Moskau wurden zum Blutspenden aufgerufen.

Angebliche Spur in die Ukraine

Am Samstagmorgen meldete der Kreml, dass der FSB-Direktor Alexander Bortnikow Präsident Putin über die Festnahme von elf Personen unterrichtet habe. Vier der elf Personen seien direkt an dem Anschlag beteiligt gewesen. Angeblich wurden die vier Männer nach einer Verfolgungsjagd in der russischen Region Brjansk festgenommen, nahe der Grenze zu Weissrussland und zur Ukraine.

Der FSB erklärte, die Täter hätten Kontakte in der Ukraine gehabt und geplant, die russisch-ukrainische Grenze zu überqueren. «Jetzt wissen wir, in welchem Land sich diese verdammten Bastarde vor der Verfolgung verstecken wollten – in der Ukraine», sagte die Sprecherin des Aussenministeriums, Maria Sacharowa, auf Telegram. Putin behauptete, das Nachbarland habe den Terroristen bewusst einen Korridor für den Grenzübertritt geöffnet.

Nach unbestätigten Angaben stammen die meisten Verdächtigen aus der früheren Sowjetrepublik Tadschikistan. Die Behörden präsentierten am Samstag ein per Video aufgenommenes Verhör mit einem der Festgenommenen. Der angeblich 25-jährige Mann, dem Namen nach wohl aus Zentralasien stammend, gestand dabei, im Auftrag von unbekannten Hintermännern am Terroranschlag teilgenommen zu haben. Man habe ihm dafür umgerechnet 5000 Franken versprochen. Der Mann gab ferner an, dass man ihn über soziale Netzwerke angeworben habe und dass er Anfang März von der Türkei nach Russland gereist sei. Solche «Beweise» sind allerdings mit Vorsicht zu behandeln; eine Inszenierung ist in solchen Fällen nie auszuschliessen.

In der Nacht hatte sich ein Ableger der Terrormiliz Islamischer Staat (IS), der IS Khorasan, auf Telegram zum Anschlag bekannt. Amerikanische Beamte und Terrorexperten wie Peter Neumann vom King’s College in London halten das Schreiben für echt. In dieser Terrororganisation sind auch zahlreiche Tadschiken aktiv.

Panik und ein später Sturm

Klar ist, dass die Täter sehr geplant und methodisch vorgingen. Ein Augenzeuge berichtete, die Angreifer hätten Flaschen mit einer brennbaren Flüssigkeit bei sich getragen, die sie angezündet hätten. Es entwickelte sich laut dem Zivilschutzministerium ein Feuer auf fast 13 000 Quadratmetern in dem siebenstöckigen Gebäude. Die Einsatzkräfte konnten den Brand erst in den frühen Morgenstunden löschen, unter anderem durch den Einsatz von Löschhelikoptern.

Nach Beginn des Anschlags gerieten die ungefähr 6200 Zuschauer am ausverkauften Konzert der bekannten russischen Rockband Piknik in Panik. In den oberen Stockwerken fanden gleichzeitig weitere Veranstaltungen statt, unter anderem ein Tanzwettbewerb für Kinder. Da Notausgänge offenbar verschlossen waren, versteckten sich viele im Keller. Erst am Samstagmorgen meldete die Nationalgarde, alle Menschen seien aus dem Gebäude gebracht worden.

Eine Überlebende schilderte am Samstag der Nachrichtenagentur dpa, wie sie sich rettete. Die 30-Jährige sagte, sie habe gerade mit ihrem Mann auf einer der oberen Besuchertribünen gestanden, um ein Erinnerungsfoto zu machen. Im ersten Moment habe sie die Explosionsgeräusche für lauten Begrüssungsapplaus für die Künstler gehalten. «Aber es knallte weiter. Da habe ich sofort verstanden, dass etwas nicht stimmt.» Ihr Mann habe gerufen: «Renn weg!» Sie seien in einem unteren Geschoss in einem dunklen Raum angekommen, möglicherweise in einem Lager. Dort hätten sie ein Schild mit der Aufschrift «Ausgang» entdeckt und sich ins Freie retten können.

Die Konzerthalle befindet sich am Moskauer Stadtrand

Angesichts der starken Präsenz von Sicherheitskräften im Alltagsleben Russlands wirkt es äusserst erstaunlich, dass Spezialeinheiten erst zwei Stunden nach den ersten Schüssen das Gebäude stürmten. Journalisten meldeten von dort Kampflärm, Details wurden keine bekannt. Kurz nach Mitternacht Lokalzeit verliessen die Truppen die Konzerthalle wieder, laut einem Duma-Abgeordneten wegen zu starker Rauchentwicklung. Die Täter entkamen zunächst. Die Behörden verschärften die Sicherheitsvorkehrungen an Bahnhöfen und Flughäfen.

Warnungen aus den USA

Amerikanische Geheimdienste hatten Moskau im März vor einer bevorstehenden Terrorattacke gewarnt und dies später auch öffentlich gemacht. In der «Washington Post» sagte einer der Beamten: «Wir haben im Grunde einen stetigen Strom von Informationen, die bis in den November zurückreichen, dass der IS innerhalb Russlands zuschlagen will.» Vor zwei Wochen hatte der FSB laut eigenen Angaben zwei Zellen des Islamischen Staates ausgehoben und dabei mehrere Personen getötet. Dennoch nannte Putin die amerikanische Warnung Mitte dieser Woche eine Provokation des Westens, die Russlands Gesellschaft verunsichern solle.

Die amerikanischen Geheimdienste haben eine «Duty to warn»-Politik. Sie müssen auch Länder über mögliche Terrorattacken informieren, die nicht gut auf Washington zu sprechen sind. Kürzlich hatten sie Teheran vor einem Angriff des Islamischen Staates gewarnt, der sich dann im Januar 2024 ereignete.

Moskau hat eine lange Erfahrung mit Terroranschlägen, oft verbunden mit seinen Kriegen im muslimisch geprägten Nordkaukasus. Den letzten grossen Anschlag verübte vor dreizehn Jahren ein Selbstmordattentäter am Moskauer Flughafen Domodedowo. Seither kam es nur zu kleineren Anschlägen. Der ukrainische Geheimdienst hat seit Putins Invasion 2022 mehrere nationalistische Figuren ermordet. Die Attentate zielten aber direkt auf einzelne Individuen ab und nicht auf eine Menschenmasse.

Dennoch ist der Informationskrieg über die Hintermänner des Anschlags in der Crocus City Hall bereits in vollem Gange. Russische Propagandisten, unter ihnen auch Dmitri Medwedew, beschuldigten rasch direkt oder indirekt Kiew. Einer sagte, «ukrainische Hintermänner» hätten Muslime gegen Russland aufgehetzt. Militärnahe Telegram-Kanäle stellten das IS-Bekennerschreiben als «amerikanischen Fake» dar. Ukrainische Aktivisten vermuten hingegen eine Inszenierung des russischen Geheimdienstes.

Die USA informierten hingegen offensiv, nicht zuletzt, um es Putin zu erschweren, den Anschlag als Vorwand für eine Eskalation des Krieges im Nachbarland zu nutzen. «Es gibt keine Hinweise darauf, dass die Ukraine oder Ukrainer mit den Schüssen zu tun hatten», sagte der Kommunikationsdirektor des Sicherheitsrates der USA, John Kirby. Auch ein Sprecher von Präsident Selenski wies die Vorwürfe einer ukrainischen Verantwortung zurück.

Russische Kritik an Washington

Das russische Aussenministerium kritisierte daraufhin, dass die USA die Ukraine sehr schnell entlastet haben. Es werfe Fragen auf, wenn Washington bereits solche Schlussfolgerungen ziehe, während die Tragödie andauere, sagte die Sprecherin Maria Sacharowa im Fernsehen. «Wenn die USA oder ein anderes Land verlässliche Fakten haben, sollten sie diese der russischen Seite zukommen lassen.» Wenn es solche Fakten nicht gebe, hätten weder das Weisse Haus noch sonst jemand das Recht, vorab eine Absolution zu erteilen, sagte Sacharowa.

Gleichzeitig drückten die USA zusammen mit mehreren Dutzend Staaten Russland ihre Anteilnahme zum Terroranschlag aus. Der Uno-Sicherheitsrat forderte in einer Stellungnahme, die Täter müssten zur Rechenschaft gezogen werden.

Mitarbeit: Andreas Rüesch, Elena Panagiotidis, Trudi Latour, Renzo Ruf (Washington), Forrest Rogers.

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